Chöre werden nach ihrer Besetzung benannt: Männer-, Frauen-, Gemischte Chöre, aber auch mit einer Altersbestimmung: Kinder- und Jugendchöre oder auch Seniorenchöre. Es gibt Differenzierungen nach der musikalischen Ausrichtung: Motetten Chor, Kirchenchor, Jazzchor usw. Die Bezeichnung „Junger Chor“, die wir heute betrachten wollen, führt uns so in die Irre. Bei einem „jungen Chor“ ist das Durchschnittsalter oft kaum geringer als bei einem traditionellen Chor. So darf und muss diese Bezeichnung kritisch hinterfragt werden.
Zunächst zur historischen Entwicklung
Ende der achtziger Jahre etablierten sich die „jungen Chöre“ und grenzten sich gegen die traditionellen Chöre ab. Chorsätze, vornehmlich in englischer Sprache, „closed harmonies“ und rhythmisch betont, wurden aus England und den USA bezogen. Dabei wurden die „Jungen Wilden“ von Sänger der traditionellen Chöre kritisch beäugt, schon allein wegen der unverständlichen Kaugummi-Sprache. Wurde dann noch eine Choreografie präsentiert, war das mit der Toleranz schnell vorbei. Zwar wurde verstanden, dass mit den alten Strukturen und Liedern junge Sänger nur schwerlich den Weg in den traditionellen Chor finden, akzeptieren oder gar goutieren konnte man die neue Bewegung aber dennoch schwer. Trotzdem machten sich viele traditionelle Chöre auf und gründeten und unterstützen ihren „Jungen Chor“ – eine echte Pionierleistung. Mancherorts, wenn alle Vorzeichen stimmten und der richtige Chorleiter gefunden wurde, überflügelte der junge Chor bald den Stammchor und ersetzte ihn gar.
Neue Musik, Herausforderungen
Der Junge Chor übernahm auch mitunter die Aufgaben des Stammchores. So bekam in einer Gemeinde durch das Ableben des Stammchores der Volkstrauertag eine völlig neue Ausrichtung. Durch die Ausstrahlung der innovativen Kraft des jungen Chores wurde so die komplette Ausrichtung dieses verstaubten Relikts reformiert. Plötzlich waren auch mehr Besucher da und plötzlich, durch eine Aktualisierung und eine Ausrichtung zum Weltfrieden hin, waren auch jüngere Leute interessiert.
Ein junger Chor wird entweder von einer Band oder Klavier begleitet oder singt in der Tradition der „Comedian Harmonist“ als Urväter der Vocal-Groups, wie „Wise guys“, wie „die fuenf“. Beat-boxing, Body- und Mouth-Percussion ersetzten die instrumentale Begleitung. Deutsch wird als Sprache im Gesang auch abseits des Volksliedes wieder präsenter. Die Rolle des Chorleiters ändert sich. Statt eines „ordentlichen“ Einsatz wird eingezählt: „one, two, one, two three, four“ – statt eines „ordentlichen Schlagdiagramm“ wird der Takt geschnipst – manchmal klappt das dabei sogar auch mit dem Off-beat. Noch häufiger verschwindet der Chorleiter hinter dem Klavier und „leitet“ von dort aus das Ensemble.
Neue technische Voraussetzungen
Einerseits durch solistische Passagen, andererseits durch den Einsatz einer Band (mit chronisch zu lautem Schlagzeug) oder durch den Einsatz von Beatboxen wird die Mikrofonierung des Chores notwendig. Damit kann eine klangliche Balance hergestellt werden und ein Singen im Freien oder in akustisch ungünstigem Umfeld optimiert werden. Der Aufwand durch Einzelmicros, Tontechniker, PA-Anlage, Boxen … wird freilich gewaltig.
lernen, lernen, lernen: Englisch als Herausforderung
So, wie der Junge Chor Zulauf bekommt, wachsen die Begehrlichkeiten der traditionellen Chöre. Gerne wird gesehen: Junge Menschen möchten englisch singen – wenn wir das auch machen, kommen die neuen Sänger zu Hauf. Also wird englisch gepaukt: vorsprechen – nachsprechen, Lautschrift eingezeichnet, Enkel für Nachhilfe akquiriert und los geht’s: es kommt selten etwas Authentisches heraus und der gewünschte Erfolg bleibt aus.
Dem gegenüber entwickelt sich die „neue Einfachkeit“ in der Pop-Musik. Pop für alle. Mit dem Helbling-Verlag (Pop 4 voices) dem Arrangement-Verlag mit Pascual Thibaut und anderen wurde die Pop-Musik für die Breite möglich – nach der Devise: „Eine Synkope schafft doch jeder…“ erobert „Ich war noch niemals in New York“ die Musical-Hall und die Konzertsäle unserer Gesangvereine.
