Warum Singen kein verzichtbarer Luxus ist, welche Folgen ein Singverbot haben könnte und wie es trotz Pandemie doch funktionieren könnte
Der Mediziner, Sänger und Leiter des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM) Prof. Dr. Bernhard Richter schrieb in seinem Buch „Die Stimme“ im Jahr 2014 noch: „Auch wenn Singen und Musizieren grundsätzlich keiner weiteren Legitimation bedürfen – denn Musik muss keinen Zweck erfüllen –, so kann man doch fragen, welchen Sinn Musik aus medizinischer Perspektive hat.“ Doch immer öfter muss Musik und neuerdings besonders das Singen im schulischen Kontext um seine Daseinsberechtigung kämpfen. Nach tragischen Infektionsfällen in Chören und Kirchen, Zeitungsberichten mit Titeln wie „Wenn Singen tötet“ und einer unklaren Datenlage beschloss das Kultusministerium in Baden-Württemberg (Stand 13. August 2020), dass auch in wieder geöffneten Schulen und Kindergärten das Singen und Musizieren unter den derzeitigen Pandemiebedingungen generell oder mindestens in geschlossenen Räumen verboten sein sollte.
Stellen Sie sich vor es ist Schule und keiner singt …
Man muss sich die Szenen in Schulen und Kindergärten gar nicht nur vorstellen, in den Wochen vor den Sommerferien konnte man direkt hören und sehen, wie es in Bildungsinstitutionen ohne Gesang ist: still und freudlos. Nicht alle Schulen hatten und haben überhaupt die Ausstattung und Räumlichkeiten, um auf andere Formen des Gruppenmusizierens zurück greifen zu können und auch Body-Percussion, Boom-whackers, Xylophone, Ukulelen und „das Rap-Huhn“ bieten nicht ausreichend Material, um die Lücke zu schließen, die ein Singverbot reißt. Musikunterricht wäre auch ohne Gesang möglich – ja. Wenn man aber den Zusammenhang zwischen dem Singen und der kindlichen Entwicklung in den Blick nimmt, wird schnell deutlich, wie wichtig das Singen als Kernbestandteil des Unterrichts ist.
Ein lautes Raunen geht durch Baden-Württemberg
So löste das Konzeptpapier des Baden-Württembergischen Kultusministeriums für das Schuljahr 2020/2021 mit dem Satz „Singen und das Spielen von Blasinstrumenten in geschlossenen Räumen ist weiterhin ausgeschlossen“ eine Welle der Kritik aus. Der Bundesverband Musikunterricht startete eine Petition, die inzwischen über 20.000 Unterstützende verzeichnet. Und die Verlage Carus und Helbling schrieben in einem offenen Brief vom 15. Juli 2020: „Bei allem Verständnis und Konsens für die Notwendigkeit eines nachhaltigen Hygienekonzeptes an den Schulen schießt diese undifferenzierte und pauschale Verordnung über das Ziel hinaus und schadet damit dem Fach, dem Stellenwert des Singens für die kindliche Entwicklung allgemein und damit auch den Schülerinnen und Schülern und ihrer persönlichen und emotionalen Entwicklung.“
Leider ist die Vielschichtigkeit des letzten Halbsatzes, der Schaden und der „Stellenwert des Singens für die kindliche Entwicklung allgemein“, nur wenigen in seiner Bedeutung bewusst.
Welche Folgen hätte ein längeres Singverbot tatsächlich?
Werfen wir einen Blick auf die Bildungs- und Orientierungspläne in Schulen und Kindergärten in Baden-Württemberg. Anhand der sogenannten “Erziehungs- und Bildungsmatrix” kann exemplarisch die Wichtigkeit des Singens herausgearbeitet werden. Es werden sechs sogenannte „Bildungs- und Entwicklungsfelder“ genannt: 1. Körper, 2. Sinne, 3. Sprache, 4. Denken, 5. Gefühl und Mitgefühl und 6. Sinn, Werte und Religion. Schon das einfache Singen eines Liedes wirkt sich in jedem dieser Bereiche positiv aus. Die körperlichen, gesundheitlichen und medizinisch nachweisbaren Effekte wurden inzwischen von zahlreichen Studien weltweit erfasst. Bei Menschen, die aktiv singen, wurde beispielsweise mehrfach nachgewiesen, dass sowohl die Abwehrkräfte des Immunsystems als auch die Werte von Glückshormonen wie Endorphinen und Oxytocin steigen, während die Werte des Stresshormons Cortisol sinken. Auch die mit dem Singen verbundenen Körperfunktionen wie die Atmung, Haltung und Tonus, werden durch das Singen positiv reguliert. Darüber hinaus wird selbstverständlich auch ein gesunder und ökonomischer Umgang mit der Stimme selbst geschult. Von dieser Stimmschulung profitieren später nicht nur Vielsprechende, wie Lehrende oder Redner*innen; unsere ganze Persönlichkeit drückt sich im Stimmklang und der Körpersprache aus.
