Wir müssen den Menschen, die zu uns kommen, Geschichten erzählen
Ein Auftritt ist ein Gesamtkonzept. Raum, Repertoire, Thema, … Viele Punkte tragen zum perfekten Erlebnis von Musik bei. Nikolai Ott, Stellvertretender Musikdirektor des Schwäbischen Chorverbandes und Chorleiter erklärt seine Vorstellung von gutem Repertoire und der Wichtigkeit, seine Sänger:innen im Chor nicht nur technisch sehr gut auf das Konzert vorzubereiten, sondern ihnen auch das Rüstzeug für das richtige Verständnis für Werke mitzugeben.
Welche Rolle spielt das Verstehen von Texten?
Ich bin von Haus aus Kirchenmusiker, das bedeutet, dass ich mich in meiner Eigenschaft als Chorleiter sehr oft mit Texten auseinandersetze, die eine extrem hohe Interpretationsbereitschaft und -fähigkeit abverlangen. Wir sprechen hier nicht nur von Texten die in Sprachen wie Latein abgefasst sind, sondern einer anderen Zeit, ja einem anderen Denkmodell entstammen. Diese Texte muss man nicht nur wortwörtlich verstehen, sondern noch wichtiger in ihrem soziokulturellen Kontext lesen können. Diese Einschätzung macht aber nicht bei Chorälen oder Bibeltexten halt: Auch das traditionelle Volkslied oder aufklärerisches Liedgut wie Matthias Claudius` „Der Mond ist aufgegangen“, brauchen eine zeitgenössische Einordnung und Interpretation. Es muss Aufgabe des Chorleiters sein, das Werk in seinen Kontext einzubetten und diesen dem Chor zu vermitteln. Nur so kann der Chor seinerseits das Werk wieder dem Publikum auf eine ganz andere Art und Weise vermitteln.
Geht es nur um „alte Musik?“
Nein, auf keinen Fall. Auch bei modernen Popsongs verhält es sich nicht anders. Chorleiter:in und Chor müssen sich auch die Frage stellen: Was ist hier mit diesem Text eigentlich gemeint? Betrachten wir Lieder von Sting, Dylan oder auch Queen, da gibt es unheimlich dichte Texte, die verstanden werden wollen. Ich denke da beispielsweise an „Sweet Dreams“ oder die „Bohemian Rhapsody“. Und nicht umsonst hat Bob Dylan ja einen Nobelpreis für Literatur bekomme …
Was ist der Kern eines guten Repertoires bei einem Konzert?
Eines ist mir wichtig: Was wir im Chor immer tun müssen, ist Geschichten erzählen. Schon bei den alten Griechen war Theater, aber eben auch der Chor, dahingehend angelegt, dass er auf der Bühne emotionalisiert. Wir müssen den Menschen, die zu uns kommen, Geschichten erzählen, nicht nur etwas vorsingen. Und hier kommt das Verstehen dessen, was ich singe in aller Wichtigkeit ins Spiel: Ich kann als Sänger:in oder Chorleiter:in nur authentisch von etwas erzählen, womit ich mich selbst useinandergesetzt habe. Wir reden hier natürlich vom idealen Fall. Darüber hinaus gibt es in der Musik auch immer wieder Texte, die nicht die Tiefe und Komplexität oder Genese haben, dass man hier groß interpretieren müsste. Das ist unsere Aufgabe, mit diesen Texten umzugehen und hier vielleicht musikalisch dem Werk etwas abzuringen, was auf textlicher unter Umständen fehlt.
Wie bringt man seinem Chor ein Stück näher, das außerhalb seiner Lebenswirklichkeit ist?
