Eine Frage der Einstellung – auch im Chor
Geschlechtergleichheit – ein in Deutschland theoretisch weitestgehend erreichtes Ziel, in der Praxis aber oftmals nur marginal vorhanden: Diskriminierung im Kleinen wie im Großen sind an der Tagesordnung, nicht selten nahezu unbemerkt, im Einzelfall oft nicht böse gemeint, aber dennoch vorhanden – mit großen Auswirkungen auf viele Menschen. Von der Geschlechtergerechtigkeit sind wir also de facto noch ein gutes Stück entfernt.
Bei einem so abstrakten Ziel wird der persönliche Einfluss auf dessen Erreichung gerne übersehen. Jedoch besteht das Zusammenleben und –wirken von Menschen hauptsächlich aus vielen, vielen kleinen Situationen, die zusammen ein großes Ganzes ergeben – wo, wenn nicht in diesen kleinen Schritten, könnte angesetzt werden, um das große Ganze zu beeinflussen?
Aus diesem Grund möchten wir uns damit beschäftigen, wie wir als Chormenschen diesem Ziel in unserem musikalischen Kontext einen Schritt näherkommen können – dabei soll es schwerpunktmäßig um kommunikative Aspekte gehen. Wenn wir über Kommunikation im Kontext von Geschlechtern reden, dann liegt der Fokus zumeist auf stereotypen Unterschieden in einem binären Geschlechtersystem, also: was ist „typisch Frau“ und was „typisch Mann“?
Diese Fragestellungen füllen zahlreiche Regalreihen voller populärwissenschaftlicher Bücher und sicherlich viele Tausend Stunden Filmmaterial. Wissenschaftliche Untersuchungen kommen teilweise zu etwas anderen Ergebnissen: Ja, es gibt sie, Unterschiede in der weiblichen und männlichen Kommunikation, aber statistisch sind sie gar nicht mal so riesig, wie wir im Alltag oft annehmen und vor allem erscheinen sie uns deshalb so präsent, weil wir sie ständig reproduzieren. Das bedeutet, indem wir uns immer wieder darauf berufen, dass „Frauen eben so reden“ oder „Männer eben so sind“, sorgen wir dafür, dass diese Stereotype weiterhin in unseren Köpfen herumgeistern. Wenn wir im Alltag unsere Erfahrungen damit abgleichen, werden wir natürlich immer wieder Bestätigungen dafür finden – weil wir ja nach einer anderen Perspektive gar nicht gesucht haben. Daher möchte ich in diesem Artikel konkrete Ideen einbringen, wie wir unsere binäre und stereotype Prägung beiseitelegen und unsere Chorerfahrung dafür nutzen können, auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit weiterzukommen – in der „internen“, aber auch der „externen“ Kommunikation:
In Konzert- oder Auftrittsprogrammen bewusst den Anteil von Komponistinnen erhöhen
Was diesen Punkt betrifft haben Chorleiter:innen einen großen Hebel, was die Wahrnehmung von Frauen angeht. In vielen Zeiten, deren Chorliteratur wir uns bedienen, waren komponierende Frauen nicht gerade an der Tagesordnung – vor allem die Veröffentlichung der Werke von Komponistinnen geschah oftmals gar nicht oder nur im Namen der eigenen Ehemänner. Dies zieht sich in der Programmgestaltung von Konzerten fast automatisch bis heute – der Anteil von Komponistinnen in unseren Programmheften ist in der Regel verschwindend gering.
Jedoch haben sich die Zeiten seit Clara Schumann und Fanny Hensel, die den meisten immerhin noch ein Begriff sind, deutlich geändert und es gibt zum Einen zahlreiche zeitgenössische Komponistinnen, zum Anderen durch Digitalisierung und Forschung aber auch einfacheren Zugriff auf Literatur von Komponistinnen, die in früheren Jahrhunderten bereits als solche tätig waren, aber bisher nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie ihre männlichen Kollegen bekamen. Ein wunderbares Beispiel für die Aufarbeitung unzähligen Notenmaterials von Komponistinnen ist z. B. das Archiv Frau und Musik (www.archiv-frau-musik.de/repertoire-listen). Darüber hinaus bieten auch einige Verlage oder Notenversandhäuser eine explizite Suche nach Komponistinnen an. Neben einem starken gesellschaftlichen Zeichen profitieren wir als Chorsänger:innen oder Chorleiter:innen dabei im Übrigen auch noch von zahlreichen neuen und spannenden Werken, die es zu entdecken gilt.
Als Chor ist die Musik, die wir auf die Bühne bringen, unser bedeutendstes externes Kommunikationsmittel. Gerade in der musikalischen Breite erreichen wir zahlreiche Menschen aus verschiedensten Kontexten. Wenn wir dieses Mittel also nutzen, um Stück für Stück die Ungleichheit ein wenig kleiner zu machen, dann bewegen wir uns auf eine Zeit zu, in der Komponistinnen nicht mehr die Ausnahme, sondern Normalität sein dürfen.
