Andreas Mohr, Professor für Kinderstimmbildung, gibt Antworten
„Nirgends steht geschrieben, daß Singen Not sei.“ Eine endlos scheinende Spur hat der vielzitierte Satz Theodor W. Adornos über 70 Jahre Musikrezeption und Musikpädagogik, Soziologie und Schulpolitik gezogen und seit der Veröffentlichung 1954 die Akzeptanz des gemeinsamen Singens in gehörige Wallung gebracht. Bis heute wird unaufhörlich nach der Notwendigkeit von Singen gefragt, werden medizinische, soziologische, pädagogische oder psychologische Gründe bemüht, die das Singen rechtfertigen müssen. Wir dürfen nicht einfach so am Singen Spaß haben. Freude am gemeinsamen Erleben des Singens zu empfinden, ist suspekt. Unsere wissenschaftsorientierte Welt erlaubt nicht das bloße Tun. Wir sollen für das Singen Nutzungsgewinne formulieren und Mehrwert erwirtschaften.
Singen gehört zum Menschsein
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Singen gehört zum Menschsein wie Lächeln, Berühren, Anschauen. Singen ist innig, heiter, selig, ernst, mutig, draufgängerisch, zaghaft, sorgsam. Singen hat Struktur und Form, ist ebenso körperlich wie auch geistig und immer ganz und gar menschlich. Seit Urzeiten ist es so, dass sich Menschen in singenden Gemeinschaften zusammenfinden, scheinbar zweckfrei oder absichtsvoll gebunden, laut und lärmend oder meditativ verinnerlicht, voll künstlerischer Absicht oder unter bewusstem Verzicht auf gestalterischen Anspruch. Singen ist ein Humanum wie Schlafen und Wachsein, wie Aktivität und Muße, wie Essen und Trinken, wie Gehen, Stehen, Schauen, Lauschen; Menschsein eben. Und genauso wie Nicht-Schlafen oder Nicht-Gehen, Nicht-Aktivsein oder Nicht-Essen auf Dauer dem Mensch-Sein schadet, so fehlt dem Menschen auch etwas, wenn er niemals singt – auch dann, wenn er es selbst nicht merkt. Die allererste Kontaktaufnahme des Neugeborenen mit der Welt geschieht mit Hilfe der Stimmlippen als akustisches Signal und enthält im Geburtsschrei bereits die ganze Fülle der emotionalen Klangmöglichkeiten des Singens. Das Kind entdeckt lange vor den Sprachlauten das Singen als ureigene Ausdrucksmöglichkeit für das Kommunizieren mit allem, was es umgibt. Es findet immer etwas, das zum Singen animiert, mit dem sich singend spielen lässt und das zum singenden Dialog auffordert. Das singende Kind ist neugierig, hat keine Berührungsängste und erlebt und kommentiert staunend eine sich immer weiter entfaltende Welt: für sich allein schauend und träumend, oder zusammen mit anderen sich austauschend und bereichernd; im Hören, Agieren, im Reagieren und Wettstreiten, und dies ein ganzes Leben lang.
Singen im politischen, gesellschaftlichen und spirituellen Kontext
Immer wieder erfährt das gemeinsame Singen Schwankungen in der Intensität und Akzeptanz. Perioden von starken Einflussnahmen wechseln sich ab mit Abneigung und Ablehnung. Zeitweilig singen ganze Völker und stabilisieren damit ihren Zusammenhalt. Einzelne Gesänge, Songs und Chorwerke werden zu treibenden Motoren von politischen, gesellschaftlichen oder spirituellen Motivationen. Die Chorbewegung um Friedrich Silcher leitete im 19. Jahrhundert einen erheblichen Aufschwung des gemeinschaftlichen volkstümlichen Singens ein und wurde zu einem Faktor der Demokratiebewegung in Deutschland. Die britische Schulbehörde schickte mit John Hullah 1879 sogar einen Abgesandten nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz, um dem Geheimnis der hohen Singkultur auf die Spur zu kommen. Zuweilen aber wird Menschen das Singen suspekt und sie fürchten die unkontrollierte Manipulierbarkeit, die durch die Verbindung von infiltrierenden Texten mit eingängigen Melodien möglich ist. Die Jahrzehnte nach dem zweiten Weltkrieg waren geprägt von dieser Skepsis dem Singen gegenüber und fanden in Adornos oben zitiertem Satz ihren prägnanten Ausdruck, was nicht nur im deutschsprachigen Raum in den 60er- bis 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer Verarmung der Singkultur führte. Wer in diesem Zeitraum Schulkind war, hat das Singen im schlechtesten Fall kaum kennengelernt oder vertiefen können. Nicht Musikmachen mit der Stimme stand im Vordergrund der musikpädagogischen Erziehung, sondern das Hören und Verstehen, das Analysieren und Beschreiben von Musik. Es drohte der Verlust des Singens als gemeinschaftsfördernde Kraft.
