Wie sieht es aus mit Gleichstellung in der Musik?
Als ich klein war, wurde ich in Röcke gesteckt, mit 24 bekam ich einen rosafarbenen Schlafanzug. Rosa, damals die Mädchenfarbe. Ich und rosa?
Damit sind wir beim ultimativen Klischee gelandet: Wie kann man einen solchen Artikel schreiben, ohne ins Klischee zu verfallen? Wie ist es, wenn die Realität doch auch immer wieder dem Klischee entspricht? Schließlich werden Klischees aus der Realität geboren. Wie kann man den Text schreiben, ohne in Schwarz-Weiß zu verfallen und die ganzen Grautöne dazwischen zu vergessen? Und die gibt es, sonst hätte ich als Frau nicht die Chance, die Position auszufüllen, die ich innehabe als künstlerische Leitung des Pilotprojekts Chorakademie Baden-Württemberg. Sonst gäbe es nicht so viele Frauen, die gerade im Chorbereich als Dirigentinnen und somit in Führungsverantwortung arbeiten.
Und doch gibt es da berechtigterweise: Das Klischee. Den Vorwurf, dass Frauen zu emotional seien – alle Frauen? Und Männer nicht? –, um in Führung zu arbeiten oder sich die Lebensplanung einer Frau nicht mit Führung vereinbaren lässt. Das Klischee, dass Frauen nicht ausreden dürfen, die Spiele der Macht nicht mitspielen können. Die Problematik, dass aus unterschiedlichen weiteren Gründen Frauen nicht in Führungspositionen kommen, weil Strukturen und diejenigen, die die Macht inne-haben, dies verhindern. Das Klischee, dass Frauen auf „hübsch und nett“ reduziert werden – #metoo hat gezeigt, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Vasily Petrenko meinte, eine Frau am Dirigentenpult strahle mehr sexuelle Energie aus und erschwere damit den Fokus auf die Musik.
Es gibt Einiges zu tun. Die Fragestellungen, die Strukturen, die Mechanismen sind sehr komplex und Antworten gibt es viele, eine Lösungen aber nicht.
Die Zahlen: Frauen im Arbeitsmarkt Kultur
Abraham Mendelssohn, Fanny Hensels Vater:
„Die Musik wird für ihn (Felix) vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbaß Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“
Eine gute Nachricht vorab: Im SCV sind die Zahlen im Bereich der Chorleitung ausgeglichen. Laut Overso-Statistik 9/2022 (vgl. Tabelle) haben 1186 Chöre eine weibliche Chorleitung (50,04 %) gemeldet, 1160 eine männliche (48,95 %), bei 24 Personen wurde kein Geschlecht angegeben. Eine tolle Entwicklung, wenn man bedenkt, dass vor gut 40 Jahren z. B. im Chorverband Ludwig Uhland erstmalig Frauen ans Pult traten. Von 13 Mitgliedern des aktuellen Musikbeirats sind sechs weiblich, sieben männlich. Das 15-köpfige Präsidium (von den 16 Positionen ist eine derzeit unbesetzt) hingegen hat lediglich drei weibliche Mitglieder.
Studierendenzahlen
Die Studien „Arbeitsmarkt Kultur. Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Kulturberufen“ und „Frauen und Männer im Kulturmarkt“ des Deutschen Kulturrats bieten interessante Einblicke in die Entwicklung der Zahlen in den Kulturberufen. Werfen wir einen Blick auf den Bereich „Dirigieren“, als typisches Feld für Führung und „Komposition“, als bislang männerdominiertes Fach.
Zunächst zu den Studierendenzahlen: Im Wintersemester 2003/04 waren im Fach Dirigieren 30 % Frauen anzutreffen, im Wintersemester 2018/19 – hier sind die Zahlen aufgesplittet worden – an Universitäten 29 % Frauen, an Kunsthochschulen 37 %. Im Fach Komposition betrug im Wintersemester 2003/04 der Anteil weiblicher Studierender 32 %, im Wintersemester 2018/19 an Universitäten 33 % Frauen, an Kunsthochschulen 36 %.
Freischaffende Künstler:innen
Wie setzt sich diese Entwicklung dann im Arbeitsleben fort? Interessant sind hier die in der Künstlersozialkasse (KSK) angemeldeten freischaffenden Künstler:innen:
1995 waren im Bereich „Komposition“ 1.925 männliche Versicherte gemeldet und 160 weibliche; 2019 teilten sich die Daten auf in 3.359 Männer (+74,49 % gegenüber 1995) und 412 Frauen (+157,50 %). Auch wenn die absolute Zahl an Frauen deutlich gestiegen ist, liegt der Frauenanteil hier bei nur ca. 11 %. Wenn man bedenkt, dass knapp ein Drittel der Studierenden weiblich ist, stellt sich die Frage, wo der restliche Anteil der Komponistinnen geblieben ist.
