Chor sucht Chorleiter/in
Eine elementare Bestandsaufnahme von Thomas Bailly, Leiter der Chorleiter-Lehrgänge im Hessischen Sängerbund am Dr. Hoch’s Konservatorium Frankfurt.
Chorleiter gesucht: Seit mehreren Jahren erreichen mich zunehmende Anfragen nach Chorleitern mit freien Kapazitäten. Regelmäßig werden Absolventen der Chorleiterschule sofort nach ihrer Ausbildung von Chören umworben und meist auch direkt engagiert. Hierbei erhalte ich die „Notrufe“ seitens der Vorstände leider oftmals sehr kurzfristig („zum nächsten Monat“, „ab sofort…“).
Die Verantwortlichen in den Vorständen wirken in dieser Situation nicht selten unvorbereitet und verspüren einen erheblichen Öffentlichkeits- bzw. Erwartungsdruck. Dieser Druck wird dadurch maximal erhöht, dass zahlreiche Chöre einerseits auf einen Probenabend oder sogar auf eine unverrückbare Probenzeit festgelegt sind. Andererseits wurde schon eine endgültige finanzielle Basis für die Chorleiterbezahlung beschlossen. Chöre, die hier flexibler und ergebnisorientiert reagieren können, sprechen damit natürlich weitaus mehr potentielle Interessenten unter sämtlichen Chorleitern an.
Chor-Vereine
Ob und inwiefern sich Vereins-Chöre gut ausgebildete, engagierte und motivierte Chorleiter leisten können, liegt ausschließlich an den Vereinsmitgliedern und der Bereitschaft,
- den soziokulturellen Wert des Chorsingens zu erkennen,
- einen angemessenen eigenen Beitrag zu leisten,
- längst ausgetretene Pfade vergangener Jahrzehnte zu verlassen,
- eine zeitgemäße Vereinsstruktur anzustreben,
- musikalisch attraktiv zu bleiben oder zu werden,
- Offen und einladend auf die aktuellen Interessen von Chorsängern zu reagieren.
Grundsätzlich müssen Vereine sich deutlich dahingehend positionieren, dass eine wöchentliche Chorprobe tatsächlich zielorientiert zur Einstudierung neuer Chorwerke und musikalischen Ausarbeitung des bestehenden Repertoires dienen sollte. Hierzu erhalten die Teilnehmer sämtlicher Chorleiter-Lehrgänge im Hessischen Sängerbund eine umfassende und fundierte Ausbildung. Regelmäßige Chorproben mit ausschließlichem „Selbstzweck“ einer musikalisch geselligen Freizeitgestaltung für die Mitglieder sind sowohl für qualifiziert ausgebildete und ambitionierte Chorleiter als auch für potentielle neue Sängerinnen und Sänger erfahrungsgemäß wenig interessant.
Für Chöre, die durch anhaltende Mitglieder-Rückgänge eine gewisse Mitgliederzahl bereits unterschritten haben, so dass eine ausreichende finanzielle und musikalische Grundlage für eine bisherige Chorarbeit nicht mehr existiert, kann eine 14-tägige Chorprobe eine zukunftsorientierte Lösung bieten. Denn oftmals geht das musikalische Jahresprogramm eines über die Jahre gealterten und sich verkleinerten Chores über kleinere Auftritte und Konzert-Beteiligungen mit einem reduzierten Repertoire nicht (mehr) hinaus. Aus musikalischer Sicht ist eine wöchentliche Chorprobe („rund 40 Proben im Jahr“) nicht mehr zwingend erforderlich (Acht Wochen Chorprobe für einen Auftritt mit drei Liedern aus dem bekannten Repertoire? Wozu?“).
Eine Auslassung über die außergewöhnliche Diskrepanz aktueller Mitgliedsbeiträge in Vereins-Chören würde den Umfang dieser Betrachtung überschreiten.
Erfolgreiche Modelle
Zahlreiche Chor-Neugründungen wie bereits erfolgreiche Reaktionen auf Vereins-Veränderungen belegen, dass eine grundsätzliche Umorientierung und sogar eine 14-tägige Chorprobe keinesfalls musikalisch „weniger“ sein muss als eine wöchentliche Chorprobe. Die besonders aktiven und routinierten Mitglieder können sich (weiterhin) auch wöchentlich treffen – für ein geselliges Zusammensein sogar in „singender Runde“ sind eine Chorprobe oder ein Chorleiter nicht erforderlich. Darüber hinaus kommt eine zweiwöchige Chorprobe all denjenigen Sängern entgegen, die eben nicht (mehr) wöchentlich zur Probe erscheinen können! Es sei nur am Rande bemerkt, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten massive Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt unweigerlich zu einem erheblich veränderten Freizeitverhalten geführt haben.