Nun, 30 Jahre später, braucht es für diese Aufführungen keinen Jungen Chor. Noten müssen nicht mehr aufwändig aus dem Ausland bestellt werden. Sie werden von heimischen Arrangeuren passgenau gefertigt und damit auch niederschwelliger. Ein solches Arrangement ist also auch für den „normalen“ Chor geeignet und leistbar. Dagegen bleiben aber die hochvirtuose und anspruchsvolle Jazz- und Pop-Musik stehen. So wie Manfred Bühler mit seinen einfachst-Chorsätzen im traditionellen Chor, so darf die modernere Chorliteratur nicht bei Pascual Thibaut enden. Das hieße nur noch Knäckebrot mit Margarine und nie wieder Sauerbraten, Rumpsteak, Gemüsevariationen, Käsespätzle, Austern, …
Der ganze Bereich der Stimmbildung wurde im Laufe der Zeit in den traditionellen Chören eingeführt und der Nutzen wurde erkannt. Es ist aber leider nie gelungen, diesen wichtigen Bereich zu systematisieren und fest, gemäß ihrer Wichtigkeit, in der Ausbildung zu verankern.
Die Jazz- und Popmusik nutzt eine andere Tongebung. Stimmideale der klassischen Stimmbildung werden hier aufgegeben, wie zum Beispiel der klare und unverhauchte Stimmklang. Das saubere exakte Ansingen eines Tones, wird zu einem Anschleifen eines Tones (hot intonation), einem Spiel mit der Intonation. Der Lagenausgleich, das heißt der saubere Übergang zwischen Kopf- und Bruststimme, wird verlassen und der Bruch im Übergang gar als Stilmittel eingesetzt. Tongebungen unglaublicher Art entwickeln sich wie zum Beispiel das Belting. Die Pop- und Jazz Sänger benötigen gerade in diesen Stimmextremen und durch den intensiven Stimmeinsatz, zum Beispiel im professionellen Musicalbetrieb oder im professionellen Pop-Bereich, eine professionelle Stimmbildung – eben das, was der klassische Bereich versäumt hat aufzubauen.
Mit systematischen Ansätzen wie zum Beispiel bei der „Complete-Vocal-Technique – CVT“ wird dies gemacht – aber auch kommerzialisiert.
Was brauchen also nun die „Jungen Chöre“? Zunächst erst mal junge Sängerinnen und Sänger, um dem Namen gerecht werden zu können. Diese jungen Ensembles gibt es: fein spezialisiert als Chorgruppe oder kleine Vokal-Ensemble die musikalisch „am Puls der Zeit“ stehen. Dabei müssen wir uns um die deutsche Sprache keine Sorge machen: die echten Jungen haben sie sich schon längst zurückerobert. Machen wir uns lieber Sorgen um die Vielfalt und die Qualität in der Chorszene. Dabei gilt als goldene Regel: Schuster, bleib bei deinen Leisten“. Nicht jeder, der eine Synkope beherrscht und die englische Sprache, muss sich „Junger Chor“ nennen. Beerdigen wir diesen Ausdruck und kümmern wir uns um Qualität in Komposition und Ausführung.
Ein Chor, gleich welcher Couleur, muss sich auf seine Qualitäten besinnen, diese optimieren und authentisch bleiben. Wenn wir glaubhaft auf der Bühne stehen und das Publikum spürt: „die sind mit Freude dabei“, haben wir viel mehr erreicht als ein Publikum, das unser bemühtes Bemühen erleidet.
Freuen wir uns an der vielfältigen Chormusik, die uns heute zur Verfügung steht. Danken wir den Verlagen, die in allen Bereichen Altes pflegen und Neues schaffen. Machen wir uns schlau und bleiben am Puls der Zeit, indem wir Verlage und Verlagsausstellungen besuchen und den Verlagen ermöglichen, dies weiterhin zu machen, indem wir die Noten kaufen und nicht widerrechtlich kopieren. Beobachten und gestalten wir die aktuelle Chorszene mit wachem Blick und lassen wir Überlebtes hinter uns wie die Chorgattung „Junge Chöre“ die sich dem Altersheim nähert. Da dürfen wir dann ebendieses rocken: Young@heart.
Marcel Dreiling
ist nicht nur passionierter Chorleiter und Musiklehrer, als Musikdirektor des Schwäbischen Chorverbandes ist er zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen im Musikbeirat für die musikalische Zielsetzung des Verbandes in der Hauptverantwortung.