Wie Interkultur funktionieren kann
Interkultur ist ein Schlagwort unserer Zeit. Dennoch stehen der Verwirklichung vieler Projekte und Ideen Skepsis und Unsicherheit gegenüber. Ein Profi, der hier helfen kann, ist Cédric Berner. Er ist ausgebildeter musikalischer Mentor in Ethonopädagogik. Sein Fachwissen hat er über die Organisation Jeunesses Musicales und das interkulturelle Musikprojekt „Folklang“ erhalten, auch beim Projekt „Klänge der Welt“ hat er mitgewirkt. Wir haben uns mit ihm über seine Tätigkeit unterhalten:
Redaktion: Was verstehst du unter dem Begriff „Ethno“?
Cédric Berner: Ethno ist für mich zum einen ein musikalisches Camp, das Kulturen aus verschiedenen Ländern durch Musik verbindet. Zum anderen ist es aber heutzutage noch viel mehr als dieses Musikcamp, das der Ursprung dieses Begriffs „Ethno“ ist: Es ist eine weltweit agierende Bewegung, ein Netzwerk von Musiker*innen, die durch die verbindende Kraft der Musik gemeinsam kulturelle Erfahrungen teilen. Ethno steht für mich für musikalische Qualität, Völkerverständigung, verbindende Kraft der Musik.
Redaktion: Über den Ethno-Projekten der Jeunesses Musicales International steht ja das Konzept der Ethnopädagogik. Wie lassen sich Ethno und Pädagogik miteinander verschränken und worin liegt hier der Reiz?
Cédric Berner: Nun, zentraler Bestandteil der Ethnopädagogik ist das Lernen der Musik nach Gehör, also ein bewusstes Verzichten auf Noten. Der Reiz liegt in diesem direkten Umgang mit der Musik, einem in gewisser Weise auch spielerischem Umgang mit der Musik, wo eine direkte Teilhabe allen ermöglicht wird. Es wird also nicht zunächst über die Musik gesprochen oder theoretisiert und ausgehend von einem Notenblatt versucht zu musizieren, sondern der Fokus liegt darauf, dass tatsächlich alle direkt an den musikalischen Prozessen teilnehmen können.
Redaktion: Wie ist das Konzept entstanden?
Cédric Berner:Traditionelle Folkmusik ist in vielen Kulturen schon ohne Notationssystem aufgekommen. Wenn man sich indische klassische Musik anschaut, sieht man, dass sie ohne ein Notensystem, wie wir es in der westlichen Kultur haben, auskommt. Eben auch weil viele Notensystem musikalische Feinheiten gar nicht notieren können – diese lassen sich genauer durch vorspielen oder vorsingen verdeutlichen. Aber auch Volksmusik, Folk im Allgemeinen, ist oral tradiert worden. Ethnopädagogik ist deshalb etwas, das schon immer in der mündlichen Überlieferung von Musik in verschiedenen Traditionen gegeben war und im Rahmen dieser Musikcamps weiterentwickelt wurde. Das Konzept der Ethno-Musikcamps und der Ethnopädagogik entstand 1990 in Schweden und ist durch 30 Jahre Ethno-Musikcamps kontinuierlich weiterentwickelt worden. Es hat viele Facetten: Einerseits die meistens zehntägigen Musikcamps, bei denen eine sehr heterogene Gruppe aus Musiker*innen verschiedener Kulturen zusammenkommt, sich gegenseitig Musik nach Gehör beibringt, diese gemeinsam arrangiert und auch aufführt. Dirigiert werden sie dabei von einigen musikalischen Mentor*innen, die dieses Dirigieren aber sehr in den Hintergrund stellen. Als Zuschauer*in hat man das Gefühl, dass hier nicht unbedingt ein Dirigent steht, sondern jemand, der Teil der Gruppe ist. Das gleiche gilt auch für die Arbeit in den Workshops. Die musikalischen Mentor*innen sehen sich also eher als Lernbegleiter, die das Lernen und Lehren nach Gehör unterstützen.
Redaktion: Ist das Lernen ohne Noten bei sehr heterogenen Gruppen eher hilfreich oder eine Herausforderung?
