Ein Erfahrungsbericht über die Möglichkeit des virtuellen Probens.
Wir schreiben Januar 2021. Heute ist es gut 10 Monate her, dass wir nicht mehr unbeschwert miteinander singen können – außer einer kurzen Zeit im Sommer 2020, in der wir uns draußen oder drinnen, in Schichten und mit Maske haben treffen können. Heute ist noch überhaupt nicht klar, wann wir uns in gewohnter Chorstärke in unserem manchmal viel zu kleinen Proberaum treffen dürfen – und sollten. Ich schreibe dies, weil ich nicht weiß, wann Du diesen Artikel zur Hand nimmst und ob dann die Welt schon wieder ganz anders aussieht. Heute ist es so, dass Choriosity – mein Pop-Chor aus Ulm – seit November 2020 tatsächlich online miteinander singt und probt. Gleichzeitig und gemeinsam. Und ja, wir können wirklich musikalisch arbeiten. Und ja, es braucht viel Motivation und Durchhaltevermögen.
Bei Choriosity haben wir den „Luxus“, dass bei über 100 Sänger*innen auch einige dabei sind, die technisch sehr affin sind und/oder dies sogar beruflich machen. Das macht es ungleich einfacher, eine Projektgruppe ins Leben zu rufen mit der Aufgabe: Sucht ein Tool, dass uns gemeinsames Proben online ermöglicht und dabei auch für die anderen 95% der Sänger*innen (die eben technisch nicht so versiert sind) anwendbar ist. Ohne jetzt auf die Vor- und Nachteile der einzelnen getesteten Programme einzugehen (hier verweise ich gern auf den Artikel von Julia Cramer aus der Chorzeit vom Oktober 2020: „Digital in den Winter“, haben wir uns nach einigem Testen für Jamulus entschieden. Am Ende des Artikels stelle ich Ihnen ein paar hilfreiche Dokumentenlinks zusammen, die das technische „Wie“ von Jamulus erklären und möchte vielmehr einen Einblick zu geben, wie bei Choriosity die Proben mit Jamulus ablaufen.
Was ist Jamulus
Jamulus ist ein kostenfreies Programm, dass die Latenz (oder auch den „Ping“, also den Zeitraum, den ein kleines Datenpaket von Ihrem Gerät zu einem Server im Internet und zu Ihrem Gerät zurück benötigt) speziell für Audiozwecke reduziert. Damit ist es also möglich, Stimmen oder Instrumente, die gleichzeitig erklingen, auch fast zeitgleich hören. Da es keine Kameraanbindung anbietet, ist es nicht möglich, sich beim Proben zu sehen. Um das dennoch zu ermöglichen starte ich parallel eine Videokonferenz (auf einem separaten Computer – wir nutzen hierfür Zoom), sodass die Choristen mich sehen. Die Sänger*innen haben (aus Latenzgründen) ihre Videos meist deaktiviert.
Die Latenz ist abhängig von der technischen Ausstattung des Einzelnen, dem Abstand zueinander (und damit auch zu dem Server, über den das Programm ins Internet eingebunden ist) und der Geschwindigkeit des Internetanbieters. Es gibt also viele Faktoren, die das gemeinsame Singen beeinflussen.
Wie funktioniert das Proben mit Jamulus?
An meinem Arbeitsplatz habe ich ein E-Piano, ein Mikrofon (ich nutze ein AKG C-1000) und die Audio-Kanäle des Computers über ein externes Audio-Interface eingebunden. So kann ich neben Gesang und Klavier auch Musikdateien abspielen und für alle hörbar machen. Insbesondere für das Abspielen der Chorpartituren ist dies wichtig – dazu aber später mehr. Ohne visuelles Feedback der Chorsänger*innen bleibt bei Jamulus ausschließlich der Klang, um an einem Stück zu arbeiten. Jetzt werden viele sicher sagen: Na klar, dass ist doch sonst auch so! Nun, ich kann nach drei Monaten Erfahrung voller Demut sagen, dass Jamulus mir sehr deutlich gemacht hat, dass ich etwa 30% mit dem Gehör, 30% mit dem Auge und 100% mit dem Herzen den Chor leite – und was dann mathematisch noch übrig bleibt, nach Bedarf auf diese drei Entitäten verteile. Jamulus zwingt mich jedoch, mit 100% meiner Aufmerksamkeit zuzuhören. Der Chorklang ist dabei sehr von meinem persönlichen Mix abhängig, es gibt aber keine Richtung, aus der der Klang kommt. Zudem klingt alles etwa eine Spur besser, als das gute alte Telefon(!). Der Chorklang ist gut auszumachen, es fehlen aber Obertöne und gutes Blending muss absolut gewollt sein – es ist, wie mit dicken Handschuhen Schnürsenkel zuzubinden. Es geht, erfordert aber einiges an Konzentration. Zudem ist der individuelle Klang sehr von der Ausstattung, insbesondere vom Mikrofon des Sängers oder Sängerin, abhängig.
Um die Partituren für alle hörbar zu machen, verwenden wir im Chor bereits seit einigen Jahren eine kostenlose Software namens Musescore (www.musescore.com). Hier kann ich die Chorsätze komplett, mit Metronom, manchmal Einzelstimmen oder Stimmgruppen bis hin zu einzelnen Takten in der Schleife abspielen. Dies ist insbesondere bei Proben von Einzelstimmen hilfreich. Im Tutti lasse ich meist nur das Metronom mitlaufen.
