Warum es wichtig ist, den Unterschied von Hobby und Freizeitbeschäftigung zu kennen und welche Aha-Erlebnisse Chören helfen
Den langfristigen Erfolg als Ziel der Unternehmung peilen Wirtschaftsbetriebe und Chöre gleichermaßen an. Die SINGEN hat mit der Betriebswirtin und Expertin für Vereinsentwicklung in der Amateurmusik, Jutta Mettig, über Profilierung, Außendarstellung, Erfolgsmodelle und Findungsprozesse gesprochen.
Frau Mettig, Sie sind Betriebswirtin und waren lange Managerin. Als Trainerin und Business Coach beraten Sie seit über 25 Jahren Handwerksbetriebe und mittelständische Unternehmen. Musik ist Ihr zweites berufliches Standbein, denn auch Musikvereine und -verbände coachen Sie in Sachen Zukunftsstrategie, teambasierte Führung oder Konfliktmanagement. Wie kam das?
Meine Mutter war Musiklehrerin, mein Vater beim Deutschen Musikrat tätig. Wir Kinder kamen früh mit Instrumenten in Kontakt und gesungen wurde von Anfang an. Ich konnte mir jedoch keinen musikalischen Beruf vorstellen. So hab ich mich für BWL entschieden und Musizieren war immer ein toller Ausgleich, ob als Klarinettistin in diversen Ensembles oder Altistin in verschiedensten Projektchören.
Aber der Ausgleich zum Job wurde dann doch zu einem beruflichen Thema.
Ja, sobald ich Mitglied in einem Verein bin, will ich da auch mitgestalten. Ich bin nicht so die Mitläuferin, sondern denke visionsorientiert in die Zukunft. Stillstand ist für mich schwer zu ertragen. So kam ich in verschiedene Vorstandsämter und es hat sich organisch so ergeben, dass ich meine berufliche Expertise perfekt mit der Beratung von Musikvereinen verbinden konnte.
In den letzten drei Jahren haben Sie für Musikvereine und -verbände an die 150 Workshops, Vorträge und Coachings gegeben. Hat die Pandemie lange schwelende Probleme verstärkt und die Chöre erkennen nun die Dringlichkeit anzupacken?
Themen wie fehlender Nachwuchs beschäftigen die Amateurmusik schon seit Jahren, aber vielleicht haben sie die eher ausgeblendet. Corona hat das sichtbarer gemacht. Förderprogramme wie „Neustart Amateurmusik“ gaben dann mitunter den Ausschlag, sich professionelle Hilfe zu holen. Allein im Jahr 2022 habe ich in Baden-Württemberg 18 Chöre beraten.
Wo brennt es am meisten? Was ist für Chöre der Anlass, sich an Sie zu wenden?
Tatsächlich meist das Thema Nachwuchs und die Frage nach der zukünftigen Existenz. Viele Erwachsenenchöre werden sich bewusst, dass sie gemeinsam gealtert sind. Übrigens gibt es das in der Orchesterszene seltener, da funktionieren Nachwuchsarbeit und Zusammenarbeit der Generationen besser.
Bei welchen Problemen helfen Sie konkret?
Zum Beispiel: Wie können wir einen neuen Chor unter dem Dach unseres Vereins gründen, wenn wir den jetzigen Chor schon nicht verjüngen können? Wie schaffen wir bessere Strukturen für Mitgliederbeteiligung? Was ist wirklich Aufgabe des Vorstands und was reine Bequemlichkeit, die man den anderen Vereinsmitliedern anbietet? Wie lernen Vorstandschaften folglich, Aufgaben abzugeben?
Wenn Sie Musikvereine mit Handwerksbetrieben oder kleinen und mittelständischen Unternehmen vergleichen, alles Ihre Klientel, wo gibt es Überschneidungen, wo liegen Unterschiede?