Cédric Berner: Das ist eine sehr individuelle Sache. Manche Musiker*innen sind sehr vertraut mit dem Lernen nach Gehör und Spielen ohne Noten und kriegen Panik, wenn sie vom Blatt spielen sollen, andere sind wiederum ohne Noten total überfordert. Um nochmals das Beispiel der indischen klassisch geschulten Musiker*in aufzugreifen: Diese Musiker*innen werden mit einem Notenblatt nicht viel anfangen können, denn die Art und Weise Musik zu spielen und zu denken ist ganz anders. Es ist Improvisation, es ist direkter Austausch und direkte Kreation von Musik. Was ich im Rahmen der Ethnopädagogik erlebe, ist, dass Menschen nicht auf etwas Geschriebenes fixiert sind, sondern vielmehr aufeinander hören, aufeinander eingehen und vor allem eine Verbindung zueinander haben, die mit einem Blatt Papier vor dem Kopf häufig nicht gegeben ist.
Redaktion: Wie schwierig ist es, Musiker*innen von ihren Notenblättern zu lösen?
Cédric Berner: Insbesondere europäische klassisch geschulte Musiker*innen und Sänger*innen haben oft ein Problem mit dieser Art und Weise des Lernens und des gemeinsamen Musizierens. Das ist mit der Angst verbunden: Ohne Noten kann ich nicht spielen. Das ist eine große Herausforderung für die Menschen. Gleichzeitig ist das Schöne an dem Ethno-Konzept, dass innerhalb einer Gruppe jeder, ausgehend von seinen individuellen Fähigkeiten am Instrument oder im Gesang, eine Nische in der Gruppe finden wird, einen sicheren Raum, in dem das Musizieren, das Ausprobieren erlaubt ist. Es geht also nicht darum, möglichst perfekt und fehlerfrei zu spielen. Es geht eher darum, Teil einer Gruppe zu sein und durch die Musik eine Verbindung zu spüren.
Dennoch ist die musikalische Qualität ein ganz wichtiger Bestandteil. Es wirkt, wenn Menschen Vertrauen spüren und eine Verbundenheit zueinander haben und als Gruppe gemeinsam musizieren. Das Schöne ist, wenn es keine Noten gibt, denen man eins zu eins folgen muss, dann darf im Moment eben auch eine Improvisation entstehen. Vielleicht ist dann das Arrangement in dem Moment anders als zunächst abgesprochen oder wie man es notiert hätte, aber wenn eine ganze Gruppe einen anderen Weg gemeinsam geht, dann kann das ja nicht falsch sein, weil der Teil gemeinsam anders gespielt wird. Das Wichtige bei Ethno-Aufführungen ist das gemeinsame Folgen, das miteinander Musizieren, das Angebote Wahrnehmen und Annehmen in der Musik. Ähnlich verhält es sich auch bei Jazzimprovisationen, bei denen es ja auch darum geht, zuzuhören und einander zu folgen.
Redaktion: Wie sieht ein klassischer Projekttag bei einem Ethno-Camp aus?
Cédric Berner: Wir haben meist einen festen Ort, an dem die ganze Gruppe gemeinsam ist und auch übernachtet. Ein typischer Tag beginnt damit, dass die Gruppe sich morgens zusammen zum Frühstück einfindet. Über den Tag verteilt finden dann Workshops statt, in denen Teilnehmende Lieder aus ihrer Kultur teilen.
Dieser Teilnehmende hat zusammen mit den musikalischen Mentor*innen die Verantwortung, jedes Lied der ganzen Gruppe beizubringen. Es wird dann gemeinsam arrangiert und geprobt. Es finden sich ca. 50 Musiker*innen, manchmal auch zusätzlich Tänzer*innen, zusammen und lernen voneinander, proben miteinander und haben abgesehen von den gemeinsamen Workshops und Konzerten auch informellen
Zeitraum, welcher für Mahlzeiten, Jamsessions und miteinander Feiern genutzt wird. Das verbindet.
Abends gibt es auch verschiedene Programmpunkte, z. B. eine offene Bühne oder die Möglichkeit, einfach die gemeinsame Zeit zu genießen. Es wird zum Teil bis in die Puppen gejammed und gefeiert, dass man die gleiche Leidenschaft zur Musik teilt. Es ist erstaunlich, wie einfach es ist, mit Menschen in Kontakt zu treten, die die gleiche Leidenschaft teilen wie man selbst. Da ist das Eis sehr schnell gebrochen. Umso spannender dabei ist: Wir teilen diese Liebe zur Musik und dennoch denken wir ganz anders über die Musik nach, denn die Musik,
die du zum Beispiel in Südkorea spielst, ist ganz anders als die, die ich aus Europa kenne. Das Faszinierende ist dann aber das Feiern der kulturellen Unterschiede und das Realisieren, dass wir doch so viel mehr gemeinsam haben, als man zuerst denkt.
Redaktion: Inwiefern kann die Pädagogik auch im Verein angewendet werden?
