Wie die Corona-Pandemie Chorarbeit verändert hat
Es gibt ein vor und ein danach: Wer hätte das gedacht, erwartet, befürchtet? Wer hätte erahnen können, dass musikalische Ensemblearbeit sich binnen kürzester Zeit einmal in großen Teilen neu entdecken muss, unausgetretene Wege betreten muss und sich so sehr nach einer Normalität sehnen würde, die vermutlich auf lange Zeit betrachtet so nicht mehr sein wird. 2020 hat die gesamte Gesellschaft vor einen geradezu monströs großen Berg an Herausforderungen gestellt. Da war die Situation der Chöre und Musikvereine im Land zu Beginn ein eher kleiner Faktor. Doch langsam kommt das Leben wieder in seinen Tritt – mit Einschränkungen. In einen neuen, Corona-geprägten Tritt, aber immerhin: Wieder ein Schritt nach vorne.
Im Juli-Heft der Zeitschrift SINGEN berichtete die Chorleiterin Sarah Neumann eindrucksvoll von ihren Erfahrungen als selbstständige Künstlerin in Zeiten von Corona. Von Ungewissheit, finanziellen Unwegbarkeiten, aber auch davon, wie wichtig es für sie war einmal inne zu halten, das atemen in dieser atemlosen Zeit nicht zu vergessen und so mit Bedacht und Weitsicht einen Weg durch die Pandemie zu finden. Nun ist Sarah Neumann kein Einzelschicksal – bei weitem nicht. Die meisten Chorleiterinnen und Chorleiter, die für Vereine im Schwäbischen Chorverband arbeiten, sind sogenannte Solo-Selbstständige und auf ihre Tätigkeit in den Chören angewiesen. Nichts machen ist also ein Luxus, den sich in diesem Metier nicht jeder leisten kann. Doch beim „Weitermachen“ während der Corona-Pandemie ging es nicht nur darum, das Einzelschicksal im Blick zu behalten, sondern den Verein, die Sängerinnen und Sänger durch diese Zeit zu begleiten.
Vom analogen zum digitalen zurück zum analogen
Für Anne-Regina Sieber und ihren Chor waren digitale Proben von Beginn an keine wirkliche Alternative zum gemeinsamen Singen. Daher suchte sie auch sofort nach regelkonformen Lösungen, um so schnell wie möglich wieder eine Art Probenbetrieb aufnehmen zu können – mir hohem Aufwand, wie die Chorleiterin berichtet: Ihr Vorschlag per E-Mail war es, die interessierten Personen in drei Gruppen à vier Sänger aufzuteilen und in einer Art Sängerstammtisch in ihrem Garten eine Singprobe von je 1,5 Stunden abzuhalten. So trafen sich am 20. Mai insgesamt 12 Sängerinnen und Sänger im Garten der Chorleiterin. Nach dem Erfolg der ersten Probe wanderte die private Gartenchorprobe im Anschluss durch die Gärten der Vereinsmitglieder, immer auf die aktuellen Bestimmungen angepasst. „Das alles hat die soziale Verbundenheit im Verein gestärkt, man hat mehr über die Sänger gelernt, wenn man eben auch mal beiihnen zu Hause ist“, freut sich Sieber und ergänzt „Das Verständnis füreinander wächst. Auch die Partner haben sich Mühe gegeben, man hat sich von einer ganz anderen Seite kennengelernt und waren überall herzlich willkommen.“ „Viele haben gedacht, ich habe Urlaub“, lacht Jörg Thum. Zu Beginn der Pandemie war dem Berufsmusiker allerdings wenig zum Lachen zumute. „Chorleitung ist mein Job, an dem ich hänge, von dem ich abhänge“, gibt er zu Bedenken. Daher war für ihn schnell klar, dass er für sich und für seine Chöre eine effektive und zweckdienliche Lösung für Proben finden muss: „In der ersten Woche sind alle Proben ausgefallen. Danach ist keine einzige Probe ausgefallen“, erklärt er auch ein bisschen stolz. Thum hatte dabei aber mit Problemen zu kämpfen, wie sie viele seiner Kolleginnen und Kollegen ereilt haben. Bis zum Shutdown hatte er erst ein einziges Mal an einer virtuellen Sitzung teilgenommen – und das nicht als Chorleiter und nicht musikalisch. „Ich finde, es ist eine dramatische Situation, aber ich bin niemand, der den Kopf in den Sand steckt. Das entspricht nicht meinem Naturell. ´Das geht nicht´ hat mich schon immer motiviert, es dennoch zu probieren.“
Andreas Schulz ist nicht nur der Musikdirektor der Chorjugend im Schwäbischen Chorverband, er ist Chorleiter und Musiker aus Passion. Er gehörte zu den ersten, die die digitalen Möglichkeiten ausgelotet haben und durch virtuelle Angebote ein bisschen Normalität im Probenbetrieb gewährleisten wollten. „Es gab Mails und wir haben uns über Zoom getroffen, wichtig war, alles fand zu den gleichen Zeiten wie analog statt“, erklärt er seine ersten Erfahrungen.