Der wichtigste Unterschied: Vereinsmitglieder sind nicht abhängig beschäftigt beim Chor, sie gehen da freiwillig hin. Jedoch gibt es auch eine Analogie: Heute macht man einen Job nicht bloß zum Geldverdienen, er soll auch sinnstiftend sein. Im Chor ist das ähnlich. Ich frage immer: Ist das eure Freizeitbeschäftigung oder euer Hobby? Freizeit ist bequem, da konsumiere ich. Kino oder Chorprobe – das ist austauschbar. Für ein Hobby intensiviere ich meine Freizeitbeschäftigung, räume ihr Priorität ein, investiere Zeit und auch Geld – zum Beispiel übe ich auch mal zu Hause. Und dafür will ich etwas zurückbekommen, etwa dass sich die musikalische Qualität der Proben und Auftritte weiterentwickelt. Für mein Hobby engagiere ich mich, weil mir der Chor wichtig ist.
Um sich klar zu werden, warum der Chor den Mitgliedern wichtig ist und weshalb sich Engagement dafür lohnt, muss man sich erstmal über das eigene Profil verständigen, oder?
Richtig, ganz zentral ist die Frage: Was sind wir für ein Chor? Steht die Freude an Gemeinschaft und Singen im Vordergrund, und eher mit Repertoire, das wir immer schon gemacht haben? Oder sind wir ein Chor mit musikalischem Anspruch, wo jede:r Einzelne etwas investiert und klar ist, das die Anwesenheit aller in der Probe zählt?
Zur Profilbildung gehört also zuerst die Analyse des Status quo …
Genau. Und dann die Frage, was wäre ein Worst-case-Szenario für die Zukunft, was ein Best-case-Szenario? Wer kommt alles zu unseren Konzerten und besteht das Publikum nicht eher aus Freund:innen, Familie, Förder:innen, ehemaligen Mitgliedern und Menschen, die Chormusik mögen? Dann muss ich mich fragen: Ist das unser künftiges Publikum oder wird das altersbedingt auch weniger? Und erreiche ich so potenzielle neue Sänger:innen? Eher nicht.
Wenn althergebrachte Wege also nicht zum Ziel führen, muss sich ein Chor fragen: Was können, wollen und müssen wir anders machen?
Exakt: Wie stelle ich mich auf, um meine Zielgruppe zu erweitern? Was ist mein Alleinstellungsmerkmal, womit unterscheide ich mich von anderen? Je spezifischer, desto attraktiver. Sind wir ein Popchor und wenn ja, singen wir nur Oldies oder auch aktuelle Titel? Oder machen wir alle Genres und sind der Chor, der für jeden Geschmack etwas bietet: A-cappella-Literatur, Lieder der Romantik, mal eine Messe, Pop?
Ist das musikalische Profil geklärt, geht es darum, wie man seine „Corporate Identity“ nach außen trägt …
Ja, das geht schon beim Namen los: Transportiert der wirklich, was man tut? Beispielsweise habe ich einen Chor beraten, der sich Folklorechor nennt. Da hat man oft ein Ensemble in Tracht vor Augen, das regionales Liedgut singt. Dabei widmen sie sich Heimatliedern aus aller Welt, finden mit dem Namen aber keine neuen Mitglieder. Sie gaben sich dann den Zusatz „die ganze Welt im Chor zu Hause“. Ein anderer Chor heißt „Der Neue Chor“. Den habe ich dabei begleitet, ein neues Logo zu kreieren und das „Neue“ auch nach außen zu tragen. Dafür haben wir gesammelt, wofür das „neu“ aus Sicht der Mitglieder steht: aufgeschlossen und experimentierfreudig und stets dabei, sich zu verändern, die Gemeinschaft neu zu formieren. Chöre dürfen sich ruhig ihrer Einzigartigkeit klar sein und mit mehr Selbstbewusstsein nach draußen gehen. Übrigens geht das Chorsingen ja weit über den Spaß und die gute Gemeinschaft hinaus. Wir sollten auch wissen, wie wohltuend das Singen ist, was wir dabei für unsere Atmung und unsere Gesundheit tun – ähnlich zum Sport, oder für unsere geistige Fitness.
Dann wirbt es sich auch leichter für das eigene Ensemble und das Chorsingen an sich.
