Wie man nach Abstinenz von der Präsenz wieder zur Bühnenpräsenz kommt.
Was wäre ein Auftritt ohne Bühne? Warum fühlt es sich so anders an, wenn aus routinierter Probenarbeit der große Moment vor Publikum wird. Für erwachsene Sänger:innen eine Herausforderung, für Kinder und Jugendliche eine große Aufregung. Umso mehr nach über eineinhalb Jahren coronabedingtem Stillstand. Wie kann man hier einen guten Weg für den Neubeginn schaffen? Wir haben zwei Expert:innen gefragt: Daniela Pöllmann und Peter Gorges sind schon seit vielen Jahren für den Schwäbischen Chorverband tätig (Regie, Moderation, Präsenztraining oder Einführung und Umsetzung Thema Choreographie). Sie haben sich zu diesem Thema ausgetauscht:
Peter Gorges: Daniela, in dieser Ausgabe der SINGEN geht es um das Thema Bühnenpräsenz. Was fällt dir dazu ganz spontan als erstes ein?
Daniela Pöllmann: Dass das Wort Präsenz seit Corona noch nie so oft in aller Munde war. Und wenn ich an Chöre denke, dass bei den jetzt wiederbeginnenden Auftritten Emotionen im Spiel sind, die in dieser Intensität für viele Sänger:innen vielleicht neu sind. Und ich denke ganz spontan an deinen Sohn. Er singt doch seit 2017 beim CIS in Stuttgart. Ist er noch dabei?
Peter Gorges: Das war sehr schwierig, ihn mit Onlineproben während der Lockdowns bei der Stange zu halten. Vor den Sommerferien war er dann soweit, dass er aufhören wollte, einfach keinen Bock mehr. Dann gab‘s – endlich mal wieder! – die Aussicht auf einen klitzekleinen Auftritt mit einem „Rumpf“ chor im Rahmen eines Gottesdienstes. Dazu haben wir ihn überreden können. Und seitdem ist für ihn der Chor erst mal wieder gesetzt.
Ich gehe rückblickend davon aus, dass ihm dieses Erlebnis in echter, spürbarer Anwesenheit mit den anderen Jungs, auf dieser Empore gemeinsam zu singen, einen Kick gegeben hat. Die Orgel mit ihren zum Teil coolen Registern war das nicht und ganz sicher nicht sein stolzer Vater (grinst).
Daniela Pöllmann: Super. Da konnte er an etwas anknüpfen, das vorher schon gut verankert war. Ohne dieses Live-Erlebnis hätte er vielleicht aufgehört. Für die Chorleiter:innen ist dies jetzt bestimmt auch eine besondere Herausforderung. Die Presse ist ja voll mit Nachrichten über die psychischen Folgen von Homeschooling und Isolation bei Kindern und Jugendlichen. Da ist die Chorarbeit meiner Meinung nach sehr wichtig, um heilen zu helfen. Mal den Alltag vergessen, einfach nur Spaß haben, gemeinsam lachen, erleben, singen. Und die Übungen helfen auch, dass die Sänger:innen, egal in welchem Alter, wieder mehr ihren Körper spüren, bei sich ankommen.
Peter Gorges: Stimmt. Warming-up und Gesangsübungen stehen da ja meist auf dem Programm. Aber was, wenn ein:e Chorleiter:in merkt, dass sich ein:e Sänger:in verschlossen hat. Oder richtig Angst davor hat (jetzt sind wir bei den von dir erwähnten Emotionen angekommen), plötzlich mit vielen Menschen vor vielen Menschen zu singen?
Daniela Pöllmann: Kannst du dich noch an die tollen Übungen aus unserem Studium erinnern? Alle Laufen durch den Raum, mal mit langsamem, mal mit schnellem Tempo. Blick nie auf den Boden. Wenn sich zwei begegnen, grüßen sie sich. Oder die Abstände werden verändert. Mal alle eng zusammen, mal so weit wie möglich auseinander.
