Das Bildungsprogramm der Chorakademie Baden-Württemberg
Vorspiel – Ein Gedankenspiel: Bildung als Türöffner für neue Räume. Bildung und Kunst als Architekten für neue Räume in der Chormusik, die wir erkunden dürfen, erproben und schön einrichten für einen kürzeren oder längeren Aufenthalt – oder wieder verschließen, wenn sie uns zu ungemütlich erscheinen. In welchen Räumen würden wir verweilen?
Chorarbeit – Musik, Menschen, Beziehung
Chorarbeit ist: Musikalische Arbeit UND Beziehungsarbeit sowie ein soziales Miteinander. Vermutlich sind beide Aspekte gleichwertig gelagert, in der Praxis Musik wie in der Gemeinschaft Chor. Meines Erachtens erzeugt und fordert kaum eine andere gemeinschaftliche Freizeitbeschäftigung eine solch soziale Intimität: Im gleichen Zug atmen, sich (ent)äußern in Form der eigenen Stimme, sich miteinander verbinden im gemeinsamen Singen und im Chorklang. Der Herzschlag der Sänger:innen harmonisiert sich, wenn sie sich aufeinander einschwingen und verbinden im Chor.
Singen ist nur im sogenannten „Rest-and-Digest“-Modus (im Ruhe- und Regenerationszustand) möglich, in dem der Parasympathikus als Teil des vegetativen Nervensystems aktiv ist. Nicht gelingen wird es im „Fight-or-Flight“-Modus, in dem Stress und Angst dominieren – und in dem unsere heutige ruhelose, adrenalingeladene Gesellschaft häufig unterwegs ist.
Unsere Stimme ist Spiegel der Seele, in ihrem Klang erkennen wir im Gegenüber, ob es ihm gerade gut geht oder nicht. So führen z. B. Depressionen zu einer starken Einschränkung des Obertonspektrums der Stimme. Gleichzeitig ist unsere Stimme im Chor nicht nur als Trägerin unser persönlichen Emotionen präsent, sondern gefordert im Dienste der Musik, im Dienste des Ausdrucks der Stücke.
Welche Konsequenzen haben diese Überlegungen für die Chöre? Chorarbeit kann nur gelingen, wenn Beziehungsarbeit im Chor gelingt. Essentiell für den Erfolg ist ein „Sich-sicher-fühlen-miteinander“. Stimm- und Beziehungsarbeit fordern also sehr konsequent als Minimalbasis einen angstfreien Raum, einen Chor als angstfreien Raum. Dies stringent umzusetzen bedeutet, über den Umgang miteinander nachzudenken, über Führung und über Kommunikation. Noch weiter gedacht: wie kann Beziehungsgestaltung über diese Minimalbasis hinausgehend gelingen? Eine Frage, die in Zeiten einer Pandemie essenziell und existenziell für den Fortbestand einer Gemeinschaft sein kann, die ihres eigentlichen Kerns – des Chorsingens – beraubt ist oder nur rudimentär ausführt.
Bedürfnisse, Werte und Beziehungsarbeit im Chor
Welche Bedürfnisse bringen uns zum Chorsingen? Wo kann Beziehungsarbeit im Chor ansetzen? Welche sozialen und psychologischen Bedürfnisse haben Chormitglieder als Teil der Gemeinschaft Chor, unabhängig vom Musizieren? Was macht eine gelingende Gemeinschaft Chor aus? Diese Bedürfnisse zu verstehen und an dieser Stelle anzusetzen ist ein Schlüssel für gelungene Chorarbeit über die rein musikalische Arbeit hinaus. Wie also kann ich den gedachten angstfreien Raum schaffen, in dem sich die Chorsänger:innen wertgeschätzt fühlen, das Miteinander erleben, sich eingebunden fühlen und gleichzeitig ihre Bedürfnisse auf musikalischer Ebene erfüllt sehen? Soft-Skills – persönliche Fähigkeiten – werden in diesem Moment zu einem zentralen Aspekt von Chorarbeit. Respektvoller Umgang, gewaltfreie Kommunikation, empathische Führung, Partizipation und heute ganz selbstverständlich Kindeswohl gehören zu grundlegenden Themen für die Aus-, Weiter- und Fortbildung.
