Silchers Erbe(n)
Worauf kann die Chorbewegung heute aufbauen? Worauf will sie aufbauen?
Zum Chorfest in Leipzig wagt der Schwäbische Chorverband ein Experiment: Dem neuen Leitbild des Deutschen Chorverbands folgend, sollen mit der Ausrichtung eines „Cantaments“, dem sängerischen Pendant zu einem Parlament, neue demokratische Formen des Vortragens, Zuhörens und der Vergemeinschaftung von Bedürfnissen der Chöre und regionalen Verbände erprobt und der Stand um das Erbe der Chorbewegung diskutiert werden. Wichtige Fragen sind hierbei: Sind wir uns unserer Geschichte bewusst? Erachten wir diese als Erbe? Wollen wir dieses Erbe aktiv antreten? Welche Zukunft streben wir an und wie hilft uns unser Erbe bei den zukünftigen Herausforderungen? Es wird also um die aktuelle Identität der Chorbewegung und somit auch der Chöre und ihrer Sänger*innen gehen. Doch der Reihe nach…
Gesellschaft oder Gemeinschaft?
Schlage ich die Zeitung auf oder schaue ich im Internet, in den Social-Media-Kanälen oder Online-Magazinen, spreche ich mit Freunden und Bekannten oder höre ich auf der Straße den Menschen zu, zeichnet sich ein sehr düsteres Bild unserer Gesellschaft und der Strukturen welche diese (er-)halten. Aller Ortens höre ich Sorgen, bisweilen Empörung und spüre eine große Rat- und Hilflosigkeit gegenüber den globalen aber auch lokalen politischen wie gesellschaftlichen Strömen. Ja, es scheint, als wären wir an einen Umbruch gekommen – oder wie Walter Benjamin es formulierte, an eine Schwelle: ein nicht mehr und ein noch nicht. Diese Schwelle nehme ich als gesamtgesellschaftliches Phänomen wahr, die scheinbar alle Bereiche des Öffentlichen und Privaten berührt und eine große Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft hervorruft.
Viele Menschen, das merke ich in meiner täglichen Arbeit als Beteiligungsexperte, wenden sich in der Folge als vermeintlich einzige Option der vermeintlich sicheren Vergangenheit zu – viele leider der falschen. Nun mag sich manche*r fragen, was dies alles mit dem Chorverband, den Chören und der täglichen Chorarbeit zu tun hat. Ich würde behaupten sehr viel, denn was in unserer Gesellschaft am meisten fehlt, ist Gemeinschaft, also etwas gemein zu haben, dass es sich lohnt zu verteidigen, dafür einzustehen. Und aus meiner eigenen, aus verschiedenen Gründen schon etwas zurückliegenden Chormitgliedschaft weiß ich, dass, ohne dass dies ein Chorleiter explizit betonen würde, Chöre mehr mit Demokratie zu tun haben als Sie nun vielleicht im ersten Moment denken. Hierfür lohnt ein Blick in die DNA der Chorbewegung, also in die Entstehungsgeschichte der Chorverbände:
Chorbewegung vs. Demokratiebewegung
Der Schwäbische Chorverband hat mit Friedrich Silcher in Person und den ihn umgebenden Dichtern der Schwäbischen Romantik: (Ludwig Uhland, Eduard Mörike, Justinus Kerner, um nur einige zu nennen) ein leuchtendes Vorbild und brennende Demokraten im direkten Umfeld, und dies zu Zeiten, in denen in Deutschland weder von “Deutschland” noch von Demokratie die Rede sein konnte. Wir finden also auch hier eine Zeit des Umbruchs: Die französische Revolution fand im Geburtsjahr Silchers statt, in seiner Jugend erlebte er die napoleonische Herrschaft über das europäische Territorium. Und mit dem einhergehenden erstarkenden Wunsch der Menschen, einer eigenen Nation anzugehören, ist eine Identitätsfrage verbunden.
Dies alles führte, wie wir wissen, schlussendlich ab 1803 zu einer fast fünfzigjährigen Phase mit Besatzung, Kriegen, Fremdherrschaft und Unterdrückung vor allem der (Meinungs-)Freiheits- und Demokratiebewegung. 1848 dann entlud sich der Druck in der deutschen Revolution, die – ich mache es kurz – schlussendlich in der Gründung einer Nation mit einer Nationalversammlung des neugegründeten Nationalstaats, des Deutschen Reichs, endete.
Ich denke, trotz des kurzen Abrisses neuerer Deutscher Geschichte wird deutlich, dass die Zeiten, in die Silcher und die Dichter der Schwäbischen Romantik hineingeboren wurden, weitaus turbulenter waren als heute. Und wenn auch schon 1849 die Demokratie- und Freiheitsbewegung wieder zurückgedrängt wurde, war es nicht mehr möglich, die größer und größer werdende Chorbewegung zu stoppen.