Cédric Berner: Die Ethnopädagogik funktioniert auch außerhalb eines Camps. Zum Beispiel in einer Musikstunde, in der man das Lernen nach Gehör und einen direkten Zugang zur Musik anwendet.
Peer to peer-Learning ist übrigens auch noch ein wichtiges Schlagwort in dieser Hinsicht. Die Ebenbürtigkeit aller Teilnehmenden und dass sich Autorität durch Expertentum ergibt. Wer eben Fachwissen in einem Gebiet hat, der bekommt hier die Aufmerksamkeit und damit auch die Autorität.
Es ist auch möglich in Städten Projekte zu starten, die Ethnopädagogik regelmäßig anwenden. In Tübingen hatten wir das Projekt Folklang, das wöchentlich eine sogenannte Tune Learning Session organisiert hat, bei der jemand ein Musikstück aus einer Kultur gezeigt hat. Es gab hier ein musikalisches Team, welches pädagogisch, organisatorisch und musikalisch unterstützt hat, sowie regelmäßige Jamsessions und Konzerte, bei denen eine Community von Menschen entstanden ist, die daran interessiert sind, gemeinsam Musik aus verschiedenen Kulturen zu spielen. Leider pausiert Folklang zur Zeit aufgrund fehlender finanzieller Mittel, was ich sehr bedauernswert finde.
Letztlich eignet sich die Ethnopädagogik sowohl für den Musikunterricht als auch für regelmäßig stattfindende, gemeinsame Ensembleproben genauso wie für Camps. Des Weiteren gibt es auch Band- oder Ensembleprojekte, wie „Ethno on the Road“, welche das Konzept haben, verschiedene Städte zu bereisen, dort Ethno-Workshops zu geben und dann gemeinsam mit den lokalen Musiker*innen aufzutreten. Das heißt, sie treten in verschiedenen Städten mit ihrer Musik auf, laden aber Leute aus der Stadt ein, bei ihren Aufnahmen mitzuspielen. Das bedeutet, sie machen zunächst Workshops und dann wird gemeinsam mit den lokalen Musiker*innen gespielt.
Redaktion: Was sind die größten Herausforderungen bei interkulturellen Musikprojekten? Und warum ist es so wichtig, dass man dabei wirklich ausgebildete Mentor*innen dabei hat?
Cédric Berner: Die große Herausforderung ist, ein Lernklima zu schaffen, in dem sich alle wohlfühlen, sicher fühlen und integriert fühlen. Es finden hier komplexe Gruppenprozesse statt. Dabei gilt es, jedem/r Musiker*in, egal wie sein persönliches Spielniveau ist, das Gefühl der Teilhabe zu geben. Als musikalischer Mentor habe ich hier verschiedene Möglichkeiten: Ich kann ein Musikstück an verschiedenen Stellen vereinfachen, um das Mitspielen zu ermöglichen, aber ich kann auch Herausforderungen schaffen für erfahrenere Musiker*innen. Ich kann ihnen zum Beispiel Verantwortung übertragen, wie die Kreation einer zweiten Stimme oder die Unterstützung anderer Teilnehmenden. Das Schaffen eines guten Lernklimas hat generell viel mit der Art und Weise der Mentorenschaft auf sich. Enthusiasmus ist ein Stichwort: Das ist ansteckend. Es geht darum, eine gemeinsame Verbindung zu feiern.
Sinnvoll ist es sicherlich Mentor*innen zu haben, die zum einen die Teilnehmerperspektive kennen, heißt selbst an einem Ethno-Musikcamp teilgenommen haben, und zum anderen auch eine Fortbildung gemacht haben, wie zum Beispiel Ethno-Fonik oder Ethno-Leader von Jeunesses Musicales. Bei Ethno-Projekten fängt es schon mit dem Lernen nach Gehör an: Hier gibt es einige Aspekte, die wirklich wichtig sind und die man sich erstmal klar machen muss. Die wichtigsten Voraussetzungen sind einerseits die Musik genau im Ohr zu haben, andererseits das dann auch auf sein Musikinstrument übertragen oder auch singen zu können. Man muss Musik bewusst mitdenken – sie strukturieren, sie erkennen, die Skalen, die Taktarten. Es hat eben doch auch viel mit Struktur zu tun, wie wir sie auch vom Geschriebenen kennen. Diese muss man sich einerseits bewusst machen, und andererseits aber auch emotional mit der Musik verbunden sein. Einen Mentor sehe ich durchaus in der Verantwortung dafür, die Lernprozesse zu strukturieren.
