Scherzkarten zum Thema Massenquartier
Postkarten zu früheren Sängerfesten sind oft interessante Bildquellen. Kurios sind diese bunten Dokumente manchmal auch, vor allem die Scherzkarten.
Sängerinnen und Sänger gelten gemeinhin als ein fröhliches Völkchen. Sie haben nicht nur Spaß an der Musik, sondern auch an vielen anderen Vergnügungen. Lieder wie „Freut euch des Lebens“ und bekannte Sprichwörter wie „Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang …“ zeugen buchstäblich von dieser Lebensfreude. Dementsprechend findet man unter den Postkarten, die zu Liederfesten hergestellt und von dort aus verschickt wurden, nicht nur Ansichten von schön herausgeputzten Festorten und prächtigen Konzerthallen, sondern auch humoristische Beiträge, die das Geschehen rund um die Liederfeste aufs Korn nehmen. Die vielen Bildpostkarten zum Thema Massenquartier sind da ein gutes Beispiel. Sie behandeln ein eher unangenehmes Thema – aber mit viel Humor!
In den Anfängen des Laienchorwesens hatten die Organisatoren noch kaum Probleme, die an den ersten Sängertreffen teilnehmenden Chöre und Festbesucher (fast nur Männer) unterzubringen. Die meisten kamen aus der näheren Umgebung zu Fuß oder mit Pferdewagen angereist und schliefen in der Nacht wieder zuhause in den eigenen Federbetten. Die wenigen dutzend bis ein paar hundert Personen, die ab 1827 an den schwäbischen Liederfesten teilnahmen und über Nacht in der Feststadt blieben, konnten relativ leicht in Gasthäusern, in Schulsälen und privat bei Sängerfreunden einquartiert werden. Um die Unterbringung zu organisieren, bildete man später (ab 1850) beim Sängerbund (Chorverband) und in den jeweiligen Festorten eigene Komitees – ein Liederfest sollte ja ein rundum schönes Erlebnis sein.
Küchenbänke für Schlafgänger
Problematischer wurde die Unterbringung von Sängern und Gästen, als die Feste in der Kaiserzeit (ab 1871) bis zum Kriegsbeginn 1914 immer umfangreicher wurden. Damals wuchsen auch die Städte rasant an Bewohnerinnen und Bewohnern, was den Wohnraum deutlich verknappte. In meist überbelegten Häusern lebte nicht selten eine arme Kleinbürger- und Arbeiterschaft. Wenn nun bei Großveranstaltungen mehr Unterkünfte benötigt wurden als die Hotels und kommunalen Einrichtungen zur Verfügung stellen konnten, schlug die Stunde der Kleinstvermieter. Diese Leute nahmen gern jeden Pfennig und jede zusätzliche Mark durch zeitweise Überlassung einfachster Quartiere. Da wurden dann z.B. über Nacht Küchenbänke an sogenannte „Schlafgänger“, die morgens wieder verschwanden, vermietet, oder primitive Bettgestelle auf zugigen Dachböden. Beim Liederfest in Ravensburg 1904 z.B. stellte das Militär 3.000 Strohsäcke für Massenlager zur Verfügung, während Privatleute 1.800 Betten zuhause anboten.
Wir finden solche Unterkünfte in meist drastischer Übertreibung auf den damaligen Kartenbildern abgebildet: Eine Karte von 1905 z.B. stellt die Wunschvorstellung eines Sängerfestbesuchers („Solch Quartier lob ich mir“) einer Horrorvision mit zusammenbrechenden Betten, Mäusen und Wanzen auf einem Dachboden gegenüber („Solch Quartier verwünscht ich mir“). Zwei Quartierszenen von 1907 (Breslau) und 1912 (Nürnberg) zeigen die unmöglichsten Bettgestell- und Matratzen-Konstellationen mit halsbrecherischen Liegestellungen der Mieter, dazu noch schön säuberlich die Mietpreise pro Nacht zwischen 1,50 und 15 Mark. Andere, etwas bequemere Massenquartiere auf Kartenbildern muss man sich wohl in Schulräumen oder Gasthaussälen vorstellen.
Massenquartiere: Ein Thema verschwindet
Die hier beschriebenen Scherzkarten stammen übrigens alle aus der späten Kaiserzeit ab 1900. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Untergang des Kaiserreichs verschwindet das Bildthema „Massenquartier“, das übrigens während des Weltkriegs auch eine militärische Variante gefunden hatte, aus der Welt der Ansichtskarten. Nicht ohne Grund: Mit der Weimarer Republik begann eine neue, modernere Zeit. Der Umgang mit dem Phänomen „Masse“ wurde nun zunehmend professionell – die Folgen waren nicht zuletzt im nächsten Jahrzehnt zu sehen. (Erinnert sei hier an den Beitrag von Felix Eickelmann „Wie baue ich ein Feldbett auf?“ in der SINGEN 02/2024.)
In der Chronik zum 31. Schwäbischen Liederfest in Esslingen 1925 lesen wir unter der Überschrift „Dank der Bundesleitung an die Feststadt“, die „überaus gastfreie Aufnahme, die die Sänger in ihren Quartieren gefunden haben“, sei unvergesslich.
Von verlausten Betten und vermausten Dachkammern berichtet kein Sänger und keine Scherzkarte mehr. Die katastrophalen hygienischen Verhältnisse, die noch um 1900 in vielen Städten herrschten und dort für so manche Epidemie verantwortlich waren, wollte man in der modernen Welt möglichst schnell hinter sich lassen.