Werte als Grundlage für Bildung und Impulse
Bildung und Impulse für eine so verstandene zeitgemäße Chorarbeit kann nur „kundenorientiert“ sein: Sie muss aus diesen Überlegungen und Bedürfnissen der Chorsänger:innen und damit von der Chorszene aus neu denken.
Soziale Werte zu leben und die ganze Vielfalt der Gesellschaft zu berücksichtigen ist Teil der Konzeption für Aus-, Weiter- und Fortbildung. Bildung stellt die Frage nach einer Welt, in der wir leben möchten, nach Werten, die durch sie vermittelt werden.
Zwischenspiel: Werte sind einem Wandel unterworfen
Clare W. Graves, ein amerikanischer Psychologieprofessor, entwickelte ein psychologisch-soziologisches Modell, das die Entwicklung von Werten und Motivationen umreißt: „Ein Wertesystem reflektiert, wie Menschen denken, d. h. ihre Werte und Glaubensstrukturen. (…) Wertesysteme sind (…) ein Schema oder eine Art und Weise des Denkens. Häufig sind Wertesysteme, die inhaltlich diametral entgegengesetzt sind, wie z. B. eine fundamentalistische Religion und der so genannte „atheistische Kommunismus“, lediglich Ausformungen ein und desselben Wertesystems.“
Graves stellte fest, dass sich Entwicklungen beim Einzelnen auch auf der Makro-Ebene in der Gesamtgesellschaft wiederfinden. Seit ca. 150 Jahren lassen sich – sehr verkürzt dargestellt – gesamtgesellschaftlich Tendenzen feststellen: Empathisches Handeln (und Denken), das Hintanstellen des eigenen Ego zugunsten größerer Ziele auf Gesellschaftsebene, systemisches Denken und die Anerkennung einer globalen Verbundenheit. Hintergrund bei der Entwicklung neuer Wertesysteme sind gesamtgesellschaftliche Erfahrungen und Problemstellungen wie die Globalisierung oder die Klimakrise.
Soziale Werte leben & Diversität im Programm der Chorakademie BW: „Females featured”: Wettbewerb für Komponistinnen
Die Studie „Frauen und Männer im Kulturmarkt – Bericht zur wirtschaftlichen und sozialen Lage“ des Deutschen Kulturrats zeigt, dass sich im Jahre 2019 laut Künstlersozialkasse 3359 selbstständigen Komponisten nur 412 Komponistinnen gegenüberstanden. Noch prekärer zeigen sich die Verdienstmöglichkeiten, sie haben sich sogar von 2013 bis 2019 verschlechtert in Relation zu den Verdienstmöglichkeiten der männlichen Kollegen.
„Females featured” bietet als Kompositionswettbewerb Frauen unter dem Motto: „Our Voice for our Planet” (übersetzt: „Unsere Stimme für unseren Planeten“) eine Bühne. In Kooperation mit der Bundesgartenschau 2023 in Mannheim werden jeweils drei Preisträgerinnen in drei Kategorien (Kinderchor, Jugendchor und Kammerchor) in einem Preisträgerkonzert einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Neben einem Preisgeld und der Uraufführung gehört die Veröffentlichung der Stücke zum Paket, das den weiblichen Nachwuchs voranbringen soll. Partner sind der Verband deutscher Konzertchöre (VDKC) Baden-Württemberg und das Archiv Frau und Musik Frankfurt, das sich bereits seit einigen Jahrzehnten um dieses Thema verdient gemacht hat.