Über viele Jahre leitete ich Chöre, Chorprojekte und Projektchöre auch in zweiwöchigen und monatlichen Proben-Intervallen und habe damit die Neugründung mehrerer Chöre initiiert und gleichzeitig sehr erfolgreiche musikalische Programme erarbeitet.
Größere Vereine haben derartige Synergie Effekte längst erkannt und proben im „Kantorei-Prinzip“ in unterschiedlichen Chor Gruppen und kürzeren Einzelproben an einem Probenabend nacheinander oder auch im wöchentlichen Wechsel einzelner Gruppen.
Selbstverständlich sind bei einem gut gefüllten Terminkalender und einem ansprechend-anspruchsvollen musikalischen Programm eines Chores wöchentliche Chorproben unabdingbar und stellen auch zukünftig in dieser bewährten Form die bestmögliche Lösung für Laienchöre dar.
Für zahlenmäßig und musikalisch begrenzte Chöre bietet sich in einer 14-tägigen Probenarbeit in jedem Fall eine zukunftsweisende Alternative zur unwiderruflichen Vereins-Auflösung!
Dass für Chorleiter eine zweiwöchige Chorprobe nicht tatsächlich die „halbe Arbeit“ einer wöchentlichen Chorprobe bedeutet wird im Nachfolgenden deutlich dargelegt – eine spürbare geringere finanzielle Belastung für den Verein bedeutet das jedoch in jedem Fall!
Chorleiter – Chor
„Der Chorleiter“ existiert ebenso wenig wie „der Chor“, da die beruflichen, örtlichen, strukturellen und auch musikalisch-inhaltlichen Unterschiede unsere Chorlandschaft in einer einzigartigen musikalischer Breite abbilden. Hier steht der kleine Dorf-Chor einem wettbewerbserfahrenen Konzertchor genauso gegenüber, wie der nebenberufliche Hobby-Chorleiter einem ambitionierten und diplomierten Hochschul-Absolventen und vielleicht späterem Hochschul-Dozenten. In der Chorleitung und im Chordirigieren verzahnen sich (kunst-)handwerkliche und künstlerische Qualifikationen eng miteinander, die beruflich vielleicht mit Architekten, Regisseuren und Designern zu vergleichen sind.
Die Frage, ob und inwiefern die Leitung von Vereins-Chören ein „bezahltes Hobby“ oder einen „Hauptberuf/Nebenberuf“ darstellt, muss demnach zuallererst durch die Chorleiter beantwortet werden. Sie entscheiden über ihre jeweilige Arbeits- und/oder Freizeit – insbesondere in Bezug auf ihre eigene Ausbildung und chormusikalischen Zielsetzungen.
Von Chorleiter-Empörungen wie: „Das ist ja nicht mehr als der Mindestlohn!“ bis hin zu Beschwerden und Vorwürfen von Vereinen über angebliche „Wucher-Honorare, die kleine Chöre kaputt machen“ sind mir in den letzten Jahren und Jahrzehnten sicherlich die meisten über-emotionalen und vorurteilsbehafteten Aussagen begegnet. Deshalb versuche ich durch elementare und zukunftsorientierte Ausführungen zur Versachlichung beizutragen. In folgender Betrachtung geht es keinesfalls um „meine persönliche Meinung“, sondern um eine sachorientierte Einordnung der Chorleiter-Tätigkeit in den bestehenden Arbeitsmarkt. Ebenso möchte ich damit auch zur Sachdiskussion anregen und freue mich über sachdienliche Ergänzungen.
Tarife
Eine Betrachtung macht nur dann überhaupt einen Sinn, wenn man den tatsächlichen Zeitaufwand berücksichtigt und damit weit über die vereinbarten wöchentlichen Chorproben-Zeiten hinaus sieht. Bisherige Versuche, einen „Stundenlohn“ für Vereins-Chorleiter festzulegen, sind nicht selten absolut realitätsfern und mussten deshalb kläglich scheitern. Lediglich die Beschäftigungsverhältnisse bei Kirchenchören bieten hier tarifliche Vorgaben, die jedoch in den jeweiligen Landeskirchen bzw. Bistümern unterscheidend festgelegt werden.
Diese vertraglichen Regelungen berücksichtigen neben den Probenzeiten in der Regel auch sämtliche Chor-Auftritte bei kirchlichen Feiertagen, Ferienzeiten und die gesetzlich erforderlichen Sozialabgaben. Da ich persönlich seit über 40 Jahren kirchen-musikalisch sowohl im Bistum Mainz als auch in der EKHN tätig bin, sind mir diese Gegebenheiten bestens bekannt. Kirchengemeinden leisten vereinzelt sogar zusätzliche Zahlungen über die tariflichen und vertraglichen Vereinbarungen hinaus. Nicht selten wird die Chorleitertätigkeit in Kirchengemeinden auch in Verbindung mit dem Organisten-Dienst und weiteren Leitungstätigkeiten (Kinder-Jugendchor/ Bläsergruppe, Posaunenchor, etc.) ausgeübt, so dass eine isolierte Betrachtung der Einzeltätigkeit nicht vergleichend zu den eher selbständigen Vereinschören herangezogen werden kann.
