Kuriose Kartengrüße von Sängerfesten aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts
Zu den häufigsten Bildzeugnissen früherer Sängerfeste gehören in der Technik der Farblithographie hergestellte Grußpostkarten. Solche „Ansichtskarten“ zu verschicken und zu sammeln, kam um 1900 generell groß in Mode.
Ab der Zeit um 1900 hat wohl jede größere Festveranstaltung und jede Feststadt Bildpostkarten zur Information und zur Reklame eingesetzt. Die Besucher der Veranstaltungen wiederum erwarteten, dass ihnen ein ausreichendes Angebot an attraktiven Grußkarten zur Auswahl stand. Die ersten Postkarten durften bis zum Jahr 1905 auf der Anschriftenseite nur die Anschrift enthalten, die Textnachricht sollte ausschließlich auf der Bildseite stehen. Dort war dann neben der Illustration oft nur noch wenig Platz für eigenen Text; für einen kleinen Satz reichte es aber in der Regel schon. Allerdings machte nicht jeder groß Gebrauch von dieser Möglichkeit. Auf einer Karte vom „26. Schwäbischen Sängerfest“ 1901 in Schwäbisch Hall, die sich in der historischen Sammlung unseres Chorverbands befindet, stehen außer dem knappen Gruß des Schreibers als Mitteilung nur noch zwei kurze Worte mit zwei Satzzeichen: „Oh je!?“
Jüngling im Adamskostüm
Was hat dem Absender der Karte wohl so sehr die Sprache verschlagen? Die durchaus erfolgreiche Festveranstaltung war es sicher nicht. Die Lösung des Rätsels ist ganz nah: Es war das nebenstehende Kartenbild. Genauer, ein Detail daraus: Der Jüngling im Adamskostüm! Er steht dort lässig in Profilansicht, schaut hinüber auf die Feststadt, zupft versonnen auf seiner Lyra und präsentiert dem Betrachter ganz ungeniert sein blankes Hinterteil.
Gestaltet hat das damals Aufsehen erregende Motiv der 29-jährige Maler und Illustrator Karl Fuchs (1872-1968), ein in Esslingen tätiger Illustrator. Er hat sich dabei zunächst einmal an die ikonographischen Konventionen solcher Sängerfestkarten gehalten. Meist zeigte man eine Ansicht der Feststadt mit der Festhalle im Fokus, so auch hier. Als Identifikationsfiguren wurden dann gern noch altertümlich gekleidete Personen ins Bild gebracht: alte bärtige Barden vom Typ Ossian, junge zierliche Minnesänger mit Lauten in der Hand, kräftige Meistersinger mit wuchtigen Preisketten vor der geblähten Brust oder im zeitgenössischen Wanderdress anmarschierende Studiosi.
Musengott oder Badebube
Ab und zu tauchte auf den Karten auch eine stattliche Weibsperson mit einer Zinnenkrone im Haar auf. Das war dann keine Frau Musica, sondern eine Personifikation der Feststadt (z. B. eine „Francfordia“). Ein nackiges Wesen männlichen Geschlechts kam in dieser eher prüden Gesellschaft allenfalls als putziger Erote im Kleinkindformat vor, z. B. in der Nebenrolle eines Notenblatthalters.
Vermutlich hat Fuchs bei der Wahl seines Lyraspielers auch eine historische oder mythologische Figur im Blick gehabt, z. B. Orpheus oder Apollon. Gerade der letzte der beiden war ja der wichtigste Schutzherr der Dichter und Sänger, dazu noch ein Gott des Lichts und der sittlichen Reinheit. Schon die alten Hellenen sahen ihn am liebsten als blanken Schönling mit der Leier im Arm. Vielleicht war unser Kartengestalter aber auch einfach nur ziemlich nah dran am Zeitgeist des beginnenden 20. Jahrhunderts mit der gerade neu aufkommenden Freikörperkultur.
Hauptsache mit Hosen
Wie dem auch sei – die freizügige Karte war nun in der Welt, jetzt galt es der aufgekommenen Erregung Abhilfe zu schaffen. So kam man auf die Idee, die schon gedruckten Karten zu überarbeiten. (Dabei hat man übersehen, dass der Begriff „Sängerfest“ im Kartentext nicht korrekt war; diese Veranstaltungen des Schwäbischen Chorverbands hießen offiziell „Liederfest“.) Auf einer der Karten zog man dem jungen Mann nun eine gestreifte Badehose an und druckte dazu den Vers:
Ist auch der Jüngling noch so rein,
so darf er doch nicht „nacket“ sein.
Drum zieht man diesem lieben Mann
Zuletzt noch Badehosen an.
Die Badehose war aber nicht das Ende der Geschichte! Auf einer weiteren Karte hat man den Buben noch zusätzlich in einen Frack gesteckt. Leider ist der dazu gekritzelte Text, der auf das Bild Bezug nimmt, kaum zu entziffern. Auch wissen wir nicht, ob die Karten in größerer Menge überarbeitet wurden. Jedenfalls gehören alle weiteren Stücke, die der Autor bisher gesehen hat, zur unbearbeiteten Erstauflage. So hat der Jüngling trotz (oder gerade wegen) seiner Nacktheit doch reichlich Verehrer:innen gefunden.
Nackiger Arion im Zürichsee
Vier Jahre später gab es dann noch einmal ein Nudismus-Problem bei der Gestaltung einer Sängerfestreklame, nun in der Schweiz. Der Maler Burkhard Mangold (1853-1970) hatte für das Eidgenössische Sängerfest in Zürich 1905 ein Plakat mit dem Motiv des altgriechischen Musikers Arion gestaltet. Der unbekleidete, Lyra spielende Sänger wird von einem Delphin durchs Wasser getragen. Allerdings ist es hier nicht wie in der Legende das Mittelmeer, sondern der Zürichsee.
Für seinen Plakatentwurf hat Mangold, der übrigens ein leidenschaftlicher Chorsänger war, sogar einen Preis erhalten. Als Motiv für eine Ansichtskarte wollte man das Werk dann aber doch nicht haben. Stattdessen erschien es als inoffizielle Festkarte in Form einer Persiflage. Unter der Zeile „Wenn ich ein Vöglein wär“ sitzt nun ein zeitgenössischer Sänger (der an Mangold erinnert) nackt auf einem Holzsteg im Zürichsee; er flickt mit Nadel und Faden seine Hosen, während über ihm das nasse Hemd im Wind flattert.