Der persönliche Mix
Das Programm bietet jedem eine Art „Mischpult“, in dem man sich die Stimmen, die man gerne hören möchte, auch lauter oder eben leiser einstellen kann. Das ist hilfreich, wenn man z. B. seine Stimmgruppe und den Chorleiter laut hören möchte, die anderen Stimmen aber nur im Hintergrund. Auch können Sänger, die z. B. eine besonders lange Latenz oder technischen Schwierigkeiten haben und so das eigene Klangbild „stören“, leiser oder ganz ausgeblendet werden. Dies klingt etwas despektierlich – ist aber gar nicht so gemeint, denn es soll eben für jeden ein harmonischer und gut klingender Mix der Stimmen erstellt werden können. Um dies zu erreichen, wähle ich am Ende des Warm-Ups meist ein Lied, dass ohne Klavier und ohne mein Zutun gut gesungen werden kann (3 bis 4-stimmig, einsilbig oder mit wenig Text). Diese Zeit nutzt dann jeder, um einmal durch alle Stimmen im Jamulus zu hören und sich seinen Mix zu erstellen. Auch ich als Chorleiter tue dies. Jamulus speichert diesen Mix auch für die nächste Probe ab.
Der ultimative Kick
Meine Sänger*innen bestehen darauf, als Tempo-Referenz ein Metronom im Hintergrund hören zu können. Bei Latenzzeiten um etwa 50ms (das entspricht über den Daumen etwa 15 Meter Entfernung zwischen jedem Sänger und zum Chorleiter) hat sich dies bei uns als große Hilfe herausgestellt – und als große Herausforderung. Jeder, der schon mal versucht hat, zum Klick zu singen, erinnert sich an die ersten Male und wie sehr es diszipliniert. Wir sind ein junger, dynamischer und organisierter – rhythmisch aber nicht immer soooo disziplinierter Chor. Die Lernkurve ist mit Jamulus also recht steil. Unsere Erfahrung zeigt, dass Proben von Stücken bis etwa Tempo 80-100 möglich sind ohne zu viel Frustration entstehen zu lassen, weil nicht alle gleichzeitig im Ziel ankommen.
Fazit
Ich probe sehr gerne mit Jamulus – denn es ermöglicht sowohl einen Chorklang, als auch ein Chorgefühl. Wir arbeiten nun deutlich konzentrierter an Stücken, es ist auch möglich an Klangfarbe, Intonation und Ausdruck zu arbeiten. Bei rhythmischen Feinheiten („die vorgezogene punktierte 16-tel Pause darf noch kürzer sein und früher einsetzen…“) müssen wir latenzbedingt Abstriche machen. Mein Aufwand in der Vorbereitung (Chorsätze digitalisieren, für die Online-Proben vorbereiten etc.) hat sich jedoch etwa verdreifacht.
Eine gute technische Begleitung ist für die Chormitglieder wichtig: Wir bieten unseren Sänger*innen neben einer Schritt-für-Schritt-Anleitung auch direkte Hilfe durch technisch versierte Sänger*innen an. Diese stellen meist über einen Remote-Zugriff oder telefonisch das nötige Wissen zur Verfügung. Dennoch dauert es bei einigen auch mal zwei Proben, bis alles richtig funktioniert. Trotz (und auch wegen) dieses Angebotes proben wir mit etwa 20 Personen jede Woche – es gibt also einen großen Teil der Sänger*innen, denen auch diese Hürde noch zu hoch ist.
Noch ein Wort zur technischen Ausstattung der Sänger*innen: In den vielen Erfahrungsberichten lese ich leider immer wieder von Idealaustattungen: Kabelgebundene Anbindung an den Router, Audio-Interface, Kabelgebundene Kopfhörer und teure Mikrofone – dann noch am besten den Rest der Familie während der Zeit aus dem Internet schmeißen und das W-LAN ausmachen… Das hat bei meinen Sänger*innen zu Verunsicherungen geführt. Fakt ist, dass es zum Mitsingen einen Kopfhörer und ein Mikrofon braucht. Das kann auch ein Headset sein, dass beides vereint. Es ist wie beim Sport: Damit es Spaß macht, braucht man das richtige Schuhwerk, gute Kleidung und evtl. noch ein Sportgerät. Das heißt:
So, wie man in Sandalen und Winterjacke beim Volleyball nur wenig Freude empfinden wird, ist auch Jamulus mit dem Laptop-Lautsprecher, -Mikrofon und dem Handy-Internet eben überwiegend Spaßbefreit. Davon ausgehend muss sich im Moment jeder bei Choriosity überlegen: Wenn ich mit Spaß mitsingen will, muss ich ein paar Euro in meine Mitsing-Ausstattung investieren und die mir bestmöglichen Bedingungen schaffen – dann können wir auch online wieder mit Freude gemeinsam singen.
PS: Komplett in dieser Art des Probens ist unser Weihnachts-Video zu „Es kommt ein Schiff geladen“ (Arr. Oliver Gies) entstanden, zu finden auf unserem YouTube-Channel: youtube.com/choriosity
Stimmen aus dem Chor
„Sehr hilfreich mit dem richtigen Equipment, hatte nach langer Zeit mal wieder das Gefühl von Chor, was wirklich schön war!“ Stefanie
„Also am Anfang muss man sich echt überwinden und es dauert bis die Technik richtig eingestellt und Jamulus fürs Mitproben funktionsfähig ist. Aber dann ist es echt eine Alternative zum live Proben, man hat zumindest ein bisschen das Gefühl, in einem Chor zu stehen, es macht richtig Spaß!“ Anna