Wie kann eine gute Programmdramaturgie die Bühnenpräsenz unterstützen?
Einige Ideen und Beispiele aus der Praxis
Beim Thema Bühnenpräsenz denkt man vorrangig (und zurecht) an die Ausstrahlung der Sänger:innen, die optische Präsenz, die von einem Chor oder Ensemble ausgeht. Meine Erfahrung beim Zusammenstellen von Konzertprogrammen hat aber gezeigt, dass auch die Programmplanung und Konzertdramaturgie die Bühnenpräsenz beeinflusst – und dass man diesen Effekt positiv für seinen Chor nutzen kann. Im Folgenden sollen einige Ideen und Beispiele aus der Praxis aufgezeigt werden, wie man durch dramaturgische Kniffe die Bühnenpräsenz erhöhen kann.
Der Versuch einer Definition:
Bühnenpräsenz zu definieren, ist gar nicht so einfach. Schließlich geht es um eine Wechselbeziehung zwischen Chor und Publikum, manchmal zwischen einzelnen Personen. Fühle ich mich als Zuhörer:in angesprochen, beeindruckt, überzeugt, gemeint, ja berührt, so schreibe ich dem Chor eine hohe Präsenz auf der Bühne zu. „Der Funke ist übergesprungen“, notiert die Presse dann im besten Falle. Ob und wie das aber gelingt, ist subjektiv und situativ verschieden, denn erzwingen lässt sich Präsenz nicht. Bühnenpräsenz ist also letztlich etwas, das dem „Sender“ Chor vonseiten des „Empfängers“ Publikum zugeschrieben wird, falls Zuhörer:innen den Sänger:innen hohe Aufmerksamkeit schenken. Diese Aufmerksamkeit wird geschenkt und kann eben nicht verordnet werden. Wohl aber können wir Chorleiter:innen überlegen, wie wir durch stringente Dramaturgie günstige Bedingungen schaffen, dass „der Funke überspringen“ kann und der Chor auf der Bühne überzeugt.
Im engeren Sinne haben die Stückauswahl und die konkrete Reihenfolge der Stücke eine große Wirkung auf die wahrgenommene Präsenz des Chores.
Worauf kommt es wirklich an??
Qualität setzt sich durch: Ein womöglich banaler Ratschlag, doch eine Darbietung von hoher Qualität begeistert eher als Mittelmaß. Das heißt: Lieber ein Stück weniger, dafür sitzt das Programm besser. Lieber ein etwas leichteres Stück, dafür auf den Punkt einstudiert und gut aufgeführt. Ein sehr wirkungsvolles Mittel für mehr Bühnenpräsenz ist das Auswendigsingen. So klar und logisch das in der Theorie klingt, so viele Ausreden findet man im Probenalltag, warum man es doch „sicherheitshalber“ lieber mit Noten aufführt – hier muss ich mich eindeutig auch an die eigene Nase fassen … Daher diesen Punkt am besten schon bei der Stückauswahl im Kopf haben und Stücke wählen, die auch auswendig machbar sind. Tipp: Gerade Eröffnungsstücke, Schlussstücke und Zugaben sind auswendig sehr wirkungsvoll und stellen eine Verbindung zum Publikum her. Wechsel der Besetzungen: Vielleicht lässt sich ein Stück für reinen Frauen- oder Männerchor in ein Programm einbauen, vielleicht eines für Soli oder kleine Besetzung. Auch Instrumente können hinzutreten, um das Programm interessant zu machen.
Stilistische Vielfalt ist spannender als ein reines Mozart-Programm. Denn einem abwechslungsreichen Konzert hört man lieber zu als einem eintönigen. Manchmal ist es auch sehr reizvoll, Stilistiken bewusst zu kontrastieren, z. B. Palestrina neben Poulenc zu stellen oder Bach neben Whitacre. Man kann als Ohrenöffner auch mal ein etwas „verrücktes“ Stück in ein Programm hineinmogeln, quasi ein Stück mit „What?!-Effekt“. Allerdings sollte man darauf achten, dass das Programm einen thematischen roten Faden behält.
Stichwort roter Faden: Ein Publikum wird aufmerksamer zuhören, wenn es die innere Logik des Programms versteht. Das kann sein: ein bestimmtes Thema oder ein liturgischer Anlass, ein zentraler Text oder Gedanke, ein (Komponisten-)Jubiläum etc. Erläutert der Dirigent oder die Dirigentin an 2-3 Stellen im Programm den roten Faden, so baut sich durch die Moderation gleich auch noch eine persönliche Beziehung zum Publikum auf. Was passiert zwischen den Stücken? Leider wird allzu oft nach jedem Stück applaudiert – ich persönlich finde das eine Unart. Das mag zwar gut gemeint sein, zerstört aber die Konzertspannung bei Publikum und Ausführenden. Angemessener scheint mir der Applaus zum Ende des Programms, dann gerne umso stürmischer. Ein Publikum fühlt sich von ausdrucksstarken Stücken besonders angesprochen. Daher lohnt es sich in der Probenarbeit, in den Ausdruck zu investieren: Eine gemeinsame (innere) Haltung zu einem Stück oder zu einer Stelle entwickeln. Tipp: Dynamische Entwicklungen plastisch ausgestalten, z. B. vom wirklich leisen Piano bis zum wirklich starken Forte. Wie sind Klangfarbe und Charakter? Weich und versöhnlich oder doch hart und aggressiv? Dies herauszuarbeiten und mit Überzeugung, ja Kompromisslosigkeit darzubieten, wird die Präsenz des Chores unterstützen. Stücke mit Raumwirkungen nutzen: Ein Wechsel der Aufstellung bewirkt eine wohltuende Abwechslung für Auge und Ohr. Man könnte beispielsweise Fernchorwirkungen nutzen (Solist:in oder Ensemble in den Chorraum, auf die Empore oder hinten an die Tür stellen), Stimmen aus dem Off singen lassen oder durch bestimmte Aufstellungen die Faktur des Stücks verdeutlichen (Männer mal vorne, Solist:in in zentraler Position o. Ä.).
Im weiteren Sinne sind auch folgende Aspekte bedenkenswert:
Wenn der Dirigent oder die Dirigentin mal im Mittelgang weiter hinten oder gar von hinter dem Publikum dirigiert, dann ist der Chor klanglich und optisch voll auf das Publikum fokussiert. Achtung: Dies erfordert etwas mehr Probenzeit und geht nicht so gut für rhythmisch komplexe Stücke. Ein Konzert sollte von A bis Z eine Aufführung sein, nicht nur die einzelnen Stücke. Das heißt: keine Leerlaufzeiten entstehen lassen, keine langen Regie- oder Umbaupausen (nur im Notfall nach Ansage). Vom Auf- bis zum Abtritt sind alle Sänger:innen unter Beobachtung, sie sollten also stets „auf Sendung“ sein. Für geübtere Chöre könnte eine Variation sein, Stücke mit vokalen oder instrumentalen Improvisationen zu verbinden. Dadurch wird auch die Zeit zwischen zwei Stücken musikalisch gefüllt. Man könnte andere Sinneseindrücke in ein Konzerterlebnis einbeziehen: Düfte passend zum Programm oder dezente Bild-/Video-Einblendungen, die den gehörten Klang kontextualisieren. Sehr berührend sind die von mir so genannten „umarmenden Zugaben“: Der Chor stellt sich um das Publikum herum auf, am besten in gemischter (Quartett-) Aufstellung. Ein so gesungenes Abendlied wird seine emotionale Wirkung nicht verfehlen.