Im Feld „Dirigieren“ waren 1995 bei der KSK als Kapellmeister/Dirigent 138 Männer registriert und (nur!) 14 Frauen. 2010 lag die Zahl der Männer bei 326 (+136,23 % gegenüber 1995), die der Frauen bei 43 (+207,14 %). Der Frauenanteil lag also 1995 bei 9,2 %, im Jahr 2010 immerhin bei 11,65 %. In der Chorleitung waren 1995 183 Männer und 89 Frauen gemeldet; 2010 waren es 483 Männer und 397 Frauen. Das ist eine sehr deutliche Entwicklung: 255 Männer mehr, 308 Frauen mehr, eine Erhöhung des Frauenanteils von 32,72 % auf 45,11 %. Ab 2013 fassen die Daten beide Felder des Dirigierens zusammen zum Bereich „Dirigent/in, Chorleiter/in, Musik. Leiter/in“, in dem 2019 Männer mit 1.143 Personen vertreten sind und Frauen mit 761 (Frauenanteil 39,97 %).
Gender Pay Gap
Das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt gemäß Zahlen der KSK 2010 im Bereich Kapellmeister/Dirigent bei Männern 18.873 € und bei Frauen 10.521 € (−44 %) und im Bereich Chorleitung bei Männern 14.865 € und bei Frauen 9.763 € (−34 %). 2013 dann im Feld „Dirigent/in, Chorleiter/in, Musik. Leiter/in“ bei Männern 16.239 € und bei Frauen 10.355 €; 2019 liegen die Zahlen für Männer bei 18.530 € und für Frauen bei 12.352 €.
Im Bereich „Komposition“ verdienten Männer im Jahr 2010 durchschnittlich 15.863 € und Frauen nur 9.153 € (−42 %); 2019 waren dann bei Männern 22.336 € im jährlichen Budget und 12.335 € für die Frauen (-45%).
Bewerbungen: Der Vorhang
2020 schreibt die „Die Zeit“: „Exakt 38 Jahre liegen zwischen der Anstellung der Violinistin Madeleine Carruzzo als erste Frau bei den Berliner Philharmonikern und der aktuellen Diagnose der Deutschen Orchestervereinigung (DOV): dass „die Zukunft der Orchester (…) weiblich“ sei. 1971 waren sechs Prozent der Orchestermitglieder weiblich, 2019 beachtliche 41 Prozent. Eine immense Entwicklung! Allerdings nicht ohne Unterstützungsmaßnahmen: Nach und nach haben immer mehr Orchester bei Probespielen die Bewerber:innen hinter einem Vorhang spielen lassen, um eventuelle Geschlechtervorurteile auszuschalten und für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Der Vorhang – ein Tool, das sich offenbar bewährt hat, wenn es um Chancengleichheit bzgl. der Geschlechter innerhalb der Orchester geht. Und gleichzeitig: Für wirkliche Chancengleichheit sind wir alle gefordert, ehrlich unsere Vorurteile, unsere Stereotype zu hinterfragen. Der Vorhang ist nur ein Mantel über dem, was eigentlich innerlich aufgedeckt und bewusst gemacht werden muss.
Frauen am Pult
Aber wie sieht es vorne aus, am Dirigierpult? Im Jahr 2018 führte die Deutsche Orchestervereinigung 129 öffentlich geförderte Berufsorchester auf, 2019 wurden fünf davon von Frauen geleitet.
Der Tagesspiegel schreibt 2018: „In den letzten Jahren stieg ihr Anteil auf mehr als 40 %. Statt auf dem Posten der Chefdirigentin enden die Frauen jedoch meistens als Freiberuflerinnen vor kleineren Chören, auf Assistenzposten bei Kleinstadtorchestern. Oder sie hören ganz auf.“ – Auch viele Männer haben eine ähnliche Laufbahn, aber die Chance auf eine Spitzenposition ist für sie deutlich höher. Die Luzerner Zeitung hingegen spricht 2016 von einem Wandel in den letzten 20 Jahren und meint, das Geschlecht scheint bei Dirigentinnen auf dem Weg keine Rolle mehr zu spielen.
