Gemeinschaft über alle Standesdünkel hinweg.
Manchmal hinterlässt eine zufällige Begegnung einen sehr nachhaltigen Eindruck. Das war z. B. 1853 der Fall, als ein Schnaiter Handwerksbursche in Neuchâtel einem berühmten Zeitgenossen begegnet ist.
Im März 1912, wenige Monate vor Eröffnung des Silcher-Museums, griff der hochbetagte Bäckermeister Gottlieb Fischer zu Papier und Feder, um ein Erlebnis zu notieren, das er ein Leben lang mit sich herumgetragen hat. Nun sollte es der Nachwelt bekannt gemacht werden. Um den eigenen Charme des Dokuments zu erhalten, wird hier weitgehend der originale Text zitiert: „Es war im Jahr 1853 am 11. August, ich war dazumal 22 Jahr alt, bin ich und der oben genannte Kamerad auf die Wanderschaft in die freie Schweiz. (Wir waren beide Bäcker.) Am 26. August kamen wir nach Neuchatel und dort ist uns eingefallen dass eine (…) Halbschwester von unserem Friedrich Silcher dort wohnt, unsere Eltern haben es uns gesagt, denn Silchers Mutter hat ja bekanntlich nach dem Tod von Friedrich Silchers Vater den Amtsnachfolger Schullehrer Weegmann geheiratet und da sind noch zwei Mädchen nachgekommen, eine davon war also in Neuchatel und diese haben wir aufgesucht und auch bald gefunden. Sie war gerade in der Wohnung und ehe wir uns ein Wort gesprochen haben, hat sie uns sofort gekannt und gesagt Ach da kommen Schnaiter, auch wir haben sie sofort gekannt, denn sie war täglich in unserem Haus in der Nachbarschaft.“
Eine Flasche Wein und ein Zehrpfennig
„Und da war noch ein älterer Herr und noch eine ältere Frau, den Herrn hat sie uns dann vorgestellt und gesagt, das sei ihr Stiefbruder Friedrich Silcher Musig-direktor (sic!) in Tübingen. Wir hatten ihn vorher nicht persönlich gekannt weil er nur wenig nach Schnait gekommen ist, aber seinen Namen haben wir gewusst. Natürlich sind wir dann ausgefragt worden wie es den Schnaitern gehe u. s. w. Und dann ging der Herr der Stiefbruder Dr. Silcher mit uns in die Wirtschaft wo wir übernachtet sind und hat da eine Flasche Wein mit uns 2 Handwerksburschen getrunken und uns unterhalten, und am andern Morgen mussten wir den Kaffee bei ihnen trinken und als wir fort weiter wandern mussten bekamen wir noch einen Zehrpfennig.“
Diese Tat der Nachwelt kundtun
„Diese Tat möchte ich der Nachwelt kund tun, je älter ich werde desto wertvoller ist mir diese Tat, nicht der Genuss von der Flasche Wein hat mich so begeistert sondern die Tat, wenn so ein hochgestellter und hochangesehener Mann / welcher man kann sagen in der ganzen Welt wo Deutsche wohnen genannt oder seine Lieder bekannt sind, und dieser Mann hat sich nicht geschämt mit diesen 2 Handwerksburschen in das Wirtshaus zu gehen wo wir übernachtet sind um eine Flasche mit ihnen zu trinken.
Ich glaube wenn Handwerksburschen auf ihrer Reise einen solchen Landsmann oder Freund finden, das ist etwas Seltenes oder Kostbares, deshalb verehre ich ihn solange ich lebe. Ich bin im Jahr 1881, wo ein Verein gegründet worden ist welcher seinen Namen trägt, als 50jähriger Mann dem Verein beigetreten und 20 Jahr Vorstand dieses Vereins und heute noch als 81jähriger Mann singe ich noch wenn Silcherlieder gesungen werden.“
Zum Schluss seines Berichts entschuldigt sich Fischer für das „schlechte Schreiben“, erinnert nochmals daran, dass er ja schon 81 Jahre alt sei und das Erlebte 59 Jahre zurückliege, und bemerkt noch dazu, dass Silcher auf den Tag genau sieben Jahre nach der Begegnung, nämlich am 26. August 1860, gestorben sei.
Berühmter Mann – ohne Standesdünkel
Fischer charakterisiert hier Silcher so, wie ihn auch andere Zeitgenossen immer wieder geschildert haben: als einen Menschen ohne Eitelkeit und Standesdünkel, offen, wohlgesinnt und hilfsbereit, vor allem auf die Förderung der Jugend und der unteren Volks- bzw. Bildungsschichten bedacht. Er selbst stammte ja als Sohn eines einfachen Dorfschulmeisters aus dieser Schicht.
Der Musikdirektor hat seinen Urlaub übrigens öfters bei seiner Verwandtschaft in der Schweiz verbracht, vor allem, nachdem von seiner Familie niemand mehr in Schnait übrig geblieben war. Außerdem hatte er ja schon seit Nägelis Zeiten viele Kontakte zu Musikpädagogen in der Eidgenossenschaft, die auf diesen Reisen pflegte.
Und Fischer? Der kam – wie man sieht – in seine ländliche Heimat zurück. Dort hat er lange im Gesangverein, der sich ab 1881 „Silcher-Verein Schnait“ nannte, mitgewirkt. Ein Foto von 1910 zeigt ihn – damals bereits hochbetagt – mit den Sängern bei einem Besuch des Silcher-Denkmals in Tübingen.
Ein jährlicher Gedächtnistrunk auf den Meister
Den Tag der Begegnung mit dem Komponisten, dessen Datum, der 26. August, wenige Jahre später auch zum Todesgedenktag wurde, beging der Bäckermeister zeitlebens mit einem ganz besonderen Ehrentrunk. Ein Foto von 1912 zeigt Fischer, wie er den silbernen, mit Wein gefüllten Pokal hebt, um mit dem Schnaiter Lehrer und Chorleiter Haas auf den Komponisten anzustoßen. (Der Pokal war übrigens ein Geschenk des Straßburger Silcher-vereins an die Schnaiter Namensvettern.)
Sei zum Schluss noch kurz daran erinnert: Die wandernden Gesellen verdanken Silcher so manches schöne Reise- und Abschiedslied, nicht zuletzt das allseits bekannte „Muss i denn zum Städtele naus“.