Bestes Beispiel hierfür ist die 1849 erfolgte Gründung des Schwäbischen Sängerbundes, die den Demokratisierungsgedanken in ihrem Herzen hatte und so getrost als Keimzelle einer neuen Bewegung bezeichnet werden kann, die letztlich auch Motor des Zusammenschlusses vieler einzelner Chorgemeinschaften zum Deutschen Sängerbund wurde. Darauf können alle Chorsängerinnen und – sänger mächtig stolz sein, ein vergleichbares Erbe ist nicht so einfach zu finden.
Silcher als Influencer
In der Zeit um 1850 hatte sich also ein Fenster geöffnet, in dem die Werke der Dichter und deren Vertonung durch Silcher einen Nerv trafen. Silcher jedoch nur auf die Vertonung von fremden Texten zu reduzieren, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Silcher war sicher nicht einer, der auf die Barrikaden gestürmt ist und an vorderster Front die direkte Auseinandersetzung mit der jeweiligen Exekutive gesucht hat. Nein, Silcher war subtiler und – heute würde man sagen – smarter. Und dies ist es, was mich schon vom ersten Moment meiner eigenen Beschäftigung mit Silcher begeistert und seitdem nicht mehr losgelassen hat: Silcher wollte m. E. sehr wohl seine pädagogischen, an Pestalozzi angelehnten Ideen verwirklichen und gesellschaftspolitischen Ziele erreichen, aber eben auf seine etwas leisere und dadurch sicher wirkmächtigere Art. Silcher, so stelle ich ihn mir vor, wollte die Herzen der Menschen für die neuen gesellschaftlichen Ideen öffnen und nicht die Köpfe weiter erhitzen. Er wollte Verstetigung, nicht Affekt. Ich glaube, dass Silcher, wie man heute sagt, ein Influencer – ein Beeinflusser war.
Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Silcher eines der wichtigsten Herzen der Demokratiebewegung im Südwesten war und in dieser Funktion von uns heute unterschätzt wird. Denn wenn wir das, was von ihm sicher übermittelt ist, neu bewerten, ist die Praxis in seiner akademischen Liedertafel in Tübingen, die getrost als Hort des aufkommenden Nationalbewusstseins gelten kann, später dann auch die sängerische Praxis im Liederkranz, welcher mehr der Geselligkeit und pathetischer ausgedrückt auch der Einheit aller Mitsingenden diente, ein zutiefst demokratischer Akt. Der Bedarf an Gemeinschaftsbildung war groß und Singkreise, später Chöre, erfüllten dieses Bedürfnis als erste, letztlich auch durch die entsprechende Chorliteratur, die von schon besagten Dichtern der Schwäbischen Romantik geliefert und von Silcher vertont wurden.
Ein Forum für singende Demokrat*innen
Wenn dies auf den ersten Blick auch befremdlich oder zumindest fragwürdig geklungen hat, ist das Thema “Demokratiebewegung” in Bezug zu Chorarbeit also nicht zufällig gewählt. Denn die Gründung der Chorbewegung kann, wie beschrieben, als demokratischer Akt verstanden werden. Friedrich Sicher selbst kann in diesem Zusammenhang somit nicht nur als ein Gründervater der Chorbewegung, sondern auch als ein Wegbereiter der Demokratiebewegung in Deutschland angesehen werden. Das demokratische Verständnis ist somit fest eingeschrieben in die DNA des Chorverbandes und besonders in die des Schwäbischen. Dazu passt auch, dass das Thema Demokratie in den neuen Leitlinien der Deutschen Chorjugend einen zentralen Platz eingenommen hat, welches durch Möglichkeiten der Partizipation und Mitbestimmung aktiv trainiert und gelebt werden soll.
Somit bietet es sich für das Chorfest in Leipzig als geradezu prädestinierten Ort an, über das (alte) Erbe und (neue) Demokratieverständnis der Chorbewegung (nicht nur im Südwesten) zu sprechen. Schließlich fand in Leipzig eine andere, friedliche Revolution ihren Ausgangspunkt: die Leipziger Montagsproteste – die 1989 ausschlaggebend für den Fall des DDR-Regimes und in Folge der Deutschen Wiedervereinigung gelten können.
So laden wir Sie recht herzlich ein mit uns zum ersten „Cantament – dem Forum für singende Demokrat*innen“ zusammenzukommen, mit uns zu singen, zu diskutieren, zu streiten und in jedem Fall das zu bilden, was Marcel Dreiling, der Musikdirektor des Schwäbischen Chorverbandes in einem Radio-Interview so wunderbar ausgedrückt hat: ein “Wir“.
STUDIO IN//stabil mit Standorten in Wien und Berlin (www.studioinstabil.eu). Im Auftrag des Schwäbischen Chorverbands entwickelte er das CANTAMENT als Diskurs-Forum für singende Demokrat*innen. Seit der Beschäftigung mit der Schwäbischen Romantik (die er immer für zu schwülstig hielt) ist er großer Fan von Friedrich Silcher (den er für einen großen Demokraten hält) und seinem Umfeld. Drohsel unterrichtet an der Universität Wien und arbeitet als Beteiligungsexperte im Sandleitenhof, dem größten Gemeindebau des Roten Wiens. In seiner Freizeit flaniert er durch Städte, sammelt Geschichten von Menschen und isst Eis.