Was Nähe zwischen Musik, Chor, Publikum und Raum bewirken kann
Wie wäre es mit einem kleinen Gedankenexperiment? Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich ein typisches Chorkonzert vor: Was sehen Sie? Wo steht der Chor, wo die Chorleitung? Wo befindet sich das Publikum? Wie sieht das Licht aus? Wie der Raum? Lesen Sie noch nicht weiter, sondern versuchen Sie erst, sich dies erst genau vorzustellen. Vermutlich haben Sie einen relativ klassischen Konzertraum gesehen, habe ich recht?
Der Chor steht vorne auf der erhöhten Bühne, auf Stufen oder Podesten, angeleuchtet „im Spotlight“. Das Publikum sitzt abgetrennt im Zuschauerraum. Vor dem Konzert befinden sich alle entweder im Vorraum oder das Publikum nimmt bereits die Plätze ein und dann tritt der Chor unter Applaus auf. Eventuell gibt es zwischendurch eine Pause. Während des Konzerts ist der Fokus klar auf der Bühne, ansonsten ist es still im Raum. Eventuell gibt es Unsicherheit, ob zwischendurch geklatscht werden darf. Am Ende des Konzerts verbeugen sich alle unter Applaus, vielleicht war das Konzert so gut, dass es eine, maximal zwei, Zugaben gibt, vielleicht auch Standing Ovations. Am Ende tritt der Chor ab, das Publikum verlässt den Raum, eventuell nimmt man noch einen Drink.
Vermutlich hatten Sie alle eine ähnliche Vorstellung: Weil wir gelernt haben, dass Konzerte so sind. Denn so haben sie sich über die Jahrhunderte entwickelt und vor allem in der Konzertkultur des 19. Jahrhunderts in unserer Kultur etabliert. Aber das war nicht immer so. Und es wieder zu hinterfragen lohnt sich, um neue Potenziale von Konzerten zu entdecken, das Publikum zu überraschen, nachhaltig zu wirken und unsere Musik neu erlebbar zu machen.
Wovon sprechen wir?
Der Kern des Konzerts gestaltet sich über die Konzertdramaturgie, das ist die rein musikalische Programmauswahl, umfasst also die Stücke, die der Chor singt. An die Seite der Konzertdramaturgie tritt das Konzertdesign: Es umfasst mehr als das musikalische Programm, nämlich auch Raum, Setting, Licht, die Hinzunahme von anderen Künsten oder Medien etc. Den deutschen Begriff „Konzertgestaltung“ verwenden wir in diesem Artikel synonym.
Die Gestaltung erwächst aus dem Inhalt
„Für mich steht das besonders intensive Konzerterlebnis im Ausgangs- und Mittelpunkt meiner Arbeit als Konzertdesignerin. Es geht dabei darum, auch für ein mit den Ritualen des Konzertbetriebs der ‚klassischen‘ Musik nicht vertrauten Publikum künstlerisch zu formulieren, was diese Musik bzw. das jeweilige Programm mit den Hörenden zu tun haben könnte. Warum sollte jemand sich gerade für diesen Konzertabend entscheiden? Das ist für mich keine Frage des Marketings, sondern eine des Inhalts. Gleichzeitig versuche ich, das, was ich subjektiv als den besonderen Wert der vorgetragenen Musik erkenne, besonders herauszustellen“, so Konzertdesignerin Ilka Seifert im Interview mit Ninas VoxBox (2022).
Die Konzertdramaturgie mit den musikalischen Inhalten ist also Basis für das Konzertdesign. Letzteres dient der Musik und versucht, diese möglichst intensiv zur Entfaltung zu bringen.
Konzertdramaturgie
Der erste Schritt, um ein Konzert zu gestalten, ist also der, die Stücke festzulegen. Auf unterschiedlichen Wegen kommt man zu einem in sich schlüssigen Programm: So kann man ausgehend von einem bestimmten Thema eine Dramaturgie entwickeln. Auch ein bestimmter Anlass oder Raum können Impulsgeber sein. Oder es gibt bestimmte Stücke, die man singen möchte, und von denen aus man ein Thema entwickelt.
Natürlich gilt es dabei, bestimmte Aspekte zu berücksichtigen – der Schwierigkeitsgrad sollte passend zum Chor, das Programm interessant und vielfältig sein. Vielfalt ist in vielerlei Hinsicht denkbar: im Hinblick auf den Charakter der Stücke, die musikalische Gestaltung, unterschiedliche Sprachen. Auch kann ein Chor stilistische Vielfalt zeigen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Schlüssig wird der Ablauf des Programms durch unterschiedliche Überlegungen und Mittel. Dies können musikalische Überlegungen sein wie ein Spannungsbogen oder auch Beziehungen zwischen den Stücken (z.B. durch Tonarten). Oder es können außermusikalische Mittel sein, dies das Programm aufbauen: Texte, eine Geschichte, eine chronologische Folge (durch den Tag, durch die Jahreszeiten, durch Jahrzehnte, o.ä.), thematische Blöcke, eine Reiseroute, Biografisches oder eine andere Struktur.