Von der Chorleiter- Ausbildung zum Berufs-Chorleiter
Während unserer Ausbildungs-Lehrgänge im Hessischen Sängerbund wird den Teilnehmern immer wieder deutlich, dass es sich hierbei nicht um das Erlernen einer sich wiederholenden Proben-Routine (im Sinne einer völlig falsch verstandenen Traditionspflege) handelt, sondern dass eine musikalisch-effektive Arbeit mit Chören höchste musikalische, pädagogische und organisatorische Anforderungen an Chorleiter stellt! Nicht selten berichten Chorleiter-Anfänger von „…vielen Stunden, die sie sich wöchentlich auf ihre Chorprobe vorbereiten müssen…“.
Gleichzeitig sind angehende Chorleiter deutlich sichtbar verunsichert, für welche Chorleiter-Tätigkeit sie sich entscheiden sollen und welche Honorare für ihren zum Teil höchst unterschiedlichen Einsatz angemessen sind. Gespräche zwischen Chor und Chorleiter über die Chor-Organisation, die Vereinsstruktur und auch die finanzielle Situation eines Vereins sollten dabei offen und zielführend angegangen werden.
Chorleiter – ein Berufsfeld
In einem Verein steht der Chorleiter neben den Chorproben für Auftritte, Veranstaltungen und Konzerte grundsätzlich nach Absprache am Wochenende und auch an Feiertagen zur Verfügung. Für kleinere Auftritte liegen die Vorbereitungszeiten mit Einsingen, Aufwärmen und kurzer Probe nicht selten über der eigentlichen Auftrittszeit („3 Lieder“). Bei größeren Veranstaltungen und Konzerten sind oftmals mehrstündige Zusatzproben, Stellproben und Generalproben erforderlich, so dass die Vorbereitungszeit notwendigerweise das Mehrfache der tatsächlichen Auftrittszeit beträgt.
Chor-Tage, Chor-Workshops, Offene Chorproben, Chorprojekte und Chorwochenenden sind mittlerweile und erfreulicherweise höchst effiziente Bereicherungen für einen Großteil der Vereins-Chöre und bedeuten gleichzeitig Zusatzzeiten für Chorleiter in einer beachtlicher zweistelliger Stundenanzahl.
Für sämtliche Sänger und Vorstände völlig unsichtbar sind die umfassenden wöchentlichen musikalischen Vorbereitungen der Chorleiter auf die jeweilige Chorprobe:
- Studium der Chorpartitur in sämtlichen Details
- musikalische Ausarbeitung der einzelnen Chorwerke und des Gesamtprogrammes
- instrumentale Vorbereitung am Klavier/ Keyboard und weiteren Instrumenten
- stimmlich/ gesangstechnische Vorbereitung für die nicht ausgebildete Laienstimmen des Chores
- pädagogisch-didaktische Planung einer zweistündigen, möglichst effektiven Chorprobe
- und weiteres
Hinzu kommen langfristige Planungen:
- Repertoire-Aufarbeitung
- Einstudierung neuer Chorwerke
- Konzertprogramme
- Probenpläne, Terminplanungen (Zusatzproben, Generalproben etc.)
- Musikalische Programme für Chor-Tage, Chor-Workshops, Offene Chorproben, Chorprojekte und
Chorwochenenden - und weiteres
Zusammenfassend werden diese musikalischen Vorbereitungen in leitenden musik-pädagogischen Berufsbereichen mit ca. 25 Prozent bis einem Drittel R1 der gesamten Arbeitszeit angerechnet. Bei künstlerisch leitenden Anstellungen (Berufs-Orchester, Berufs-Chor) werden derartige „Rüstzeiten“ mit bis zu 50 Prozent R2 angerechnet– das bedeutet z. B.: zwei Stunden Vorbereitung für zwei Stunden Probe.
Die Unvermeidlichkeit an mehrstündigen Vorstandssitzungen und/oder regelmäßigen (in direkten Vorbereitungsphasen nicht selten wöchentlichen) Vorstandsgesprächen teilzunehmen, ist auch in der Regel jährlich mit einer zweistelligen Stundenzahl zu verbuchen. Durch Kooperationen zu Musikschulen und Schulen, Kirchengemeinden, Kulturvereinen und Kulturämtern sind Besprechungen, Meetings und Planungs-Sitzungen ein weiteres Erfordernis.
