Sexismus und seine Grenzen in der Hobbychor-Szene
Die Vorbereitung auf diesen Text endet mit einer Reihe von Absagen. Sänger:innen, Chöre, Chorleiter:innen: Zum Thema Gleichberechtigung und Sexismus im Hobbychor-Bereich möchte niemand mit mir sprechen. Begonnen hat alles mit einer Google-Suche. „Sexismus Amateurmusik“. Keine wirklichen Treffer. Ich stoße auf ein musik-soziologisches Forschungsprojekt, in der das Thema Sexismus im Hip Hop gestreift wird. Sonst sieht es dünn aus zum Thema Sexismus in der Chormusikszene und über Perspektiven der Gleichberechtigung.
Protokoll einer Recherche.
23.8. Erste Gedanken zum Thema
Die komplizierte Recherche scheint symptomatisch. Die Sexismus-Debatte ist seit den großen Hollywoodskandalen von 2016 allgegenwärtig. Und meine gefühlte Wahrheit sieht so aus: Es gibt drei große Pole. Die einen sind absolut genervt von der ganzen Debatte und können den Wirbel nur schwer verstehen. Die anderen verstehen sich als Feminismus-Aktivistinnen und wollen den kompletten Umbruch, sofort, kompromisslos. Und dann gibt es die dazwischen, die der Sexismus nervt, wütend macht, die aber auch denken: Es braucht Zeit und vor allem noch mehr Unterstützung von Frauen untereinander. Es ist nicht leicht mit dem Sexismus, denn er ist nicht für alle zugänglich und damit auch nicht für alle verständlich. Ein bisschen so wie Blütenstaub, nur kurz zu sehen und schnell verwischt, schwer einzufangen, zumindest oft. Klar gibt es die eindeutigen Sprüche, die eindeutige Benachteiligung von weiblich gelesenen Personen an der Arbeit, im Hobbybereich oder privat. Jüngst wurden Vorwürfe am Grünen Hügel in Bayreuth laut. Sexuelle Belästigung und Grabschereien, berichtet der Bayerische Rundfunk im August. Nur ein Beispiel von vielen. Aber Sexismus 2022 ist vor allem eines: subtil. Es ist z. B. der Tonfall in der Stimme des Versicherungsberaters, der lustig leichtfüßig impliziert: „Du hast keine Ahnung Schätzchen, aber halb so wild.“ So offen aussprechen würde das heute wohl kaum jemand mehr. Laut Duden meint Sexismus die „Vorstellung, nach der ein Geschlecht dem anderen von Natur aus überlegen sei, und die [daher für gerechtfertigt gehaltene] Diskriminierung, Unterdrückung, Zurücksetzung, Benachteiligung von Menschen, besonders der Frauen, aufgrund ihres Geschlechts“. Und diese „Vorstellung“ macht es herausfordernd. Sie ist schwer greifbar, schwer zu benennen, aber schwingt eben oft noch mit, meist unterbewusst. Die Frage ist nicht nur: War die Aussage oder Handlung sexistisch? Sondern vor allem: Hätten Sie die Frage genauso auch einem Mann gestellt? Den Spruch gebracht? Die anzügliche Geste gemacht?
7.9. Interview-Absagen: Sexismus nicht zu beobachten?
Die häufigste Antwort auf diese Recherche war: „Ich kann dazu nicht wirklich was sagen.“ Auch meinen Kolleg:innen für diese Ausgabe ging es teilweise so. Zum Thema Sexismus im Chor findet man kaum jemanden, der darüber sprechen möchte. Viele sagen: „Ich habe nichts beobachtet oder wahrgenommen.“ Und das ist zunächst ein sehr erfreulicher Zwischenstand. Denn anscheinend fühlen sich Frauen und Männer in ihren Chören und Ensembles gleichberechtigt, auf Augenhöhe behandelt und wertgeschätzt. Der Hobbychor scheint ein sicherer Raum, in dem sexistisch aufgeladene Stereotype keinen Platz haben. All das ist im Konjunktiv formuliert, weil diese Aussagen nicht allgemeingültig sind. Sie sind ein Stimmungsbild unserer SINGEN-Recherche, aber haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine repräsentative Studie zur Frage: „Nehmen Sie Sexismus in der Chorszene wahr?“ gibt es nicht. Allerdings gibt es eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum Thema „Sexismus im Alltag“. Durchgeführt wurde sie im Jahr 2022 und zeigt: „Der Begriff Sexismus ist weit bekannt. Es gibt kaum jemanden, der dieses Wort noch nie gehört hat; bei allen löst er spontan Bilder aus und aktiviert Einstellungen. Insofern ist der Begriff im Allgemeinbewusstsein verankert und müsste eigentlich geeignet sein für einen gesellschaftlichen Dialog zu dem Thema.“ Aber die Forschenden betonen auch, dass eben nicht alle Menschen das Gleiche unter Sexismus verstehen. Manche fühlen sich von der Debatte bedroht in ihrem Wertesystem, andere wahrgenommen. „Damit stößt man auf den Befund, dass das Thema Sexismus eng mit der Weltanschauung verknüpft ist: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Eine gesellschaftlich von allen geteilte gemeinsame Utopie gibt es offenbar nicht (mehr).“ Auch das kann ein Grund sein, warum kaum jemand für ein Gespräch bereit ist: Die Angst, sich angreifbar zu machen im gesellschaftlichen Diskurs.