Singen in der Gruppe besonders wertvoll
Besonders in der Gruppe wird beim Singen die auditive Wahrnehmung, das Zuhören geschult. Aber auch das Spüren der Vibrationen durch das Singen, v. a. beim Selbstklingen, ist eine sinnliche Erfahrung. Dieser Effekt spielt im Sinne der Selbstwahrnehmung ebenfalls eine Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung.
Für gelingende Kommunikation steht auf der anderen Seite der eben angeführten Wahrnehmung die Sprachkompetenz. Das Singen von Kinderliedern, gerade mit für Kinder herausfordernden Lauten, kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Besonders im geschützten Rahmen der Gruppe kann hier individuelle Förderung stattfinden, ohne dass kleine Mängel zu sehr auffallen. Ein weiterer Nutzen des Singens ergibt sich im Umgang mit schwerwiegenderen Sprechstörungen wie dem Stottern. Beim Singen werden mit Leichtigkeit sämtliche Stimmfunktionen geübt, die neben dem Singen auch für eine lebendige Sprechstimme wichtig sind. Selbst Sprachen, Fremdsprachen, Dialekte oder die Hochsprache können durch Lieder leichter gelernt und wiederholt werden. Dazu müssen Texte, Abläufe, Melodien und vollführte Bewegungen gelernt und erinnert werden. All dies fördert das Konzentrations- und Gedächtnisvermögen.
Singen: ein Baustein der Entwicklung
Auch im Entwicklungsfeld Gefühl und Mitgefühl scheint das Singen in der Gruppe von besonderer Bedeutung zu sein. Liedinhalte, Tonalität aber v. a. Stimmgebung machen das Singen zu einer emotional bedeutsamen und Empathiefördernden Erfahrung, auch wegen der bereits erwähnten, vermehrten Hormonausschüttung. Das gleichzeitige Singen exakt gleicher Laute, gemeinsames Einatmen und die Anpassung des eigenen Gesangs an einen gemeinsamen Klang verlangt Selbstkontrolle und fördert das Einfühlungsvermögen. Viele kennen und nutzen diesen Effekt des Singens aktiv als Möglichkeit der emotionalen Selbstregulation z. B. im Umgang mit Angst, um sich zu beruhigen.
Im Bereich Sinn, Werte und Religion mag man zuerst an Liedinhalte denken, die oft bedeutsame Werte, religiöse Inhalte oder auch Witz und Humor vermitteln. Doch auch ungeachtet des Inhalts dürfte die Erfahrung, in einem Chor eine tragende Stimme zu haben, von vielen Chorist*innen als Sinn-stiftend empfunden werden. In Fernseh- und Radiobeiträgen, derzeit auch in der ZDF-Doku-Serie „Unvergesslich – der Chor für Menschen mit Demenz“, beschreiben Chorist*innen das gemeinsame Singen mit dem Ziel einer Aufführung daher auch als motivierendes Highlight ihrer Woche.
Bereits diese Beschäftigung mit dem Thema Singen lässt erahnen, welche Folgen ein generelles Singverbot hätte. Nicht alles lässt sich ohne Weiteres durch andere Aktivitäten wie das Lesen von Büchern, gemeinsame Spiele oder das Rezitieren von Kinderreimen und Versen – geschweige denn von vermeintlich wichtigeren Kernfächern wie Mathematik – abdecken. Aufgrund des Mehraufwands werden bestimmte Entwicklungsbereiche schlussendlich sicher mehr als einmal nicht angesprochen bleiben.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die Entwicklungsmatrix des Orientierungsplans für Kindergärten in Baden-Württemberg. (scv.app/Orientierungsplan Seite 66) Die zweite Achse der Matrix beschreibt die Motivation der Kinder. Die in 54 Artikeln der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen festgehaltenen Bedürfnisse bildeten, in wenige Punkte unterteilt, die Grundlage dieser zweiten Achse „Anerkennung und Wohlbefinden erfahren“, „die Welt entdecken und verstehen“, „sich ausdrücken und verständigen“ und „mit anderen leben“ – all diese Grundbedürfnisse finden im Singen Beachtung.
Das alleinige oder gemeinsame Singen, besonders im Hinblick auf Aufführungen, ist für viele Menschen aller Altersstufen eine Quelle der Anerkennung und steigert das Wohlbefinden. In einer Studie von Clift und Hancox wurde 2010 bestätigt: Singen verbessere die Lebensqualität, wirke selbstbestärkend und baue Stress ab . Singen befreit und ermutigt also gleichsam zum Forschen und Entdecken. Noch bevor Kinder sprechen, singen sie in fröhlichem, melodischem und experimentellem Brabbeln vor sich hin und erforschen so die Stimme und alle nötigen Artikulationswerkzeuge. Singen ist auch deshalb als eine der elementarsten Ausdrucksmöglichkeiten anzusehen. Wir alle kennen die verbindende Kraft von Melodien, die manchmal mehr sagen als 1.000 Worte und über Sprachgrenzen hinweg verständlich sind. Die Stimme selbst, aber insbesondere das Hören von Stimmen, besonders die der Mutter, ist uns in die Wiege gelegt. Eine hingebungsvoll gesungene Melodie berührt uns deshalb ein Leben lang direkt und ohne Umwege.
