Chorleiter Benjamin Hartmann über die Leidenschaft für klassisches Repertoire
Benjamin Hartmann, Jahrgang 1990, begeistert sich für das klassische Chorrepertoire. Und das schon seit seiner Jugend. Als Kind singt er in einem Stuttgarter Knabenchor, als Teenager wird er Mitglied im „Maulbronner Kammerchor“. Dort singt er bis zu seinem 19. Lebensjahr aktiv mit. Bereits mit Anfang zwanzig steht für ihn fest: Er möchte sich auf den Bereich Chordirigat spezialisieren. Die Liste seiner Lehrer liest sich exklusiv – unter ihnen Hans Christoph Rademann, Frieder Bernius und Peter Dijkstra. Er studiert in Cambridge, Stockholm und Yale. Seit 2016 leitet Hartmann nun den „Maulbronner Kammerchor“. Für ihn ist das ein Privileg und ein erfüllter Traum zugleich. Als junger Chorleiter gilt Benjamin Hartmann in der Klassikszene noch immer eher als Exot. Was fasziniert ihn an diesem Repertoire? Ein Gespräch.
Annabell Thiel: Herr Hartmann, Sie haben Ihre Ausbildung zum Chordirigenten auf internationalem Parkett absolviert. Stockholm, Cambridge, Yale: Um nur drei Orte zu nennen. Wie gut gelingt es Ihnen, Ihren Chor für innovative Ansätze zu begeistern?
Benjamin Hartmann: Ich glaube, wenn man innovative Ideen einbringt, dann kann man Glück oder Pech haben mit den Chören und mit dem Publikum. Ich bin aktuell mit dem „Maulbronner Kammerchor“ in einer glücklichen Situation. Denn dieser Chor ist grundsätzlich aufgeschlossen gegenüber neuem Repertoire und innovativen Ideen, auch im Hinblick auf Konzertformate. Wir haben z.B. auch schon ein Konzert mit einer Big Band gestaltet. Das kam beim Publikum gut an, aber hat dem Chor auch Spaß gemacht.
Annabell Thiel: Ihr Fokus liegt bis heute auf dem klassischen Repertoire. Was begeistert Sie so sehr daran?
Benjamin Hartmann: Ich bin ein Freund der tollen Klänge. Gerade Komponisten der alten Musik, des Barock, der Romantik haben immer wieder versucht, Inhalte in interessante Klänge zu kleiden. Ich glaube, Menschen sehnen sich nach Klangschönheit. Die kann zum einen das Publikum, aber auch mich selbst immer wieder tief berühren.
Annabell Thiel: Ihre umfangreiche Ausbildung im Bereich Chordirigat hat Sie sicherlich inspiriert und Ihnen neue Stile und Techniken näher gebracht. Ihren Master haben Sie beispielsweise in Stockholm gemacht. Sie sagen, die schwedische Chorszene hat Sie „geflasht“ – warum?
Benjamin Hartmann: Die Ausbildung für Chordirigenten in Schweden ist exzellent. Das liegt auch daran, weil die Welt der Spitzenklasse-Profimusiker eng mit der Ausbildung junger Dirigenten verknüpft ist. Noch heute ist es so, dass die Sänger des schwedischen Rundfunkchors für die Studenten im Bereich Chordirigieren singen. Man arbeitet also von Anfang an mit den Besten der Besten zusammen. Das ist völlig anders als in Deutschland. Da habe ich teilweise den Eindruck, mancherorts konzentriert sich die Ausbildung darauf, langfristig einen soliden Kirchenchor leiten zu können. Das ist in Schweden völlig anders.
Annabell Thiel: In Schweden darf man also groß träumen …
Benjamin Hartmann: Ja und man bekommt einen völlig anderen Horizont eröffnet. Man lernt, auf einem so hohen Niveau zu arbeiten. In den ersten Proben dachte ich, was will man hier eigentlich noch verbessern? Aber genau darum geht es: Auf Details zu hören.
Annabell Thiel: Neben Schweden waren Sie auch in England. Von 2018 bis Sommer 2019 haben Sie in Cambridge einen „Master of Music“ absolviert. Was hat sie an der dortigen Chorszene fasziniert?
Benjamin Hartmann: In England liegt der Fokus auf der Intonation. Das wird dort von klein auf gepflegt. Wer zu tief singt, wird ziemlich schnell schief angeschaut. Ich glaube, es gibt in England Schulchöre, die eine bessere Intonation haben als manche professionelle Ensembles in Deutschland.
Annabell Thiel: Seit 2016 sind Sie zurück in Ihrem Heimathafen eingetroffen, als Chorleiter betreuen Sie den „Maulbronner Kammerchor“. Dort, wo die Geschichte von Ihnen und der Chorbegeisterung angefangen hat. Wie bringen Sie Ihre internationalen Erfahrungen in die Arbeit mit diesem Ensemble ein?
Benjamin Hartmann: Dieser Chor bietet mir die großartige Möglichkeit, meine eigene Handschrift weiterzuentwickeln.
Annabell Thiel: Sich weiterentwickeln heißt auch, Neues zu wagen. Haben Sie einen Tipp, wie ich meinen Chor am besten für neue Ideen begeistern kann?