Fachpersonal in Kitas benötigt
Seit Mitte der 90er-Jahre haben verantwortliche Musikpädagoginnen und Musikpädagogen verstärkt auf das Verschwinden des Singens hingewiesen und mit der Schaffung von Sing- und Chorklassen an Grund- und weiterführenden Schulen eine Wiederbelebung des Singens in die Wege geleitet und entscheidend gefördert. Die Allerkleinsten jedoch bleiben immer noch weitgehend auf der Strecke! Die Erzieherinnen und Erzieher sowie das Personal der Kindertagesstätten werden auch heute noch nicht ausreichend an das Singen herangeführt, fühlen sich oft unsicher und verzichten deshalb häufig auf das Singen mit jungen Kindern. Externe Vokalpädagoginnen und Vokalpädagogen werden zunehmend weniger gerne als Hilfe herangezogen, so dass das Singen in Kindertagesstätten und Kindergärten leider vielfach unterbleibt oder sich auf ein mehr schlecht als recht lautiertes rhythmisches Sprechen beschränkt. Hier ist ganz dringend erforderlich, in Hort und Kita arbeitendes fachpädagogisches Personal intensiv für das Singen mit Kindern weiterzubilden. Die vorhandenen Angebote werden aber leider viel zu wenig genutzt, auch weil betriebliche Förderungen der Fortbildung weitgehend fehlen. Und in der Ausbildung für Erzieherinnen und Erzieher darf das Singen im Curriculum nicht mit ein paar armseligen Zeilen abgetan werden. Eigener gesunder Umgang mit der Singstimme und Anleiten zum Singen mit Kindern muss dringend ernsthaft und ausführlich gelehrt werden!
Aktueller Fall in Bayern
Fehlen den Hort- und Kitakindern die regelmäßigen Singerfahrungen oder sind diese Kinder fehlgeleitet durch unkontrolliertes, oft auch zu lautes Singen in für die junge Kinderstimme zu tiefer Lage, werden sie im späteren Schulbesuch und als Erwachsene nur schwer zum Singen zurückfinden oder bereits mit Stimmproblemen zu schaffen haben. Viele Erwachsene der letzten zwei bis drei Generationen haben in den vergangenen 60 bis 70 Jahren dieses Defizit an sich selbst erlebt und können das häusliche Singen deshalb auch nur unbefriedigend an ihre Kinder weitergeben. Und gerade jetzt müssen wir erleben, dass wieder der Musik- und Kunstunterricht in der Grundschule eingeschränkt werden soll. Dieses Mal ist es das Bundesland Bayern, das die kreativen Fächer entgegen aller wissenschaftlichen Erkenntnis zugunsten der „Basiskompetenzen“ beschneiden will. Das mahnende Wort des bekannten Neurowissenschaftlers Prof. Dr. Manfred Spitzer – „Wissenschaftlich gesehen wären Musik, Sport, Theaterspielen, Kunst und Handarbeiten die wichtigsten Schulfächer“ – verhallt weiterhin ungehört.
Kinder müssen singen!
Kinder wollen singen, Kinder sollen singen, Kinder müssen singen! Unzählige Studien medizinischer, soziologischer und psychologischer Provenienz haben die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit von Singen für das menschliche Miteinander untersucht und bewiesen. Und nicht zuletzt hat uns das behördlich angeordnete Verbot des gemeinschaftlichen Singens während der Corona-Pandemie deutlich vor Augen geführt, welche Verluste wir dadurch erleiden – Verluste, deren Tragweite wir heute noch gar nicht vollständig erfassen können. Deshalb müssen wir uns bemühen, Kindern und Jugendlichen allen Alters das Mitmachen in Singkreisen und Kinderchören, in Musiktheatergruppen und Sportsingformaten zu ermöglichen, gemischt oder geschlechterspezifisch, altersbezogen oder zufällig zusammengefunden, kirchlich, gemeindlich oder frei institutionalisiert; mit der Möglichkeit stimmbildnerischer Betreuung, mit verantwortlichem stimmpädagogischem Konzept, mit Sorge und Obhut für die uns anvertrauten jungen Menschen. Sie sind das höchste Gut unserer Gesellschaft.