10.9. Umfrage im Freundeskreis
Da kaum jemand zu dem Thema Auskunft geben wollte, habe ich beschlossen, meine Freunde zu befragen. In meinem Freundeskreis ist es so, dass Frauen überlegen: Ziehe ich das rosa Oberteil im wichtigen Job-Termin an oder werde ich dann nicht ernst genommen? Bin ich die Zicke, wenn ich jetzt noch ein Gegenargument in dieser Männerrunde bringe? Erzähle ich männlichen Freunden von genau diesen Beispielen, fällt es manchen von ihnen schwer, nachzuvollziehen, inwiefern das Sexismus ist. Und das ist ok, es zeigt aber auch, wie kleinteilig und nuancenreich sich die ganze Debatte gestaltet. Meine Freundinnen, von denen einige der Beispiele aus diesem Text stammen, verstehen sofort, was ich meine. Denn auch das gehört dazu: Oft ist es eben ein Gefühl, das mitschwingt. Dabei ist die Sexismus-Debatte keine Modediskussion, für die sie gewiss manche halten. Mit ihr verbunden sind Fragen der Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Fairness. Das zeigt beispielhaft eine Studie zur gendergerechten Sprache des Sozialpsychologen Dries Vervecken aus dem Jahr 2015. Dr. Anne Klostermann von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie fasst die Ergebnisse der Studie so zusammen: „Wenn Berufe in einer geschlechtergerechten Sprache dargestellt werden (Nennung der männlichen und weiblichen Form, zum Beispiel „Ingenieurinnen und Ingenieure“ statt nur „Ingenieure“) schätzen Kinder typisch männliche Berufe als erreichbarer ein und trauen sich selbst eher zu, diese zu ergreifen.“ Repräsentation ist das Schlüsselwort. Das gilt auch für Rollen in Vereinen und anderen öffentlichen Funktionen. Nehmen Mädchen in jungen Jahren z. B. Chorleiter:innen wahr, dann können sie sich eher vorstellen, dass sie das auch werden können.
11.09. Qualifikation statt Geschlecht
Im Austausch mit Kolleginnen aus der SINGEN-Redaktion, die an dieser Ausgabe mitgearbeitet haben, fiel auf: Zum Thema Sexismus und zur Rolle der Frau möchten einige Frauen auch deshalb nichts sagen, weil sie selbst genervt davon sind, immer mit diesem Themenbereich verknüpft zu werden. Das heißt nicht, dass sie nicht offen sind für einen transparenten Diskurs zum Thema. Aber im Vorgespräch sagte mir eine Künstlerin: „Wir müssen uns schon fragen: Ist dieser Ansatz nicht wesentlicher Teil des Problems?“ Jahrhundertelang waren Frauen im Musikbetrieb stark unterrepräsentiert. Komponistinnen wie Fanny Hensel oder Lili Boulanger sind da nur zwei von der Musikwissenschaft exponiert hervorgehobene Beispiele von vielen. Zu Lebzeiten gefeiert und gefördert, zumindest soweit es im Rahmen der Strukturen des 19. Jahrhunderts denkbar war für sie als Frauen. Später von der Musikwissenschaft harsch bewertet, dann hoch gefeiert als weibliche Komponist:innen-Genies.