Für Jörg Thum und Andreas Schulz bedeutete die neue Situation lernen – viel lernen, ausprobieren, verwerfen und noch einmal von vorne. Zum Teil haben sich die Kollegen untereinander geholfen, aber letztlich musste jeder seinen eigenen Weg für jeden einzelnen Chor finden. „Man arrangiert sich damit“, erklärt Thum. Eine virtuelle Chorprobe zu leiten, bei der man nur bedingt ein direktes akustisches Feedback bekommt, hat seine eigenen Tücken. Nicht zu vergleichen mit dem gemeinschaftlichen analogen Erlebnis einer Chorprobe. „Es gibt Aspekte der Chorarbeit, die man digital nicht übermitteln kann, die aber wichtig sind. Als Beispiel: Gemeinsames Atmen, sowas muss zusammen im Chor unterschwellig geschehen“, sagt Schulz. Für Anne-Regina Sieber kam eine digitale Probe nicht in Frage. „Virtuelle Proben haben ein unwahrscheinliches Manko. Kein Chorklang. Mit einem Laienchor virtuell zu proben ist unmöglich.“ Jörg Thum und seine Ensembles haben sich im Laufe der Zeit gut an die neuen Bedingungen angepasst. „Einmal ist es mir passiert, dass ich bei einer Zoom-Chorprobe gesagt habe: Das habt ihr jetzt gut gesungen! Bis mir auffiel, dass ich sie ja eigentlich gar nicht hören konnte.“ Der Mensch gewöhnt sich eben manchmal schnell. Dennoch: „Es hat mir extrem gefehlt, meinen Chor zu hören. Ich habe da echt gelitten“, beschreibt Jörg Thum seine persönliche Erfahrung.
Digitale Proben: Für viele Chöre und Chorleiter kein reines Vergnügen, aber eine Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben. „Als der Shutdown kam, musste ich schnell etwas finden, damit Chor weiterhin stattfinden konnte: Von Mail bis Zoom-Chorprobe. Es war wichtig, schnell zu reagieren, damit man wenigstens ein bisschen Chor hatte und nicht den Kontakt verloren hat. Zum anderen war es hilfreich, in diesen Zeiten ein Stück Normalität zu haben“, erklärt Andreas Schulz. Dabei wurden auch nicht allerorts die digitalen Zusammentreffen nur musikalisch genutzt. Mancher Verein wurde in diesen Zeiten kreativ, traf sich zum gemeinsamen Umtrunk oder veranstaltete einen kleinen Quizabend. Das Wichtigste: sich nicht aus den Augen verlieren, aktiv bleiben, weitermachen.
