Über die Notwendigkeit von Stimmbildung als Qualität erhaltendes und steigerndes Angebot – und als Standortfaktor für Chöre
Behutsam trennt sie das Kopfstück am Korkring vom Mittelstück. Mit einem Tuch streicht das Mädchen über die hölzerne Oberfläche, anschließend das Mundstück. Dann entfernt sie mithilfe des Wischers sanft Speichel und Staub aus dem Inneren der Röhre. Vorsichtig legt sie die Einzelteile in das spezielle Kästchen und achtet darauf, es sauber zu verschließen. Das Instrument ist nun bereit für den nächsten Gebrauch. In aller Regel lernen Kinder ganz selbstverständlich den verantwortungsbewussten Umgang mit ihrer Blockflöte – jenem Klangkörper, das den meisten von ihnen das Tor zur Instrumentenwelt öffnet. Von Grund auf wird ihnen beigebracht, wie sie ihr Instrument pflegen müssen, damit es funktionstüchtig bleibt – und auch, was sie besser bleiben lassen sollten, weil es ihm schaden könnte. Kratzer im Blech, Schnitzer im Holz, Risse in der Oberfläche – sie sind der Graus eines jeden Musizierenden. Ist der Unfall passiert, sind diese Schäden sichtbar. Und stellen sie sich als irreversibel heraus, kann das Instrument gegen ein neues ausgetauscht werden.
Wer singt, sieht weder Stimmbänder noch Schleimhäute und hat keine Chance, ggf. Besorgnis erregende Veränderungen optisch oder haptisch wahrzunehmen. Um die Unversehrtheit der eigenen Stimme zu überprüfen, braucht es neben einem sensiblen Körpergefühl eine:n Hals-Nasen-Ohren-Mediziner:in oder den/die Stimmspezialist:in – den/die sogenannte:n Phoniater:in –, der/die mit technischen Hilfsmitteln in den Kehlkopf schaut. Die Stimme als Instrument zum Singen ist nicht greifbar und das wiederum ist eine große Gefahr für ihre langfristige, uneingeschränkte Funktionalität.
Wer singt, kann sich im Schadensfall kein neues Instrument kaufen. Und eine Reparatur ist je nach Diagnose langwierig, mit großen Einschränkungen verbunden und manchmal in voller Gänze auch gar nicht mehr möglich.
Stimmbildung vs. Gesangsunterricht
Unzweifelhaftes Ziel muss also sein, die Stimme gesund zu halten. Um das Risiko für Erkrankungen auf ein Minimum zu reduzieren, führt also kein Weg vorbei an: der Stimmbildung.
Vielfach werden Stimmbildung und Gesangsunterricht als Synonyme verwendet. Das kann sein – doch zielt die Stimmbildung an vorderster Stelle auf einen bewussten, gesunden und bedarfsorientiert angemessenen Umgang mit der eigenen Stimme ab. Technische Anleitungen zur Professionalisierung der Stimme, die Arbeit an Repertoire und eine interpretatorische Gestaltung sind dann eher Teil des Gesangsunterrichts. Der jedoch funktioniert nur auf Basis der Stimmbildung. Egal, ob als Profi, Amateur:in oder Kind in der Grundschule: Der bewusste und sensible Umgang mit der Stimme ist Grundvoraussetzung für das Singen.
„Ach, jetzt ziere dich nicht so! Singen kann doch jede:r“, heißt es gern mal hier, mal da. Und schon geht’s los; zuweilen ungeniert und ungeachtet mancher Stolperfallen wird dann geschmettert.
Es ist wie Fahrradfahren: Im Prinzip kann es jede:r (lernen), aber gewisse Regeln müssen beachtet werden, damit es möglichst lange gutgeht.
Nun soll die Sing-Euphorie an dieser Stelle keinesfalls gebremst werden: Es ist ein großes Geschenk, dass das Hobby Singen nicht mit kostspieligen Instrumenten-Anschaffungen verbunden ist und grundsätzlich jede:r mitmachen kann. Nun soll vor dem Singen auch niemand Angst oder Hemmungen bekommen, denn bis die Stimme dauerhaft Schaden nimmt, muss schon einiges passieren. Aber – und das ist das zentrale Thema dieser SINGEN-Ausgabe:
Die Notwendigkeit von Stimmbildung im Zusammenhang mit dem (Chor-)Singen sollte nicht unterschätzt und die Sensibilität für die Funktionalität der Stimme geschärft werden!