Der finnische Professor Jorma Panula behauptete 2014, Frauen könnten nur weibliche Musik wie Debussy dirigieren, nicht aber männliche wie Bruckner und Strawinsky. Wenn nicht er und Vasily Petrenko mit ihren – diplomatisch formuliert: Mehr als zweifelhaften – Meinungen Recht haben, woran könnte es liegen und was gibt es zu tun?
Rollenerwartungen
Ein Gedankenspiel: Stellen wir uns offen zwei Fragen: 1. Gibt es Charaktereigenschaften, die für Sie, für uns, stereotyp männlich sind oder stereotyp weiblich? 2. Welche Rollenerwartungen haben wir an einen Dirigenten, an eine Dirigentin? Neben fachlicher Kompetenz, guter Führung und und und … Gibt es da Erwartungen, die mitschwingen, die mit dem Geschlecht zu tun haben?
Vielleicht kommen bei der ersten Frage Antworten wie: Frauen sind eher kooperativ, intuitiv, emotional, passiv, beziehungsorientiert, einfühlsam und kommunikativ und Männer eher dominant, autonom, selbstsicher, aktiv, rational, tatkräftig und leistungsorientiert? Solche Stereotype scheinen für Frauen stärker in Konflikt zu treten mit Eigenschaften von Führungsrollen wie führungswillig, autonom, beherrscht, selbstsicher, dynamisch, rational, entscheidungsfreudig, konfliktbereit, konkurrenzorientiert, rücksichtsvoll und kommunikativ. Zur zweiten Frage zitiere ich einen Chorsänger: „Na, wenn Du als Frau dirigierst und führst, dann erwarten die Sänger:innen doch unbewusst noch ganz andere Dinge von dir. Da sind andere Projektionen da: das Mütterliche, das Umsorgende, Fürsorgliche, Warmherzige …“ Ich lasse diese Bemerkung, diese Beobachtung offen stehen – mit der Einladung, hinzuspüren und zu überlegen, ob das so ist. Wenn ja: Welche Konsequenzen ergeben sich daraus z. B. im Hinblick auf die Akzeptanz von Grenzsetzungen, Klarheit, Konsequenzen usw.?
Die gläserne Decke
Rollenerwartungen sind auch eine Begründungslinie, wenn man über die sogenannte gläserne Decke spricht. Dieser Begriff (vom Englischen: glass ceiling) beschreibt das Phänomen, das verhindert, dass Frauen bis ins obere Management vordringen können.
Eine Begründung für die „Gläserne Decke“ liefert der sogenannte Backlash-Effekt: Dieser meint u. a., dass Frauen sich entweder „typisch weiblich“ oder gemäß den Stereotypen einer Führungsrolle verhalten können. Im ersten Fall verhalten sie sich eben wie eine Frau, aber nicht wie ein Boss. Im zweiten Fall wie ein Boss, aber nicht wie eine Frau (Rolleninkongruenz), wirken also nicht authentisch.
Andere Erklärungsmuster führen die Männerkultur in Unternehmen ins Feld (Förderung von Männern durch Männer, wenig Zugang für Frauen zu Netzwerken). Andere beschreiben, dass Frauen als Minderheit in Führungspositionen auch als Minderheit wahrgenommen werden und diese Wahrnehmung dominant ist gegenüber der Wahrnehmung der individuellen fachlichen Qualifikation. Außerdem findet Karriereaufstieg v. a. im Alter von 30–35 Jahren statt – in dieser Zeit sind Frauen aber wegen Familienplanung häufig nur bedingt am Berufsleben beteiligt.
Forschungsergebnisse zeigen, dass es die Gläserne Decke nach wie vor gibt, aber diese nicht im Profil oder den Qualifikationen der weiblichen Führungskräfte begründet ist.
„Weiblicher Führungsstil“?
Simone Young:
„Ich glaube, wir machen grundsätzlich einen Fehler, indem wir Männlichkeit mit Stärke verbinden und Weiblichkeit mit Sensibilität. Jeder Künstler braucht Stärke und Sensibilität, egal ob es Mann oder Frau ist.“
Gibt es denn überhaupt den weiblichen Führungsstil? Kommen wir zurück zum Klischee: Dem zufolge bringen Frauen in Führungsverantwortung eine besser ausgeprägte Kommunikations- und Sozialkompetenz ein, Verhandlungsgeschick, Berücksichtigung von fachlichen und emotionalen Aspekten sowie Bauchgefühl und Beziehungsorientierung.
