Seit gut anderthalb Jahrtausenden gedenkt die Christenheit am 11. November des Heiligen Martin. Der gebürtige Ungar lebte zunächst als Offizier des römischen Heeres in Gallien (also Frankreich). Nach seiner Bekehrung zum Christentum wirkte er zuletzt als Bischof in Tours. Dort ist er Anfang November des Jahres 397 gestorben und am 11. November beigesetzt worden.
Martini – ein Stichtag mit viel Brauchtum
Mit dem Gedenktag des Heiligen, der am Ende des bäuerlichen Arbeitsjahres liegt, war seit dem Mittelalter mehrerlei Brauchtum verbunden. So galt Martini als Stichtag, an dem die Bauern ihren Jahreszins in Form von Naturalien (wozu die Martinsgänse gehörten) abzuliefern hatten. An diesem Tag wurden auch die Knechte und Mägde mit ihrem Jahreslohn, kleinen Geschenken und einem reichhaltigen Essen in die Winterpause entlassen. Und jetzt, wo die letzte Ernte eingebracht war, zogen die Kinder armer Familien von Tür zu Tür, um singend kleine Leckereien zu sammeln. Da es im November schon früh dunkel wird, führten die Jugendlichen bei ihren Heischegängen natürlich auch Laternen mit sich. Hier liegt der Ursprung der späteren Laternenzüge mit Gesang am Martinstag.
Mit Luther bekam das Martini-Singen dann im 16. Jahrhundert eine neue Facette. Der am 10. November 1483 geborene Reformator verdankt seinen Vornamen dem Martinstag, denn er wurde am 11. November getauft, und zwar auf den Namen des Tagesheiligen. Als junger Schüler hat Luther übrigens selbst am Martinstag als Kurrendesänger Almosen erbettelt. Der Reformator hat später den Heiligenkult allerdings generell verworfen. So kommt es, dass seine Glaubensgenossen in der Folgezeit ihr eigenes, evangelisches „Martini“ feiern, nämlich am Geburtstag Luthers.
Beim evangelischen „Martinisingen“ sind natürlich keine Lieder über den Heiligen zu hören. Auf dem Programm stehen hier vielmehr Luthers eigene Werke sowie jüngere Schöpfungen zum Lob des Reformators, z. B. das Luther-Laternen-Lied:
Martinus Luther war ein Christ
ein glaubensstarker Mann.
Weil heute sein Geburtstag ist,
zünd ich ein Lichtlein an.“
Dagegen ist das katholische, besonders im Rheinland gepflegte „Martinssingen“ reich an Liedern, die sich mit dem Heiligen beschäftigen. Erinnert sei nur an das bekannteste Werk aus dieser Gruppe:
Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind,
sein Ross, das trug ihn fort geschwind.
Sankt Martin ritt mit leichtem Mut,
Sein Mantel deckt ihn warm und gut.
Vom unkontrollierten Brauch zum organisierten Event
Die meisten Martinslieder sind im 19. und 20. Jahrhundert entstanden – wie überhaupt die heutige Gestaltung des Festes aus dieser Zeit herrührt: die Kinderzüge mit selbstgebastelten Laternen, das Auf-
treten eines römischen Soldaten zu Pferd, die inszenierte Mantelteilung und das abschließende Verteilen von Süßigkeiten an die Kinder. Die Organisatoren dieser „Events“ waren Geistliche, Schullehrer und bürgerliche Volkserzieher. Sie wollten so das oft ruppige Treiben der Jugendlichen am Martinstag in kontrollierte Bahnen lenken.
Vielerorts sind seither eigene Martinsvereine ins Leben gerufen worden, die den Festverlauf, das Sammeln von Gaben und deren spätere Verteilung organisieren. Aber trotz der vielfältigen Bemühungen ist das Martinssingen inzwischen mancherorts im Rückgang begriffen. Das hat unter anderem
mit der demographischen Entwicklung und mit sich ändernden Lebensgewohnheiten zu tun. So sind z. B. heute überfürsorgliche „Helikopter-Eltern“ oft allein mit ihren kleinen Laternenträgern unterwegs. Das Heischen wiederum wird von Vielen als unzeitgemäß empfunden. Für die meisten Kinder sind Leckereien heutzutage sowieso etwas Alltägliches.
Ein weiterer Grund für den Rückgang dürfte in der zunehmenden Distanz unserer Gesellschaft zum Religiösen liegen. Diese Distanzierung spiegelt sich u.a. auch darin wider, dass die Geschichte Martins heute in Erzählungen für Kinder oft auf das soziale Moment der Mantelteilung reduziert wird, der christlich-religiöse Aspekt dagegen, z. B. das Bekehrungserlebnis, wird vielfach weggelassen.
Von der Martins-Cappa zur Musik-Kapelle
Zum Schluss noch eine kleine Anmerkung: Das Musikleben verdankt Martins Mantelteilung nicht nur diverse Kinderlieder, sondern auch eine allseits geläufige Bezeichnung für Musikgruppen: Kapelle. Die eine Hälfte seiner Cappa wurde nämlich als Reliquie in einem Kirchlein aufbewahrt, das seinem Inhalt nach Capella genannt wurde. Solche Kapellen hat man später als Nebenräume an vielen Kirchen angebracht, und weil in diesen Kapellen während der Gottesdienste oft die Musiker untergebracht waren, ging der Name schließlich auch auf sie über. Der (italienische) Begriff „A Cappella“ geht letztlich ebenfalls darauf zurück – aber das ist eine andere Geschichte.
Durch die Straßen auf und nieder,
leuchten die Laternen wieder:
Rote, gelbe, grüne, blaue,
lieber Martin komm und schaue!