Wenn ich ein Patentrezept hätte, würde ich ein Buch schreiben. Es ist ein Phänomen des kulturellen Hintergrunds: Das hat nicht in erster Linie etwas mit kirchlicher Literatur oder der Sprache zu tun, sondern mit dem ganzen Universum, das sich hinter (fast) jedem Text und jeder Interpretation verbirgt. Man muss sich vor dem soziokulturellen Hintergrund annähern. Die Frage ist: Welches Narrativ steckt hinter der Geschichte? Nehmen wir als Beispiel das Lied „Sah ein Knab` ein Röslein stehen“. Geht es hier um eine Vergewaltigung? Wie gehe ich damit um? Kann ich das singen? Will ich das singen? Diese Fragen muss ich mir als Chorleiter stellen. Habe ich das für mich beantwortet, muss ich es meinem Chor näherbringen und vor allem auch erklären. Hier kann die Musik nicht helfen. Diese Verständnisfragen enden aber nicht beim inneren Kreis von Chorleitung und Chor, sondern betreffen auch die Zuhörerschaft: Solche Thematiken müssen in Moderation und/oder Programmheft aufgegriffen werden, um Verständnis oder zumindest Sensibilität zu schaffen. Als Musiker:innen müssen wir es uns immer wieder begreiflich machen: Wir sprechen meist in und über eine Welt von Begriffen, die uns ohne Einordnung in einen Kontext nicht mehr offensteht. Wenn ich das nicht erkläre, mache ich meinen Job nicht richtig. Wir müssen immer bedenken: die Stimme ist das einzige Instrument, das Text originär vermitteln kann, dafür tragen wir Verantwortung. Als Kirchenmusiker hat man hier vielleicht eine höhere Sensibilität, da Werke in diesem Bereich oft sehr interpretationswürdig und auf gewisse Art und Weise auch vorbelastet sind.
Wie entwickelt man das Repertoire für ein Konzert?
Es gibt meist ein Stück, dass mich interessiert. Vom Text oder der Thematik. Oft nur recht kurz. Dann fängt man an, sich einzulesen. Und dann passiert es ganz automatisch, dass man sich immer tiefer in die Themen eingräbt, recherchiert und noch mehr liest. So spannt sich dann ein Netz aus Informationen, Werken, Briefen, anderen Komponisten, aus dem sich dann Ideen und konkrete Stücke ergeben. Oft habe ich am Ende dieses Prozesses bis zu 30 Stücke, aus denen ich dann wähle und ein passendes Programm erstelle. Wobei ich mich hier sehr oft selbst nicht an meine eigenen Ratschläge halte. Wenn ein Stück richtig gut ist, dann muss es thematisch nicht einhundertprozentig reinpassen, aber es muss dann halt doch dabei sein.
In den vergangenen Jahren habe ich sehr viele Konzerte mit Bezügen zu bestimmten Komponisten oder Regionen konzipiert. In solchen Fällen ist meist der Text nicht das zentrale Kriterium für die Zusammenstellung. Andere Faktoren für die Repertoire-Auswahl können ein bestimmtes Thema, ein Raum, in dem ich schon immer einmal auftreten wollte oder auch eine Ensemble-Zusammensetzung sein. Es muss eben alles gut zusammenpassen. Vor ein paar Jahren stand bei mir das Mozart’sche Requiem auf dem Plan, wir wollten es in einer Fabrikhalle aufführen. Als ich den Raum gesehen habe, war mir klar: das ist ein Raum für Arvo Pärt. Also musste der Chor kurzfristig noch Pärts „Stabat Mater“ dazu lernen. Nicht, weil das textlich so gut zum Requiem passte, sondern weil der Raum mit seiner extrem klaren, effizienten und schlichten Architektur mir gesagt hat: ich will hier Arvo Pärt.
Es geht mir oft so, dass ich eine Dramaturgie für ein Konzert im Kopf habe, aber gerade vor dem Konzert ändere ich oft noch etwas. Ich warne davor, zu festgelegt an die Sache ranzugehen. Im Laufe der Chorproben wird man mit Faktoren konfrontiert, die eine Umplanung notwendig machen. Oft spielen stimmliche Schwierigkeiten hier eine Rolle. Es gibt Stücke, die nutzen den Chor ab, diese sollten später im Programm kommen, denn der Chor klingt danach anders. Erst vorgestern habe ich ein Programm über den Haufen geschmissen und neu zusammengepuzzelt. That’s life …
Wie bereitet man den Chor vor?