Inklusion, Integration, interkulturelle Arbeit
Mit dem Bildungsprogramm 2022-23 startet eine neue Qualifikation „Community Singing (C2)” – (siehe Interview mit Kursleiterin Marion Haak-Schulenburg auf Seite 8 & 9): Community Singing als partizipativer und kreativer Prozess geht bewusst und produktiv auf die Gruppendynamik und Heterogenität von Gruppen ein und denkt Chorarbeit für interkulturelle und inklusive Settings.
In der Fortbildung „Handgemachte Poesie“ kann man in das Thema Gebärdenchorarbeit eintauchen. Mit Hayat Chaoui konnte eine ausgewiesene Expertin für die interkulturelle Chorarbeit gewonnen werden. Angebote mit interkulturellen Inhalten wenden sich speziell an Kinderchorleiter:innen, Gruppenleiter:innen und Pädagog:innen.
Ein wichtiger neuer Impuls für das Projekt „Lebenslang Musik“: können wir unsere Chorgemeinschaft wieder erweitern um die in der Pandemie altersbedingt ausgestiegenen Sänger:innen? Können wir Chorgemeinschaft damit auch zukunftsorientiert neu denken?
Inspirierende Projekte und Impulse aus aller Welt
Unter #oneconductoraday zeigt Thalia Ilan auf Social Media, dass weibliche Dirigentinnen inzwischen gottseidank nicht mehr Mangelware sind. Den Frauenmonat März nutzt der US-amerikanische Dirigent Brian Stevens regelmäßig, um Werke zeitgenössischer Komponistinnen aus aller Welt vorzustellen. Der Furore Verlag widmet sich seit Jahrzehnten den Werken von Komponistinnen.
Die Landesmusikakademie NRW und der Landesmusikrat NRW zeigen mit dem Projekt „Brückenklang“ musikalische Vielfalt in NRW, Ziele sind Begegnung und Austausch zwischen den Kulturen.
Das Projekt TRIMUM feiert die Vielfalt und macht Musik für Gläubige und Andersgläubige. Der Straßenchor gibt Menschen eine Stimme, die sonst nicht beachtet werden und begleitet sie auf einer Reise, die ihrem Leben wieder einen Sinn gibt, die ihnen das Gefühl vermittelt gebraucht zu werden. Der Fränkische Sängerbund widmet sich mit Ralf Schuband als Ansprechpartner den Themen Integration und Teilhabe in der Chorarbeit in Wissenschaft und Praxis.
Coda:
Chorarbeit ist ein Spiegel des gesamtgesellschaftlichen Wandels – oder ein bisher nicht erkannter Motor? Kehren wir nach diesen Überlegungen zurück zum Anfang: Wie statten Sie Ihren Raum „Chor“ aus, in dem Sie verweilen möchten? Welche Räume würden Sie neu bauen wollen? Welche werden Sie entstauben oder neu einrichten? Was inspiriert Sie? Viel Freude beim Experimentieren!
Bedürfnisse des Chorsingens:
- Wachstumsbedürfnisse: Lernen, Neues entdecken, etwas bewegen
- Soziale Bedürfnisse: Miteinander erleben, Wertschätzung, gesehen werden, sich verbinden, Erfahrung von gesellschaftlicher Zugehörigkeit, Resonanz erfahren
- Psychologische Bedürfnisse: Entspannung, auftanken, Lebensfreude, Spaß am Tun, Bestätigung, Erlebnis, Hedonismus, berührt und bewegt zu werden, Erfahrung von Sinn, Leistung, Präsentation, Selbstverwirklichung
- Existenzielle Bedürfnisse auf Seiten der Leitenden: Materielle Sicherheit
Werte der Chorakademie:
- hohe Qualität
- Umfassende Inhalte
- Aktualität & Innovation
- Qualifikation ermöglichen
- Dezentralität & Regionalität
- Niederschwellig & Spitzen- & Breitenförderung
- Transparenz & Kommunikation
- Kultur in Stadt & Land
- Soziale Werte leben
- Diversität
- Singen gesellschaftlich verankern