Studien zeigen aber Uneinigkeit, ob es „den“ weiblichen Führungsstil gibt: So werden zum Beispiel Selbstdarstellung, Konkurrenz, Aggression, Führungsmotivation, Hilfsbereitschaft, Kommunikations- und Sprachstil, Veränderungs- und Anpassungswille als zentrale Kompetenzen zur Führung vermerkt. Gleichzeitig aber wird festgestellt, dass Frauen und Männer sich hinsichtlich dieser Eigenschaften nicht unterscheiden, lediglich (und da sind sie wieder, die Rollenerwartungen) werden diese Eigenschaften bei Frauen negativer bewertet. Studien (Wunderer & Dick; Bischoff) stellen fest, dass Frauen und Männer ähnlich kooperativ führen und auch bei Bedarf autoritär auftreten. Eine andere Studie findet Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften u. a. hinsichtlich der mit Führung verbundenen Werte und der Sichtweise von Strukturen und Hierarchien.
Eine weitere Studie (Norwegian Business School) untersuchte Führungskräfte im Hinblick auf die Persönlichkeitsmerkmale: emotionale Stabilität, Extrovertiertheit, Offenheit für Ideen, Geselligkeit, Gewissenhaftigkeit und Stressresistenz. Frauen kamen im Schnitt auf bessere Ergebnisse als Männer mit der einzigen Ausnahme der Stressresistenz.
Habitus
Den Begriff des Habitus hat u. a. Pierre Bourdieu geprägt als die gesamte Summe des Auftretens, das sofort die gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit deutlich macht. „Stallgeruch“ ist ein guter umgangssprachlicher Begriff für den Habitus, der ein Faktor für Aufstieg und Führung ist. Denn: Man umgibt sich am liebsten mit denjenigen, die einem ähnlich sind. Der Habitus von männlichen Führungspersonen strahlt in der Körpersprache die Botschaft „Alphatier“ aus und vermittelt Gelassenheit und Souveränität.
Mary-Ellen Kitchens vom „Archiv Frau und Musik Frankfurt“ und unermüdliche Pionierin für Frauen im Bereich Musik weist darauf hin, dass Dirigieren u. a. eine sehr visuell geprägte Tätigkeit sei: „Da spielen alle Vorurteile auch mit: Eine Frau wird eine andere Körperlichkeit haben, die man nicht per se mit diesem Berufsbild so stark verbindet.“
Transformationsprozesse: Female Shift
Antonia Brico:
„Ich bezeichne mich als Dirigenten, der zufällig eine Frau ist.“
(I call myself a conductor who happens to be a woman.)
Der sogenannte Female Shift meint den zunehmenden Einfluss von Frauen in der Gesellschaft. Positiven Schub hat diese Entwicklung bekommen, seitdem Studien belegen, dass gemischt-geschlechtliche Teams und Firmen mit 30 % Frauen in Führungspositionen die Nase vorn haben.
Gesellschaftliche Transformationen sind immer auch Transformationen auf der individuellen Ebene – entweder über die Zeit z. B. durch Generationswechsel oder durch Bewusstwerdung und Aufbrechen alter Muster, Stereotype oder Strukturen. Sie können auch verordnet werden, u. a. durch eine Frauenquote. Jedoch ist diese sehr umstritten. Auch die Bertelsmann-Studie „Führungskräfte-Radar“ zeigt diese Skepsis bei Führungskräften, ebenso gegenüber formalen Verpflichtungen zur Gleichstellung. Bemerkenswerterweise offenbart sie eine große Einigkeit zwischen männlichen und weiblichen Führungskräften dahingehend, dass zum Thema Gleichstellung keine gravierenden Probleme im eigenen Unternehmen herrschen. Gleichzeitig gehen junge Führungskräfte sehr viel selbstbewusster mit Themen der Gleichstellung um, fordern mehr Aktivität in diesem Bereich ein und haben weniger Berührungsängste gegenüber formalen Vorgaben.
Wichtiger als „die Quote“ scheinen:
Die individuelle Transformation, das Aufbrechen von Glaubenssätzen, Stereotypen, einschränkenden Rollenkonzepten. Durch Diskurs, durch eigene Entwicklung, durch ehrliche Fragen an uns selbst. Die Vermittlung der Vorteile von vielfältigen Teams auch auf der Führungsebene, die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Eine Weiterführung der Förderung von Frauen in Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert sind. Und Frauen können von Männern lernen – sich vernetzen, ihre gute Arbeit sichtbar machen, selbstbewusst und häufiger in Gehaltsverhandlungen gehen.
Ich möchte mit den Worten der Dirigentin Anna Skryleva schließen: „Aber ich will nicht, dass etwas als feministisch bezeichnet wird, was eigentlich ganz normal sein sollte.“