Normalität und Gemeinschaft
„Wie wichtig einem etwas ist, merkt man erst, wenn man es nicht mehr hat“, sagt Anne-Regina Sieber fast beiläufig. Ein Satz, der seit März sicherlich zu vielen Bereichen des Lebens passt. Fast alles Gewohnte musste neu gedacht werden, weniges war selbstverständlich – auch soziale Kontakte. Welche bedeutende Rolle hier bisweilen Vereine einnehmen, ist im Alltag oft nicht zu erkennen. Ein Gesangverein ist mehr als nur musikalische Arbeit: „Zwischenmenschliche Interaktion ist wichtig. Das habe ich immer mehr gemerkt. Du gehst aus verschiedenen Gründen zur Chorprobe. Wenn man den Chor nur auf das Singen des Einzelnen reduziert, stellt das höchstens ein Drittel des Gesamten dar“, weiß Andreas Schulz zu berichten und Jörg Thum bestätigt: „Chorleiter sind nicht nur in der musikalischen, sondern auch in der sozialen Pflicht. Als Chorleiter hat man ganz viele Chancen, seine Sängerinnen und Sänger sowie das Vereinsgefüge zusammenzuhalten.“ Zusammen mit dem Vorstand war in dieser Zeit der Chorleiter oft Dreh- und Angelpunkt der Vereinsaktivitäten. Übefiles, Playbacks, Noten, Rundbriefe. Ein Anruf bei denen im Verein, die vielleicht die modernen digitalen Angebote nicht nutzen wollen oder können. Ein Beispiel: Während einer Videokonferenz des Schwäbischen Chorverbandes entschuldigte sich Marcel Dreiling, Chorleiter und Musikdirektor des Verbandes einmal kurz, weil er ein selbstgebackenes Zwiebelbrot aus dem Ofen holen musste. Nicht für sich, sondern er hatte es für einen Sänger in seinem Chor gebacken, dem durch den Ausfall der Chorproben quasi alle sozialen Kontakte weggebrochen waren. Auch das ist Chorleben, auch das war die Corona-Pandemie.
Sie scharren mit den Hufen und stehen in den Startlöchern
Anfang Juni 2020 kam eine kleine Erleichterung für Vereine: Proben waren nicht mehr per se verboten, sondern unter bestimmten Bedingungen möglich. „Das erste Treffen war Himmel und Hölle zugleich“, erinnert sich Jörg Thum. Um genug Platz für den Chor zu haben, fand die Probe nicht nur mit sehr großen Abständen, sondern zusätzlich noch in einer Hybrid-Sitzung statt. Die eine Hälfte des Chores nahm Aufstellung in einem Parkhaus, die andere Hälfte war vom heimischen PC zugeschaltet. In der nächsten Woche wurde gewechselt. „Ich bin ein Hardcore-Chorleiter, was Abstände angeht“, sagt Thum über sich selbst. Daher war gleich klar: Analoge Proben nur nach einem klaren Hygienekonzept mit maximalem Abstand. Dem geschuldet war er nach der ersten halbanalogen Probe auch geschafft. Die Ausbreitung der Gruppe, der Hall der ungewohnten Lokalität, die technische Herausforderung alle anderen an den PCs zu erreichen – eine Aufgabe, die er nur durch die Unterstützung vieler Helfer schaffen konnte. Nach und nach konnte die Hybridsitzung dann auch zu einer vollständigen Chorprobe werden, zu der alle anwesend sein durften. Auch Andreas Schulz fing sobald es möglich war wieder an, analog und unter Berücksichtigung aller Hygienemaßnahmen zu proben. Die Halle stellte die Gemeinde zur Verfügung. Eine neue Situation auch für den erfahrenen Chorleiter: „Durch die großen Abstände singt jeder Sänger mehr für sich selbst. Man ist relativ selbstverantwortlich. Das ist anstrengender für die Sängerinnen und Sänger, hat aber auch den Vorteil, dass der Einzelne mehr gefördert und gefordert werden. Man hört sich selbst besser. Nachteil daran: Durch den Abstand ist es rhythmisch ganz schwer zusammen zu kriegen, dafür kann man klanglich dank der Überakustik interessant arbeiten.“ Auch Anne-Regina Sieber hat die Gartenchorproben immer weiter geöffnet. „Ich kenne meine Sängerinnen und Sänger gut, also wusste ich, wen im Register ich unterstützen muss“, erklärt sie. Eine fehlende Stimme übernahm sie dabei auch einfach mal selbst.