Gewissermaßen lässt sich Stimmbildung als Prophylaxe bezeichnen. Und in Prophylaxe zu investieren, zahlt sich aus: für einen selbst, aber auch für die Menschen um einen herum, die auf einen zählen. Also zum Beispiel ein Chor, der naturgemäß daran interessiert ist, bestenfalls ausnahmslos fitte, motivierte und leistungsstarke Stimmen in seinen Reihen zu wissen, um eine möglichst hohe Klangqualität erreichen zu können.
Dass fachkundige Stimmbildung eine sinnvolle Sache ist, wird also kaum jemand bestreiten. Ob man ein solches Angebot aber im eigenen Chor etabliert, entscheidet sich dann häufig an anderer Stelle: beim Blick aufs Budget. Denn klar ist: Professionelle Stimmbildung durch eine:n ausgebildete:n Gesangspädagog:in kostet Geld. Und da sie mancher entscheidungstragenden Person entbehrlich scheint – weil ein Konzert auch ohne zusätzliche Stimmbildung stattfinden kann – mag sie im Etat eines Vereins oft keine Berücksichtigung finden.
Entscheidendes Kriterium für die Chorwahl
In Zeiten, in denen Freiwilligengewinnung und das Werben neuer Vereinsmitglieder und Mitsänger:innen zunehmend an Bedeutung gewinnen, kann Stimmbildung aber auch das Zünglein an der Waage sein: Vielleicht entscheidet sich eine Person auf Chorsuche gerade deswegen für einen bestimmten Chor, weil dieser seinen Mitgliedern während den Proben regelmäßig Stimmbildung anbietet?
Wegweisend ist dann, dass die Einheiten regelmäßig und als Einzelunterricht stattfinden. Die Kompromisslösung einer Stimmbildungseinheit für die gesamte Chorgruppe ist zwar auf jeden Fall besser als gar kein Stimmbildungs-Angebot, wird die gewünschte Wirkung aber vermutlich nicht erzielen können.
Einzel-Stimmbildung kann durch individuelle Qualitätssteigerung nämlich nicht nur den Chorklang voranbringen, sondern dient auch der persönlichen Entwicklung sowohl der Sing- als auch der Sprechstimme. Damit erhöht ein Chor unter Umständen die Wahrscheinlichkeit, seine Mitglieder dauerhaft zu halten, da er in sie investiert und ihnen das Gefühl vermittelt, dass jede:r Einzelne nicht nur zum Zweck des gemeinschaftlichen Ziels, sondern auch in seiner/ihrer individuellen Entwicklung gefördert wird.
Umgang mit Veränderungen lernen
Ein Aspekt, der nicht unerwähnt bleiben soll, ist die kontinuierliche Veränderung der Stimme. Sie ist ein Muskel und muss trainiert werden. Wie beim Sport nimmt aber die Leistungsfähigkeit naturgegeben mit zunehmendem Alter ab. Ein sicherer Umgang, eine sensible Beobachtung und ständiges Neu-Kennenlernen der eigenen sich verändernden Stimme ist daher unerlässlich. Gesangsunterricht in jungen Jahren ersetzt mitnichten Stimmbildung im Alter.
Und obendrein entlastet ein:e eigens hierfür engagierte:r Pädagog:in den/die Chorleiter:in, der/die sich dann voll und ganz auf seine/ihre Kernkompetenz konzentrieren kann.
Wer mit einer verbindlichen Einführung noch fremdelt, kann mit einer Schnupperstunde oder anderen schrittweisen Modellen beginnen, sich an eine regelmäßige Stimmbildung heranzutasten. Jede Stimmbildungseinheit ist es wert, sie anzubieten. Denn die Gesundheit der Stimme liegt für jeden Menschen in der eigenen Verantwortung.