Claudia Spahn führte 2008 eine Interview-Studie mit Kindern durch, die in Chören singen . Auf die Frage, was sie im Chor außer dem Singen noch lernen würden antworteten die Kinder: Erhöhte Aufmerksamkeit und Konzentration, Freude, Geselligkeit und Zusammensein mit anderen, Zusammengehörigkeitsgefühl, gegenseitige Hilfe und gegenseitigen Respekt, soziale Unterstützung, Einhaltung von Regeln, Durchhaltevermögen, Disziplin, Ernsthaftigkeit, Fremdsprachenerwerb und Leistungsbereitschaft.
Zusammenfassend lässt sich also schlussfolgern:
Wäre das Singen in Bildungseinrichtungen weiterhin pauschal verboten, könnte großer Schaden angerichtet werden. Das beherzte, aus voller Brust geschmetterte Lieblingslied – und sei es die hundertste Wiederholung von „Laterne, Laterne“ oder „Über den Wolken“, ist schwer durch andere Aktivitäten zu ersetzen. Man könnte versucht sein, gesungene Lieder einfach per Abspielgerät zu ersetzen: Im Unterricht, an Weihnachtsfeiern, zum Geburtstag und am Tag der Abschlussfeier. Doch wir wissen, dass dies nicht die gleichen Effekte haben kann – weder in Bezug auf die Stimmung, noch auf die Entwicklung der Kinder. Schulveranstaltungen ohne den Schulchor und ohne Gesang werden zumindest ein Stück trostloser sein. Und wie würde sich das auf die Berufe auswirken? Wer z. B. Erzieher*in werden will, sollte aus o. g. Gründen in der Lage sein, mit den Kindern zu singen. Dies lässt sich kaum in zwei bis drei Jahren 14-tägigem Musikunterricht erlernen. Die Folgen von fehlenden Musikpädagogen und Unterrichtsausfall haben sich schon ohne Singverbot bei den Fähigkeiten der Berufsfachschüler*innen niedergeschlagen. Mit einem weiteren Singverbot würde ein ganzer Jahrgang werdender Erzieher*innen kaum Erfahrungen im Singen und im Singen mit Kindern sammeln können und somit als Multiplikator*innen ausfallen. In anderen Branchen, z. B. in der Kulturbranche wäre sicherlich ebenfalls ein wirtschaftlicher Schaden zu erwarten. Käme ein pauschales Singverbot an Schulen, müssten parallel zumindest Musikvereine, Musikschulen und Chorverbände massiv und breitenwirksam gefördert werden. Kulturelle Bildung und allgemeine Entwicklungsförderung darf nicht nur finanzstarken Eliten und Kindern von Musiker*innen vorbehalten sein. Würde das Singen für längere Zeit wegfallen, könnte stark zugespitzt gesagt eine unglücklichere und an Sprache und Kultur ärmere Generation heranwachsen.
Wie können wir entgegenwirken?
Was könnte nun getan werden, um Infektionsschutz in Zeiten einer Pandemie mit dem Grundbedürfnis nach Gesang in Kindergarten, Schule und Gesellschaft zu vereinen? Der anfangs zitierte Wissenschaftler Bernhard Richter und seine Kolleg*innen des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM) versuchen Antworten aufgrund von Daten und Fakten zu geben. Natürlich ist Singen im Freien die sicherste und daher empfehlenswerte Variante. Singen im Hof, während in angrenzenden Räumen Klassenarbeiten oder sogar Abschlussprüfungen geschrieben werden, ist jedoch nur schwer zu realisieren. Und sobald Herbst und Winter anbrechen, ergeben sich für das Singen im Freien zusätzliche Probleme. Ohne Überdachung wird ein kalter und verregneter Herbst das Singen sicherlich verhindern. Andere Varianten, dem Virus auch singend verantwortungsvoll zu begegnen, wurden vom FIM bereits im „4. Update zur Risikoabschätzung“ am 17. Juli genannt. „In-coming Kontrolle“, größere Räume, Abstände, CO2-Messgeräte und verkürzte Lüftungsintervalle wären Möglichkeiten eines Risikomanagements. Und auch das Singen mit Maske stellt möglicherweise eine bessere Alternative dar, als gar nicht zu singen. Jahrelang trainieren Gesangslehrer*innen und Profisänger*innen den vorderen Stimmsitz mit dem häufig sogenannten „Singen in die Maske“ – vielleicht wäre die Corona-Pandemie in dieser Hinsicht sogar eine Chance, Stimmen zu schulen, anstatt sie verstummen zu lassen.