Ungewohnte Herausforderung für Vereine
„Wir haben viel aus all dem gelernt“, sagt Jörg Thum nachdenklich. „Es hat den Sängerinnen und Sängern viel Geduld abverlangt“. Wie geht man damit um, wenn man als Chor wichtige Ziele, wie den nächsten Auftritt verliert? Wie hält man die Motivation hoch, Sängerinnen und Sängerinnen bei der Stange? „Die Herausforderung war, dass wir trotz des Nichts-tun-Könnens etwas machen wollten“, sagt Thum. Also war Kreativität gefordert. „Man kann den Chor auf viele Etappenziele motivieren und so den Zusammenhang festigen. Die verpassten Konzerte tun aber schon weh. Wir haben versucht, nicht so ganz ins Tal zu fallen und durch neue Ideen nach oben zu gehen“, erklärt der Chorleiter seinen Ansatz. Bereits vor der Pandemie hatte man sich bei seinem Verein, den Abendsternen Ludwigsburg, allerdings schon Gedanken über neue Formate für Konzerte gemacht. Jetzt ein wichtiger Innovationsvorsprung: „Wir haben uns schon vor Corona mit Alternativprogrammen auseinandergesetzt. Wir wollten singen, wo man eventuell auch mal nicht singt. Wir hatten viele Ideen diesbezüglich schon in der Schublade. Man muss Räume neu finden“, erklärt er. Auch für seinen Kollegen Andreas Schulz war weitermachen das Wichtigste – mit Erfolg: „Es gab nie keine Ziele in meinem Verein. Ich persönlich kann mir Chorarbeit ohne Ziele nicht vorstellen. Nur vor sich hinproben funktioniert nicht.“ Der Aufwand früh, aber unter strengen Auflagen wieder zu starten, hat sich für beide Chorleiter gelohnt. In beiden Vereinen gab es bereits Anfragen von Nicht-Vereinsmitgliedern, die gesehen haben, dass hier etwas geht, und mitmachen wollen: Mitgliedergewinnung mal anders. „Es zeigt mir, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, freut sich Thum.
Und wie geht es weiter?
„Ich weiß nicht ob wir am Volkstrauertag oder Weihnachtsmarkt singen können. Für mich ist aber klar, dass wir wieder ein Projekt machen werden“, sagt Anne-Regina Sieber. Für sie steht fest, dass es weitergehen muss. „Es ist grausam, man darf mit den Kindern nicht singen, mit den Alten nicht singen“, bemerkt sie weiter. Eine solche Situation sei sehr schwierig, vor allem beim Gedanken daran, dass Mannschaftssport in der Halle wieder erlaubt ist. Doch die Oberschwäbin bleibt weiter am Ball und wird weiter nach Möglichkeiten Ausschau halten, ihre Proben- und Konzerttätigkeit auszuweiten. Ein kleines Schmankerl haben sie und ihr Liederkranz Leutkirch sich gleich zu Beginn der Pandemie ausgedacht und nun begleitet eine kleine Corona-Umdichtung des Klassikers „Horch was kommt von draußen rein“ den Chor nun schon über die ganze Zeit. „Sie freuen sich, wenn sie dieses Lied im vierstimmigen Chorsatz singen können“, lacht Sieber.
Für die Chöre von Andreas Schulz wird es vorerst keine großen Konzerte geben. „Ich kann mir Singen mit Maske nicht vorstellen. Ich gehe in der Planung so vor, dass ich möglichst flexibel plane. Ich würde kein großes Oratorium planen, eher kleinere Sachen, die im Zweifel schnell abzusagen sind.“ Das sei aber nun eben auch in der Natur der Dinge. Für große Inszenierungen braucht man Vorlaufzeit in Organisation und Proben. Solche Projekte kommen also im Moment gar nicht in Frage.
Jörg Thum ist bereits an der Täte. Er veranstaltet kleine Konzerte und probt bei jeder Wetterlage in ausreichend großen Räumen, in seinem Fall zumeist Parkhäusern. Es gibt eben immer einen Weg zu singen – nur sicher muss es eben auch sein.