Auch hier würde ich ein Buch schreiben, wenn ich es wüsste … Es kommt darauf an, in welcher Sprache das Werk ist: Handelt es sich um einen deutschen oder leicht verständlichen (z. B. englischen) Text, lasse ich die Leute erstmal ein oder zwei Proben damit umgehen. In diesem Fall arbeite ich nur an der Aussprache, Vokale und Ähnlichem. Ich liefere aber bewusst nicht die Interpretation mit. Man muss den Choristen den Raum lassen, den Text für sich zu entdecken, ihn für sich zu begreifen. Ob sie sich damit auseinandersetzen bleibt letztlich jedem Einzelnen überlassen, aber man muss ihnen die Möglichkeit dazu geben. Zu einem späteren Probenzeitpunkt, zum Beispiel an einem Probenwochenende spreche ich dann über die Implikationen. Weder Anfang noch Ende der Arbeitsphase eignen sich besonders gut. Die Auseinandersetzung mit dem gesungenen Wort hat oft noch einen weiteren positiven Effekt. Durch ein höheres Verständnis des Textes, durch eine Interpretation, hege ich zudem die Hoffnung, dass es bei vielen noch einen weiteren Impuls in der Arbeit setzt. In dieser Situation ist in den Proben das Werk technisch erarbeitet. Wenn ein Ton aber immer noch nicht ganz sauber sitzt, kann die kognitive Erschließung des Stückes eine Hilfe sein. Bei Werken in nicht so leicht zugänglichen Sprachen bekommen die Chorsänger:innen zu Beginn der Erarbeitung eine Übersetzung, aber der weitere Weg unterscheidet sich nicht vom bereits beschriebenen.
Aussage oder musikalische Wirkung: was ist wichtiger?
Das eine geht nicht ohne das andere. Es gibt Musik, da geht beides Hand in Hand und es gibt Situationen, da muss man als Chorleiter eine Gewichtung der beiden Bestandteile vornehmen. Beides, Text und Musik, haben eine Berechtigung, einem bestimmten Stück den Vorzug zu geben. Dennoch: Ultimativ würde ich immer dem musikalischen Kontext den Vorzug geben. Im musikalischen Part spiegelt sich das Schaffen des Komponisten wider und ich will gute Musik aufführen. Der Text ist da manchmal sekundär.
So muss man es sogar bei sogenannten großen Komponisten machen. Selbst bei Bach gibt es (vor allem freie) Texte, die weder literarisch noch theologisch wertvoll sind, auch die Arientexte seiner Kantaten sind manchmal etwas arg pietistisch durchtränkt … trotzdem wäre es eine Schande, sie deshalb nicht aufzuführen!
Darf Emotion bei bestimmten Stücken auf der Bühne geschehen?
Es darf nicht, es muss … Hier schließt sich ein Kreis und ich möchte gerne noch einmal das Thema des Geschichten Erzählens aufgreifen. In meinem Fachbereich Kirchenmusik führen wir, wenn wir Oratorien aufführen, eine geistliche Oper ohne Szene auf. Daher ist es umso wichtiger, dass wir diese vielen Emotionen, die dort stattfinden auch vermitteln. Ich spreche hier nicht nur von den Solisten sondern dezidiert auch vom Chor. Man sieht die Emotion an den Augen der Chorsänger:innen, die funkeln – vor Glück, vor Zorn … Beim Thema Emotionen auf der Bühne gibt es zu oft ein zu wenig, aber auch ab und zu ein zu viel. Aber ohne Emotionen ist Musik nicht möglich und ich muss es den Menschen auch durch mein Dirigat ermöglichen, diese Gefühle mit zu leben. Im Bereich der Amateurchormusik ist es oft ein Problem, dass Chorleiter:innen sehr viel Zeit darauf verwenden müssen, um rein technische Anforderungen zu erbringen. Ich erlebe in meinen Chören einen Anteil von 70 % technischer und 30 % interpretatorischer Arbeit, was so schlecht nicht ist. Wünschenswert wäre aber eine Quote von 50 % in beiden Bereichen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die Chorsänger:innen sich zuhause besser vorbereiten. Und auch hier gilt: technisches Proben kann mit der intellektuellen Erschließung eines Inhalts fast immer aufgewertet werden. Wie heißt es doch so schön: Zuckerbrot und Peitsche …