Regelmäßige, oftmals mehrtägige Teilnahmen an Chorleiter-Fortbildungen, Chorleiter-Workshops und Seminaren, Reading-Sessions und Chor-Literatur-Tagen und großen nationalen und internationalen Chor-Festivals und -Events (Chor.com, Hessischer Chorwettbewerb, Hessisches Chor-Festival, Deutsches Chorfest, Musikmesse Frankfurt, etc.) sind für eine engagierte Chorleitertätigkeit „auf der Höhe der Zeit“ unerlässlich.
In der Summe beträgt der jährliche zeitliche Gesamtaufwand unter Berücksichtigung sämtlicher Aufwendungen bei einer ausgehenden wöchentlichen Probendauer von zwei Stunden etwa 250-300 Zeitstunden (ohne Fahrtzeit/Fahrtkosten). Eine Einzeldarstellung in sämtlichen oben aufgeführten Einzelbereichen ist leicht nachvollziehbar – aufgrund der unterschiedlichen Chor-Gegebenheiten jedoch nur im Einzelfall exakt zutreffend und kann deshalb nicht pauschal gelten. Hier ein solches Einzelbeispiel (mit z. T. auf-und abgerundeten Zahlen) aus meinem persönlichen Umfeld:
Aufwand | Stunden |
42 Chorproben à 2h | 84h |
Gesamte Vor-und Nachbereitung, Programmplanung
|
42h R1/(84h) R2 |
Einsingen, Zusatzproben und 8 kleinere Auftritte | 20h |
Zusatzproben, Generalprobe, 1 Konzert | 10h |
Chor-Wochenende | 25h |
Vorstandsgespräche, Planungen | 10h |
Chorleiterfortbildung, Seminare | 30h |
Orga und Durchführung eines Chorworkshops | 15h |
Meetings mit Veranstalter, Kulturamt, Schulen | 10h |
2 Tagesfahrten mit Chorauftritten | 20h |
Summe | 266/308h |
Honorarberechnung am Durchschnittslohn
Bei durchschnittlich 1.600 Arbeitsstunden im Jahr (Quelle: „Deutschland in Zahlen 2017“ für Vollzeitbeschäftigung) ergeben sich für die oben genannten 250 – 300 Zeitstunden ca. 16 bis 18,5 Prozent einer Vollzeitstelle. Setzt man nun trotz der zahlreichen Termine an Wochenenden und Feiertagen lediglich den aktuellen Durchschnittlohn als Berechnungsgrundlage (bei 35 bis 40 Stunden pro Woche 3.771 Euro brutto im Monat, Quelle: Statista BRD 2018), so berechnet sich daraus das monatliche Chorleiterhonorar auf ca.: 600 Euro bis 700 Euro (bei wöchentlichen Proben).
Hierbei unberücksichtigt bleibt die beachtliche Tatsache, dass bei hauptberuflichen Chorleitern in völliger Selbständigkeit Kranken-, Berufsunfähigkeits-, Sozial- und Rentenversicherungsbeiträge privat und in vollem Umfang zu leisten sind.
Ebenso unberücksichtigt bleiben Chorleiter, die aus unterschiedlichsten Gründen erheblich weniger bzw. erheblich mehr Zeitaufwand betreiben (siehe oben: „Freizeit-Chor“).Gleichfalls bleiben umfangreiche Chorreisen (z. T. über mehrere Wochen im Ausland) unberücksichtigt.
Lösungen und Ausblicke
In jedem Fall und jederzeit können sich Chorleiter und Chor auf sämtlichen Feldern der Zusammenarbeit aufeinander zu bewegen und individuelle Sondervereinbarungen treffen. Dies garantiert auch in Zukunft eine vielseitige Chorkultur in der Mitte unserer Gesellschaft.
Bei der Gesamtberechnung eines Chorleiter Honorars bzw. der finanziellen Gesamtplanung eines Vereins sind vor allem die Zeiten außerhalb und zusätzlich zu den Chorproben von größter Wichtigkeit!
Es bleibt nun jedem Chorleiter und jedem Verein selbst überlassen, diese Berechnungsgrundlage basierend auf dem aktuellen Durchschnittslohn auf die eigenen Gegebenheiten (Probenzeiten, Jahresplanung und eigene Termine etc.) abzuleiten.
Nach einer sachbezogenen Überprüfung kann es zukünftig sicherlich für viele Chöre möglich sein, die Vereinsstruktur bzw. die Probenstruktur derart anzupassen, so dass auch kleinere Vereine gut ausgebildete, engagierte und motivierte Chorleiter verpflichten können.