Eben. Und Mitgliedergewinnung sollte Aufgabe jedes Chormitglieds sein. Übrigens halte ich auch viel davon, Interessierte statt in eine reguläre Probe mal in einen Workshop einzuladen, wo sie ganz niederschwellig überhaupt erst einmal damit in Berührung kommen, was Chorgesang eigentlich ist: Mehrstimmigkeit. Viele Menschen glauben ja leider, sie könnten nicht singen. Dabei singen sie durchaus, und sei es unter der Dusche oder zum Radio. An die Mehrstimmigkeit müssen wir sie heranführen – und dafür eignen sich Konzert oder normale Probe nicht, wo alle anderen schon alles können. Chöre müssen sich Richtung Zukunft öffnen – anders geht es nicht.
Was passiert, wenn sich Chormitglieder nicht auf ein gemeinsames Profil einigen können?
Dann gehen möglicherweise diejenigen, die eine Veränderung nicht mittragen wollen, weil sie ihnen zu anstrengend ist. Oder man nimmt Rücksicht auf sie, weil sie vielleicht ohnehin in den nächsten Jahren aufhören werden, und verändert sich später. Oder der Chor kommt irgendwann zum Erliegen.
Ist denn so ein Profilfindungsprozess überhaupt für jeden Chor etwas?
Ja, selbst für einen kleinen Chor ist es interessant zu wissen: Wer sind wir, was singen wir, was sind unsere reellen Chancen für die Zukunft? Die Zeit, in der jedes Dorf einen Chor hat, ist sicher vorbei. Knapp 17 Prozent aller Menschen in Deutschland machen Musik in ihrer Freizeit [laut Bundesmusikverband Chor und Orchester 14,3 von 84,35 Millionen, Anm. der Autorin], da kann man sich fürs eigene Dorf das Potenzial neuer Mitsänger:innen ausrechnen. Man sollte dabei aber die Altersstruktur der Bevölkerung berücksichtigen und dass manche Menschen bereits völlig zufrieden damit sind, im stillen Kämmerlein zu spielen. Und wenn man dann noch kein klares Profil hat, kommt das Wachstumspotenzial an seine Grenzen.
Was sind häufige Aha-Momente von Teilnehmenden Ihrer Coachings?
Dass es einen Unterschied zwischen Freizeitbeschäftigung und Hobby gibt. Dass sich Aufgaben gut in Teilaufgaben zerlegen lassen, die man dann delegieren kann. Dass die Mehrheit der Menschen bereit ist, Aufgaben zu übernehmen, sobald diese ganz konkret formuliert sind und sie wissen, was auf sie zukommt. Und nicht zuletzt starte ich immer mit der Frage: Warum seid ihr gern im Chor? Dabei kommt meist eine kollektive Liebeserklärung an den Chor heraus, ein Aha-Moment, der motiviert.
Alleinstellungsmerkmal und Corporate Identity, Image und Markenbildung, Markt- und Zielgruppenanalyse – gibt es Vereinsleute, die Widerstände gegen diesen Professionalisierungsdruck haben?
Tatsächlich höre ich in meinen Workshops häufig: Das ist ja wie in meiner Firma hier, dabei ist das doch nur meine Freizeit. Aber anders als in der Wirtschaft ist das Chorleben ja nicht nur von Kennzahlen gesteuert. Und die Professionalität eines Chors entscheidet sich ja schon z.B. dabei, welche Priorität ich dem Probentermin im Kalender einräume. Ist es ein Nice-to-have oder ein Must-have? Jede:r Einzelne, der/die Verbindlichkeit und Priorität hoch setzt, bringt, bringt ein gewisses Maß an Disziplin ein. Ich entwickle mit den Chören dann konkrete Maßnahmen für die kommenden zwei, drei Jahre, um neue Mitglieder zu gewinnen, gebe ihnen einen Werkzeugkoffer an die Hand. Dazu gehört auch, sie darin fit zu machen, ihr Profil zu kommunizieren. Social Media ist hier unerlässlich, aber viele haben da noch große Hemmungen.
Gibt es ein Erfolgsmodell, wie Chöre zukunftsfit werden können?
Das eine Konzept, das für alle passt, gibt es nicht. Dafür sind Chöre viel zu individuell, was das musikalische Profil betrifft und auch die Menschen, die den Chor ausmachen. Ich habe da viele gute Tools und Konzepte in petto und schaue, was zum jeweiligen Chor passt.
www.vereinsworkshop.de