Das schafft Gruppenpräsenz. Und natürlich alle Übungen, die helfen, dass der oder die Sänger:in bei sich selber ankommt. Ein positives, gemeinsames Erleben baut Ängste ab. Es ist natürlich viel Feingefühl bei den Chorleiter:innen gefragt, wenn es darum geht, die Bedürfnisse der Schützlinge zu erkennen, ihnen dabei zu helfen, ganz im Hier und Jetzt zu sein.
Peter Gorges: Das steckt ja im Wort Präsenz drin. Im Hier und Jetzt sein, anwesend, konzentriert. Wie kann man das aber Kindern vermitteln?
Daniela Pöllmann: Nicht vermitteln, einfach machen! Hast du schon einmal ein Kind gesehen, das ganz bei der Sache ist …? (stockt), klar, du hast ja selber zwei!
Peter Gorges: Präsenz pur, stimmt. Das sieht man aber nicht nur bei Kindern, finde ich.
Daniela Pöllmann: Ja, aber Kinder hinterfragen sich, meiner Meinung nach, beim Tun nicht so sehr, wie junge Erwachsene oder eben die Erwachsenen. Ein Beispiel: Wenn Kinder die Übungsanweisung bekom-
men, wie ein Flugzeug mit Lippenflattern durch den Raum zu fliegen, ohne dabei zu kollidieren, dann machen sie das (meistens) einfach, haben Spaß daran. Jugendliche finden das schon eher peinlich und Erwachsene denken oft vor der Übung erstmal nach, welchen Sinn diese Übung haben könnte.
Peter Gorges: Heißt also: je nach Altersgruppe entsprechende Übungen und Bilder verwenden?
Daniela Pöllmann: Genau. Z. B. den jungen Sänger:innen helfen, über ihren Schatten zu springen. Sich beim Tun nicht zu fragen „Wie sehe ich dabei aus? Warum mache ich das?“. Einfach Spaß haben, den eigenen Körper wahrnehmen, die Stimme trainieren, Präsenz aufbauen und schließlich eine gute Gruppenpräsenz als Krönung des Ganzen.
Peter Gorges: Ich nenn das manchmal die „halbe Miete“, bevor es dann in die eigentliche gemeinsame Arbeit geht.
Daniela Pöllmann: Und bei allem ist das Thema Vertrauen sehr wichtig. Vertrauen in die Gruppe, den oder die Chorleiter:in. Und Vertrauen in sich selbst. Und da schließt sich wieder der Kreis. Das Fundament für eine gute Bühnenpräsenz eines Chores ist die Präsenz eines jeden einzelnen. Meine Güte, jetzt habe ich dieses Wort aber oft benutzt (lacht).
Peter Gorges: Wir haben nur ca. 6000 Zeichen zur Verfügung. Wir müssten eigentlich noch über Auftritte, Abgänge, Probendisziplin, Texte verstehen … und vieles mehr sprechen. Hört sich dann aber nach einer Menge Disziplin und Konzentration an. Eher spaßfrei …
Daniela Pöllmann: Wenn du z. B. Fallschirmspringen als Hobby hättest, fragst du dich auch nicht, ob es Spaß macht, vorher konzentriert und mit Disziplin den Schirm zu packen. Das gehört einfach dazu. Sonst wird das nix! Gefeiert wird hinterher.
Peter Gorges: (lacht) Übertreibungen veranschaulichen! Für manche:n Sänger:in fühlt sich ein Bühnenauftritt vielleicht fast wie ein Fallschirmsprung an, wer weiß …
Daniela Pöllmann: Thema Lampenfieber. Steigert die Präsenz, darf aber nicht lähmen, sonst bekommst du den Schirm nicht auf, genau.
Da hilft ganz einfach: gute Vorbereitung, Vertrauen in sich und die Gruppe, Körperübungen, Rituale mit der Gruppe, und das Wissen, dass ich eben nicht mit dem Fallschirm springe, sondern „nur“ auf eine Bühne gehe. Es kann mir nichts passieren.