Benjamin Hartmann: Ich glaube, man muss behutsam vorgehen. Das heißt, dass man mit den bestehenden Strukturen nicht von jetzt auf gleich brechen kann. Um etwas Neues zu wagen, versuche ich meist, das Interesse der Sänger zu wecken. Beispielsweise habe ich das mal mit einem Stück aus dem Baltikum gemacht. Da kommt eine Improvisation vor, in einer Notation, die der Chor nicht kannte. Das kann natürlich anfangs etwas einschüchternd sein. Ich habe diese Improvisationstechnik dann schon spielerisch in das Einsingen integriert.
Annabell Thiel: Es geht also darum, Ängste und Hürden im Kopf abzubauen …
Benjamin Hartmann: Es ist letztendlich eine Frage der methodischen Trickkiste. Gerade Chöre, die im traditionellen klassischen Bereich unterwegs sind, brauchen Zeit, um sich auf neue Stilistiken oder Formate einzulassen. Es lohnt sich aber, diese Zeit zu investieren. Denn hinterher wird es einem meistens gedankt. Die Sänger müssen ihre Komfortzone verlassen.
Annabell Thiel:Sie begeistern sich als junger Chorleiter mit Anfang 30 für klassisches Repertoire. Das ist, mit Blick auf die ganze Szene, eher ungewöhnlich. Wie fühlen Sie sich in der Klassik-Welt aufgenommen?
Benjamin Hartmann: Ich habe das Gefühl, als junger Dirigent anerkannt zu werden. Mir ist aber bewusst, dass ich auch als Leiter des „Maulbronner Kammerchores“ in einer privilegierten Situation bin, weil nicht jeder mit Mitte/Ende zwanzig eine solche Leuchtturm-Stelle bekleiden darf.
Annabell Thiel: Was denken Sie, sind die Gründe dafür, dass Ihnen, fernab des Chores, dennoch eine so positive Resonanz zu Teil wird?
Benjamin Hartmann: Ich komme aus einer Generation, die sehr solide ausgebildet ist. Heute kann man Chordirigat als eigenständiges Fach studieren. Das war früher nicht immer so. Chorleiter, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges geboren sind, waren eine echte Pionier-Generation. Sie haben sich vieles autodidaktisch beigebracht und haben tolle Projekte gestartet. Allerdings sind die Chöre strukturell und finanziell nicht mitgewachsen.
Annabell Thiel: Sie haben einen anderen Hintergrund als die „alten Hasen“ der Szene. Worin liegt darüber hinaus für Sie die Chance des „Jung-Seins“ für Ihre Arbeit?
Benjamin Hartmann: Eine große Chance liegt darin, Formate neu zu denken, alte Strukturen zu hinterfragen und aufzubrechen, aber durchaus auch, Bewährtes fortzuführen. Ich bin jetzt keiner, der sagt, alles muss neu werden. Dennoch ist es wichtig, sich zu fragen: Wie können wir heute unter Publikum erreichen? Wie können wir methodisch geschickt Neuerungen in die Chorarbeit einbringen? Ich denke allerdings, da ist meine Generation sehr gut auf die spezifischen Anforderungen ausgebildet.
Annabell Thiel: Was sind denn die „spezifischen Anforderungen“, von denen Sie sprechen?
Benjamin Hartmann: Meine Generation geht einigermaßen selbstverständlich mit alter Musik bis hin zu zeitgenössischer Musik um. Auch stilistisch gibt es weniger Berührungsängste, verschiedene Stile miteinander zu kombinieren. Mein Chor ist vor allem im Bereich der geistlichen Vokalmusik aktiv. Mir ist es aber dennoch auch wichtig, weltliches Repertoire einzubauen.
Annabell Thiel: Es ist mutig und nötig, die bestehende Szene zu hinterfragen. Dennoch müssen neue Ideen auch auf fruchtbaren Boden treffen. Welchen Herausforderungen stehen Sie gegenüber?
Benjamin Hartmann: Digitalisierung, Social Media, die ganze Welt des Internets: All das sind Themen, die immer wichtiger werden. Allerdings stehen die älteren Generationen diesen Entwicklungen tendenziell sehr vorsichtig gegenüber. Es gibt natürlich auch Ausnahmen und die Tendenz betrifft nicht nur meinen Chor, sondern die gesamte Szene.
Annabell Thiel: Insgesamt klingt es so, als wären Sie derzeit genau am richtigen Platz, um Ihre Fähigkeiten als Chorleiter zu vertiefen. Was war Ihr bisheriger Highlight-Moment, in dem Sie wussten, in dieser Position, als Chorleiter des „Maulbronner Kammerchors“ bin ich genau richtig?
Benjamin Hartmann: Das war mein erstes Oratorium. Als junger Dirigent mit einem großen Orchester und sehr guten Solisten zu arbeiten: Das ist eine Erfahrung, die man im Studium nur sehr begrenzt machen kann, weil eine solche Produktion einfach unglaublich viel Geld kostet. So eine Produktion fernab der Universität eigenständig in die Hand nehmen zu dürfen, das war ein erhebendes Gefühl.
Das Interview führte Annabell Thiel