Andere, wie die Barockkomponistin Francesca Caccini wurden Jahrhundertelang gänzlich vergessen. Ähnlich ging es auch männlichen Kollegen. Die wurden aber zu großen Teilen in der Geschichtsbegeisterung des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt. Weiblichen Komponist:innen wurde diese Ehre nicht zu Teil. Die Musikwissenschaft und Musikästhetik war rein männlich geprägt. Diese Genese von der langen Ignoranz bis zur bewussten Rezeption weiblicher Komponist:innen lässt sich in großen Teilen auch auf Sänger:innen, Musiker:innen und Dirigent:innen übertragen. Heute finden die in der öffentlichen Wahrnehmung viel mehr statt, als noch vor 100 Jahren, wenngleich auch noch viel zu wenig. Das zeigt auch eine Studie aus dem Jahr 2021 zur Frage „Inclusion in the Recording Studio? Gender and Race/Ethnicity of Artists, Songwriters & Producers across 900 Popular Songs from 2012-2020“. Das Ergebnis: Von 900 Songs, die zwischen 2012 und 2020 in den Charts waren, wurden durchschnittlich 12,6 % mit weiblicher Beteiligung verfasst. Die restlichen 87,4 % haben Männer erstellt. Die Gründe dafür sind vielfältig, doch es gibt eine Vielzahl weiblicher Künstler:innen. Die Frage ist: Bevorzugt das System Charts männliche Künstler? Noch einmal zurück zur Berichterstattung über Frauen im Musikbereich: Wenn eine Chorleiterin eines Frauenchores kein Interview zum Thema Sexismus in der Chorszene geben möchte und fragt: „Ist das überhaupt ein Thema?“ heißt das nicht, Sexismus sei kein Thema. Sondern: Sexismus-freie Berichterstattung behandelt alle auf Augenhöhe und meint auch, Gesprächspartner:innen zur Sache zu befragen und weniger zum Themenbereich Sexismus. Eine junge Dirigentin erzählte mir einmal, dass sie sich fragt: „Wollen die Medien nur mit mir sprechen, weil ich eine Frau bin? Sehen sie nicht meine künstlerische Leistung?“ Um die sollte es letztlich gehen.
14.09. Perspektiven für die Chorarbeit
Das Thema Sexismus ist oft unterschwellig in den Alltag verwoben. Wir alle sind gewissermaßen mit sexistischen Rollenzuschreibungen sozialisiert. Unsere Gesellschaft aber hinterfragt nach und nach bestehende Konventionen und Verhaltensmuster immer öfter. Aus wissenschaftlicher Perspektive tut das auch Prof. Marion Gerards, die zum Thema gendersensible Musikarbeit forscht. Dazu zählt auch „die Erweiterung von musikbezogenen Handlungsoptionen jenseits einschränkender Geschlechterkonzepte“. Ihre Ideen, wie das Gelingen kann, hat Prof. Gerards im Fachartikel „Genderreflexive Soziale Arbeit mit Musik“ 2019 zusammengefasst. „In diesen Kontexten sieht sich eine gendersensible Musikarbeit dem Dilemma ausgesetzt, dass beispielsweise durch eine geschlechtsdifferenzierende Soziale Arbeit (z. B. Bandworkshop für Mädchen; Percussion-Workshop für straffällig gewordene junge Männer) genau die Dichotomie von männlich-weiblich reproduziert werden kann, die man eigentlich überwinden möchte.“ Wann ist ein Angebot speziell für ein Geschlecht sinnvoll in der musikalischen Arbeit und wann begünstigt es die Reproduktion alter Stereotype? Gerards gibt keine Antwort vor, sondern lädt ein, sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Es geht also darum, allen, unabhängig vom Geschlecht, eine Teilnahme am musikalischen Angebot zu ermöglichen. Ein Einsatz, der sich auch sehr gut auf die Chorpraxis übertragen lässt. „Eine gendersensible Lied-Auswahl hinterfragt beispielsweise geschlechtstypische Darstellungen von Berufen: Im Lied „Wer will fleißige Waschfrauen sehen“ sollte es dann auch „Waschmänner“ geben oder in „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider“ könnte der Schatz auch eine Polizistin sein. Und ebenso wie es Mädchen ermöglicht werden sollte, laute Instrumente wie Schlagzeug oder Trompete zu spielen, sollten Jungen Harfen ausprobieren oder Ballett und Gesang für sich entdecken können.“ Aber auch für die Arbeit mit Geflüchteten ergeben sich aus Gerards Überlegungen Fragen wie: „Warum Musikprojekte mit männlichen Jugendlichen mit sogenannter Migrationsbiografie (fast) ausschließlich als Hip-Hop-Projekte konzipiert sind“. Und auch bei der Arbeit mit Senior:innen ist es nach Gerads sinnvoll, nach relevanter Musik zu suchen, „die in der Biografie der Menschen eine Rolle gespielt hat“.
24.9. Abgabe und Ausblick
Wie viel Sexismus gibt es in der Hobby-Chorszene? Nach der schwierigen Recherche ist das Fazit: eher wenig. Aber es ist trotzdem gewinnbringend, sich Gedanken dazu zu machen, zu reden, zu streiten, zu diskutieren und verschiedene Ansätze auszuhalten. Aber vor allem ist es wichtig, eine Frage weiterzuverfolgen: Wie können wir noch mehr Gleichberechtigung schaffen? Was hilft uns in der täglichen Vereins- und Chorarbeit dabei, noch besser zu werden? Denn letztlich können wir nur so ein kulturelles Angebot schaffen, was möglichst viele anspricht und niemanden ausschließt.