Eine Einstimmung auf das Ende der Fastenzeit.
Der März ist nach alter kirchlicher Tradition Teil der vorösterlichen Fastenzeit, die wiederum der Passionswoche vorangeht. In dieser eher besinnlichen Zeit finden wir unter den Werbeplakaten für Musikveranstaltungen vor allem klassische Werke ernsthaften Charakters.
Zu den Klassikern in der vorösterlichen Zeit gehören Passionsoratorien wie „Der Tod Jesu“ von Carl Heinrich Graun (1755, Libretto von Karl Ramler), die „Brockes-Passion“ von Georg Friedrich Händel (1716, Libretto von Barthold Brockes), oder – aus der katholischen Kirchenmusik – z. B. Pergolesis „Stabat mater“ (1736). Spitzenrenner aber sind in dieser Zeit die Passionen Johann Sebastian Bachs: die Johannes-Passion (Uraufführung 17. April 1724), die Matthäus-Passion (11. April 1727), und die Markus-Passion (23. März 1731). Diese Werke hat der Komponist und Thomaskantor für die Nikolai- bzw. Thomaskirche in Leipzig angefertigt, wo sie Bestandteile von bis zu vier Stunden dauernden Gottesdiensten waren.
Mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion, die „zu den großen Pfeilern der deutschsprachigen Chortradition“ (Löser) gehört, hat Felix Mendelssohn Bartholdy am 11. März 1827 bekanntlich die „Bach-Renaissance“ seiner Zeit eingeleitet. Mendelssohn führte das Werk in einer von ihm bearbeiteten, gekürzten Version auf, und zwar als Konzertveranstaltung mit den damals üblichen Instrumenten im Saal der Singakademie in Berlin.
Historische Rekonstruktion
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwachte ein gewisses Interesse daran, die Werke der klassischen Musik, natürlich auch die Bachs, in ihrer ursprünglichen Aufführungsweise wieder erlebbar zu machen, z. B. durch den Einsatz historischer Instrumente, die Berücksichtigung der Aufführungsorte etc.; erinnert sei in diesem Zusammenhang an Hans Grischkat (1903-77), den Gründer des Reutlinger (später schwäbischen) Singkreises, der 1926 erstmals in Württemberg die Johannespassion ohne Kürzungen und mit alten Instrumenten in Kirchenkonzerten zur Aufführung brachte.
So interessant diese Rekonstruktionen auch sind, so haben sie doch ihre Grenzen, da wir über die Details der Aufführungspraxis bei Bach nicht immer so genau informiert sind. Wir wissen z. B. nicht genau, wo er seinen Chor platziert hatte, aber es kann gut sein, dass seine Sänger nicht hinter, sondern vor dem Orchester standen; so hatte es u. a. 1739 der Musiktheoretiker Johann Mattheson in seiner Schrift „Der vollkommene Capellmeister“ gefordert. Und zur Stärke der Chöre: Bach hat in seinem „Entwurf einer wohlbestallten Kirchen Music“ 1730 erklärt, dass jeder Chor drei oder besser vier Sänger pro Part haben müsse; demnach ergäbe sich eine Chorstärke von 12 bis 16 Sängern.“ (S. Ravens)
Visuelle Inszenierung
Dieser historisch rekonstruierenden Aufführungspraxis der Bach´schen Passionen steht seit einigen Jahren eine ganz andere künstlerische Praxis gegenüber, die bei den Anhängern der ersteren nicht unbedingt auf Gefallen stößt: Die Praxis der szenischen Aufführung der Passionen als „Sakrales Theater“. Den Anfang machte hier John Neumeier, der die Matthäus-Passion 1980-81 in Hamburg mit einer richtungsweisenden Choreographie als Ballett inszenierte.
2010 dann der nächste Traditionsbruch durch die Aufsehen erregende szenische Umsetzungen der Matthäus-Passion durch Peter Sellars bei den Salzburger Festspielen, das gleiche 2014 mit der irritierenden Aufführung der Johannes-Passion in Berlin (Berliner Philharmoniker und Rundfunkchor unter Sir Simon Rattle). Hier hat auch der Chor mit seinen darstellerischen Leistungen aus der musikalischen Passion ein intensives visuelles Erlebnis gemacht. Sellers selbst möchte seine Inszenierungen übrigens nicht als Theater verstanden wissen, sondern als „ein Gebet, eine Meditation“.
Grenzüberschreitungen statt Erstarrung
Darf man mit Bachs Passionen, die doch „Hör“- und keine „Schaustücke“ sind, die auch keine geistlichen Opern sind, so verfahren? Was die Puristen unter den Bachverehrern stören mag, rechtfertigen andere mit dem Hinweis, dass schon Mendelssohns Aufführung der Matthäus-Passion im Konzertsaal eine interpretierende Neuaneignung des Werks war. Grenzüberschreitungen ermöglichen außerdem neue Sichtweisen auf Werke, können die Aktualität eines Werks für die Gegenwart erkennbar und erfahrbar machen. Und last but not least: die Kunst soll lebendig bleiben und nicht zu einem „kultischen Ritual“ erstarren.
Ganz neu war die Idee, Bachs Passionen zu visualisieren, übrigens nicht. Bereits 1914 hat Edward Gordon Greg eine szenische Fassung für die Bühne geplant, 1921 Ferruccio Busoni ein weitere, realisiert wurden sie aber beide nicht. 1949 hat dann der Regisseur Ernst Marischka die Matthäus-Passion verfilmt, indem er die Musik, (gespielt von den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Herbert von Karajan) mit historischen Kunstwerken illustrierte.