Konsequent gendern
Dieses Mittel zur Stärkung der Gleichberechtigung ist keineswegs chorspezifisch, sondern sehr universell anwendbar – dennoch haben wir im Chor hervorragende Möglichkeiten, durch geschlechtergerechte Kommunikation Realität treffend abzubilden und zu schaffen.
Über die grundsätzlichen Überlegungen hinaus, wie Sprache die Hälfte unserer Gesellschaft nicht nur „mit-meint“, sondern auch „mit-anspricht“, gilt ja in unserem Kontext auch noch: In den allermeisten gemischten Chören ist der Frauenanteil bedeutend höher als der Männeranteil – verwenden wir hier das generische Maskulinum und sprechen konsequent von „Sängern“, unterschlagen wir nicht nur einen Teil, sondern sogar einen Großteil der beteiligten Personen. Auch unser Publikum besteht in der Regel nicht nur oder schwerpunktmäßig aus Männern. Indem wir diese vielen kleinen Alltagssituationen (zum Beispiel auf der Chorwebsite, in E-Mails, oder Programmheften) dafür nutzen, mit unserer Kommunikation dafür einzutreten, dass niemand diskriminiert wird, schaffen wir erneut viele kleine Schritte hin zu einem großen Ziel.
Übrigens:
Wenn wir dabei nicht nur Frauen und Männer gleichermaßen einschließen möchten, sondern auch weitere, nicht-binäre Geschlechter, dann eignet es sich weniger gut, nur von „Sängerinnen und Sängern“ zu sprechen oder Schrägstriche bzw. Klammern zu verwenden, sondern dann bieten sich das Gender-Sternchen (z. B. „Sänger*innen“), der Gender-Gap (z. B. „Zuhörer_innen“) oder der Gender-Doppelpunkt (z. B. „Besucher:innen“) an. Durch diese Zeichen werden alle weiteren Geschlechteridentitäten mit angesprochen und niemand ausgeschlossen. In der gesprochenen Kommunikation werden diese Zeichen mit einem Verschlusslaut ausgesprochen, der geneigten Chorsänger:innen auch umgangssprachlich als „Glottisschlag“ bekannt ist – daher sollte gerade uns Chormenschen, die wir an den bewussten Einsatz der Stimme auch in sehr kleinen Details gewöhnt sind, diese Aussprache nicht sonderlich schwerfallen.
Natürlich wird das Thema gendergerechte Sprache allgemein kontrovers diskutiert und es ist verständlich, wenn zahlreiche Menschen zunächst zurückhaltend reagieren, wenn es um grundlegende Neuerungen geht, die bisherige Gewohnheiten auf den Kopf stellen. Hier können wir wieder aus unserem reichen Erfahrungsschatz schöpfen: Welche:r Chorsänger:in hat nicht schon einmal die Situation erlebt, dass sich ein zu erarbeitendes Stück zunächst allzu kompliziert und ungenießbar darstellte, nach einiger Probenarbeit und Gewöhnung jedoch plötzlich viel leichter von der Hand (bzw. der Stimme) ging und es vielleicht sogar in die Liste der persönlichen Lieblingsstücke geschafft hat? Diese Erfahrungen, sich immer wieder auf neue Dinge einzustellen und Offenheit zu zeigen, können ganz hervorragend auf andere gesellschaftliche Themen übertragen werden.
Ab und zu eine systemische Perspektive einnehmen
Wir als Menschen sind egozentrisch – im besten Wortsinn. Wir gehen in erster Linie von unseren eigenen Erfahrungen und Standpunkten aus, wenn wir die Welt betrachten. Dennoch ist es wichtig, dass wir auch die Fähigkeiten zur Empathie und zur Abstraktion nutzen. Gerade im Kontext von Diskriminierung gibt es immer wieder Situationen, in denen diese relativiert oder negiert wird (z. B. „Also ich habe mich als Frau noch nie benachteiligt gefühlt“). Aber nur, weil einzelne Menschen diese Erfahrung nicht gemacht haben, bedeutet dies nicht, dass keine systemische Benachteiligung vorhanden ist – wenn wir also zu den Glücklichen gehören, die bisher zumindest bewusst keiner Diskriminierung ausgesetzt waren, dann vergessen wir nicht, dass dies kein Maßstab für alle anderen sein muss – und informieren wir uns, wo es vielleicht Kontexte gibt, die wir bislang noch gar nicht wahrgenommen haben. So können wir sensibel sein für Ungerechtigkeiten und unsere eigenen Erfahrungen weiterentwickeln. Als Sänger:innen und Chorleiter:innen verfügen wir bereits über einen ganz entscheidenden Vorteil im Erfahrungsschatz: Wir wissen, dass wir – was auch immer unser Ziel sein mag – es nur in Gemeinschaft erreichen. Vielfalt und Unterschiedlichkeit sind im Chor an der Tagesordnung und eine wichtige Grundlage für das gemeinsame Schaffen (und dies nicht ausschließlich in gemischten Chören). Wenn wir diesen Vorteil und diese Erfahrungen nutzen, um auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit mit gutem Beispiel voranzugehen, dann haben wir hervorragende Möglichkeiten, in die Gesellschaft hineinzuwirken.