Die älteste künstlerische Wiedergabe des Gebäudes und seiner Umgebung stammt von 1882. In jenem Jahr wurde dort – unter Mithilfe des Schwäbischen Chorverbands – eine Gedenktafel für den Komponisten angebracht. Um die feierliche Enthüllung, bei der mehrere Männergesangvereine auftraten, für die Nachwelt festzuhalten, fertigte damals ein Waiblinger Maler von dem Festakt auf dem Vorplatz des Hauses eine kleine Gouache an (siehe SINGEN Heft 12/2013, S.21).
Die beiden jüngsten Darstellungen des Platzes mit dem Silcherhaus sind 2006 und 2018 entstanden. Auf ihnen erkennt man, dass in den vergangenen 140 Jahren manches gleichgeblieben ist, anderes sich aber auch verändert hat, nicht nur im Ortsbild, auch im Chorwesen. So ist auf den jüngsten Bildern wie auf dem Gemälde von 1882 zwar ein Chor zu sehen, allerdings stehen da nicht mehr allein Männer in schwarzem Frack und Zylinder, jetzt singt hier ein gemischter Chor mit Frauen in der ersten Reihe.
Wer hat das Silcher-Städtchen künstlerisch verewigt?
Der Schöpfer dieser neuen Arbeiten ist ebenfalls ein aus der Region stammender Schwabe, er lebt und arbeitet aber schon seit mehr als einem dreiviertel Jahrhundert in New York. Sein Name: Thomas Ferdinand Naegele.
Naegeles Schnait-Motive zeigen beide Male die gleiche Ansicht, aber zu unterschiedlichen Jahreszeiten, als freundliche Herbstszene und als verschneite Winterlandschaft. Entstanden sind die ansprechenden Bilder als „Jahrgangskarten“, mit denen Thomas F. Naegele die nach seinem Vater benannte „Reinhold-Naegele-Realschule“ in Weinstadt 35 Jahre lang beliefert und unterstützt hat. Die Schnaiter Winterszene war als Jahrgangskarte 2018-19 der wohl endgültig letzte Beitrag.
Reinhold Naegele, 1884 in Murrhardt geboren, war ein Kunstmaler und Grafiker, der zunächst vor allem in Stuttgart tätig war; dort hat er 1923 auch die „Stuttgarter Sezession“, eine moderne Künstlervereinigung, mitbegründet. Nach der Machtübernahme erschwertem ihm die Nazis aber zunehmend das Leben. 1937 bekam er schließlich Arbeitsverbot, da er sich weigerte, seine Frau, die Ärztin Alice Nördlinger, zu verstoßen. Alice war Jüdin und durfte bereits seit 1933 nicht mehr praktizieren.
Da das Ehepaar drei Kinder zu versorgen hatte, darunter den 1924 geborenen Thomas Ferdinand, emigrierten die Naegeles schließlich 1939 mit Hilfe der beiden Kunstmäzene Hugo Borst und Robert Bosch über Paris und London nach New York. 1963, nach dem Tod seiner Frau, kehrte Reinhold wieder nach Stuttgart zurück. Dort ist er 1972 gestorben.
Thomas Ferdinand dagegen blieb in New York. Er hat sich dort als ein längst hochgeschätzter Grafiker und als mehrfach ausgezeichneter Kunstpädagoge fest etabliert.
Aus dem Land, aber nicht aus den Gedanken
Seine alte Heimat, vor allem Murrhardt, besuchte Thomas nach Kriegsende oft und gern, zuletzt 2014. Bei einem dieser Aufenthalte hat er auch das Silcher-Museum besichtigt, ihm einen großen Druck des oben erwähnten Herbstbildes als Geschenk mitgebracht und sich mit schönster kalligraphischer Schrift im Gästebuch verewigt:
„Auf den Spuren des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der Großväter und Urgroßeltern – eine Wohltat und Anregung und Anlaß zu Fragen wie die nächsten Generationen solche Erinnerungen mit ihren Aufgaben verarbeiten mögen … Thomas Ferdinand Naegele / NEW YORK / 5. V. 06“
Da der historisch sehr interessierte Künstler in seinem Eintrag auf die „Zeit der Großväter und Urgroßeltern“ anspielt, soll hier noch ein kleiner Streifblick auf die übrige Geschichte der Murrhardter Familie Naegele geworfen werden. Sie hat nämlich noch weitere interessante Persönlichkeiten hervorgebracht. Da ist zuerst der Schlossermeister Ferdinand Naegele (1808-1879) zu nennen, der Urgroßvater von Thomas Ferdinand. Er gehörte 1848 zu den wenigen Handwerkern, die neben den vielen Akademikern als Abgeordnete in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt wurden. Als Wahlhilfe für ihn hatte Justinus Kerner damals die Verse geschmiedet:
„Nicht Doktors, nicht gelehrte Geister,
wir wählen einen Schlossermeister!
Er schwingt die Hämmer klein und groß,
schlag’ Deutschland seine Fesseln los.“
Ferdinand Naegele war nicht nur ein liberaler Politiker, er war auch Sänger. Als 21-jähriger hat er 1829 den Murrhardter Liederkranz mitgegründet und lange als Vorstand mit geführt. In diesem Verein, der auch eine Frauenabteilung hatte, war liberal-demokratisches Gedankengut eine tragende Grundlage; der Satzung nach konnte jede „gut prädicirte Person, weß Standes sie sey“, die Aufnahme beantragen.
Ferdinands Wohnhaus, das „Naegelehaus“ aus der Zeit um 1810, ist in Murrhardt heute ein bekanntes Ausflugsziel. An diesem Gebäude erinnert eine Tafel noch an ein weiteres namhaftes Familienmitglied, an Eugen Naegele (1856-1937). Dieser Sohn Ferdinands ist u.a. bekannt geworden als Mitbegründer und Vorstand des Schwäbischen Albvereins. Auch er war, wie sein Vater, der Sängerschaft sehr verbunden. Als Student in Tübingen (1874-78) hat Eugen die einst von Silcher gegründete Akademische Liedertafel geleitet und deren erste Chronik verfasst.
Alles gute zum Geburtstag
Diesen Monat feiert Thomas F. Naegele in New York seinen 96. Geburtstag. SINGEN gratuliert ihm dazu herzlich und wünscht ihm alles Gute!