Konzertgestaltung
Ziel der Konzertgestaltung ist, über diese Dramaturgie hinausgehend die Wirkung der Musik zu intensivieren. Die Auswahl des Raumes und der Umgang mit ihm, auch die Möglichkeit von unterschiedlichen Choraufstellungen sind sehr kraftvolle Mittel der Konzertgestaltung. Zum Chorgesang können ergänzende künstlerische Elemente treten – Visuelles (Bildende Kunst, Fotos, Video, Licht), Szenisches und Tanz, Texte (Narratives, Moderation, Gedichte, Biografisches, Hintergrundinformationen), interaktiv-digitale Ideen, weitere musikalische Inhalte: Die Fantasie darf auch hier fliegen. Auch die Wirkung von Konzertkleidung ist nicht zu unterschätzen.
Und doch bleibt das Gravitationszentrum für die Gestaltung immer das musikalische Programm und es gilt, die Wahl der Mittel stringent daraus zu entwickeln und passgenau auszuwählen.
Nähe aufbauen
Das mehrjährige Forschungsprojekt „ECR – Experimental Concert Research“ zeigte, dass sich bei einem Konzertbesuch die Herz- und Atemfrequenz und die Bewegungen der Konzertbesucher:innen synchronisieren. Das Forschungsteam bewies damit, dass eine körperliche Verbindung unter den Zuhörerinnen und Zuhörern entsteht. Laut Website der Zeppelin-Universität fanden die Forschenden außerdem heraus, „dass eine stärkere Synchronisation mit einem immersiveren Musikerlebnis zusammenhängt.“ Immersion ist eines der Zauberworte des Konzertdesigns: Im Konzert taucht das Publikum in eine andere Realität ein und es entsteht ein ganz besonderer Kontakt zwischen dem Publikum und dem Chor. Diese Nähe kann noch verstärkt werden durch Momente physischer Nähe zwischen Ausführenden und Zuhörenden: Ein Flashmob zu Beginn des Konzerts – auf einmal fängt der-/diejenige, mit dem ich gerade gesprochen habe, an zu singen. Auch besondere Choraufstellungen – der Chor steht um das Publikum herum oder im Mittelgang der Kirche – verstärken durch die besondere Begegnung Immersion.
Tipp von Konzertdesignerin Seifert: „Publikum und Ausführende werden in einem starken, gelungenen Konzert zu einer Gemeinschaft. Das kann man noch intensivieren, indem man nach dem Konzert einen Rahmen für Begegnung schafft – das kann auch ganz informell sein, beim Bier an der Bar.“
Geschichten erzählen & Bilder malen
Auf verschiedenen Wegen ist es möglich, durch ein Konzert eine Geschichte zu erzählen. Das vielbeschworene Storytelling ist nicht nur im Social-Media-Bereich ein mächtiges Tool: Wir hören gerne Heldengeschichten, denn sie erzeugen Emotion – und wenn es die Helden des Alltags sind, schaffen sie Identifikation und Hoffnung. Diese Geschichten können wie oben beschrieben durch eine geschickte Anordnung der Stücke selbst erzählt werden. Sie können durch Hinzunahme von Texten transportiert werden. Es können kurze Geschichten sein wie eine ganz persönliche, berührende Geschichte zu einem Stück.
Intensiviert werden sie durch szenische Momente wie Standbilder: Dies ist ein unterschätztes, niederschwelliges Mittel, gerade wenn ein Chor Choreografien oder eine richtige Inszenierung scheut. Ein Blick des ganzen Chores nach oben verlangt nicht viel und muss nicht perfekt synchron sein, ähnlich ist es mit einer Handbewegung zum Publikum. Aber wenn diese Gesten zur Musik passen und alle Beteiligten sie mit Intention ausführen, entstehen starke Bilder.
Erlebnisse schaffen
Auch die Möglichkeit, dass das Publikum Momente im Konzert mitgestaltet, also partizipative und interaktive Elemente, schaffen Erlebnisse für das Publikum. Was wir mitgestalten, mit dem identifizieren wir uns. Dies kann vorab sein, zum Beispiel durch Interviews zu bestimmten Inhalten des Konzerts, die sich dann im Programmheft oder in einer Installation wiederfinden. Man kann das Publikum durch Social Media in einer Umfrage an der Musikauswahl beteiligen. Die Königsdisziplin zeigen A-cappella-Gruppen: Auf Zuruf aus dem Publikum zu bestimmten Stichworten wird ad hoc ein Stück improvisiert. Bekannt sind die Videos von Jacob Collier, in denen das Publikum einen Chor bildet und geführt durch Handzeichen gemeinsam musiziert. Auch durch Raumaufstellungen können besondere Erlebnisse geschaffen werden. Wie wäre es, wenn der Chor von Sehnsucht aus der Ferne singt oder aus der Tiefe der Krypta „De profundis“ aufführt? Wie wäre es, wenn das Konzert schon im Vorraum beginnt, der Chor singend durchs Publikum geht? Wenn der Raum es hergibt, sind das Erlebnisse, die nachhaltig wirken.
Nicht immer ist Konzertdesign notwendig, manchmal ist „nur stehen und singen“ schön. Aber vielleicht haben Sie Lust, ihr Publikum zu überraschen und ihm eine neue Idee und ein tieferes Gefühl von Chormusik mit auf den Weg zu geben.