Ein ganz wichtiger Aspekt dabei ist das Vorspielen und das Nachspielen. Hier sind klare Strukturansagen wie zum Beispiel „das ist jetzt Teil A und der geht so und so“ wichtig. Auch das sinnvolle Unterteilen in Phrasen ist hier entscheidend. Den Puls beibehalten, mit klaren Zeichen kommunizieren, um der Gruppe klarzumachen, wann es welchen Teil zu singen oder zu spielen gibt. Das Wiederholen und das Absorbieren der Musik ist auch ein wichtiger Bestandteil. Dass Sachen wiederholt werden, bis sie so gelernt sind, dass sie abgespeichert sind. Es ist ein Auswendiglernen, welches, wenn Musik von einem Notenblatt aus gespielt wird, so nicht gegeben ist.
Die Ethnopädagogik vertraut auch darauf, dass es sich um eine Gruppe von Menschen handelt, in der es okay ist, dass eine Person einen Teil mal nicht kann, weil es eine andere Person dann können wird. Es ist also ein gegenseitiges sich Ergänzen. Die Gruppe trägt also die Gruppe. Weniger erfahrene Musiker*innen dürfen mitschwimmen, sich wohl fühlen und an der gemeinsamen musikalischen Gruppenerfahrung teilnehmen. Alle dürfen darauf vertrauen, dass die musikalischen Mentor*innenen und die Experten des jeweiligen Musikstils die gesamte Gruppe tragen. Das Faszinierende ist aber eben, dass in kürzester Zeit hochkomplexe Musik, vor allem auch diverse Musik, von der selben Gruppe gelernt und aufgeführt werden kann.
Redaktion: Wie wichtig ist es, dass man selbst etwas aus seiner eigenen Kultur mit in die Gruppe einbringt?
Cédric Berner: Das beruht ganz auf Freiwilligkeit. Wer dafür offen ist, darf das tun. Aber es wird nicht erwartet, dass jeder etwas aus seinem Kultur teilt. Es wird vermieden, Leute in extreme Drucksituationen zu bringen. Ich persönlich hatte bei meinen Teilnahmen bei Ethno-Camps tatsächlich erst ein schwieriges Verhältnis zur der deutschen Volksmusik und stand, vor allem wegen der Nazi-Zeit, nicht so in Verbindung zu deutscher Musik, außer zur Klassik. Dann haben die Leute im Ausland zu mir gesagt: „Komm, jetzt spiel doch mal was traditionelles Deutsches“ und ich hatte eigentlich keine Ahnung von dieser Musik.
Ausgehend davon habe ich dann aber etwas recherchiert und dadurch auch schöne Volksmusik in Deutschland kennenlernen dürfen, auch von verschiedenen Minderheiten. Durch die Teilnahme an den Camps und das Teilen meiner Kultur habe ich für mich sogar eine neue Verbindung zur deutschen Kultur gefunden. Es hat in mir einen Impuls ausgelöst, mich mehr damit zu beschäftigen.
Redaktion: Was war dein schönstes Erlebnis im Rahmen deiner Arbeit?
Cédric Berner: So viele schöne Ereignisse. Sehr, sehr schön finde ich, wenn es nach diesen ganzen gemeinsamen Erfahrungen einen Moment gibt, in dem wir nochmal miteinander reden und über die gemeinsame Zeit reflektieren. Eine gemeinsame Abschlussrunde finde ich sehr stark, weil dann noch einmal eine sehr innige Verbundenheit zwischen allen Menschen da ist und alle auch nochmals zu Wort kommen in einer großen Gruppe. Es ist für mich ein wichtiger Bestandteil der Ethnopädagogik, dass alle gehört werden können. Und diese Verbundenheit mit den anderen Menschen zu haben und zu spüren, ich habe neue Freunde gewonnen und nicht nur zu sagen, wir bleiben in Kontakt, sondern auch zu sehen, dass wir über die Jahre tatsächlich in Kontakt bleiben, das gehört für mich zu den schönsten Erfahrungen.
Wenn ich auf meine Ethno-Erfahrung zurück blicke, dann sehe ich ganze Nächte, die wir durchgemacht, durchgelacht haben, durchgetanzt haben. Es ist ein großes Feiern der verbindenden Kraft der Musik. Meine Arbeit erfüllt mich vor allem dann, wenn ich spüre, wir sind alle Teil einer gemeinsamen Erfahrung, und wenn ich das Gefühl habe, dass wirklich alle integriert sind und teilhaben.
Das Interview führten:
Isabelle Arnold und Daniela Höfele