Interview mit Matthias Klosinski, Professor für psychische Gesundheit und professioneller Sänger, über Nervenkitzel und Lampenfieber
Wer auf die Bühne geht, wagt den Spagat zwischen abliefern sollen und Spaß haben. Nicht immer hat man über seinen Körper die Kontrolle, wenn es drauf ankommt. „Singen“-Redakteurin Sandra Bildmann hat den professionellen Sänger und promovierten Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Matthias Klosinski gefragt, welche Aspekte mitentscheiden und was man gegen Nervosität tun kann. Die beiden kennen und duzen sich, weil sie bereits gemeinsam auf der Bühne gestanden haben.
Lieber Matthias, oft heißt es: „Das ist reine Kopfsache!“ Wie viel Kopf steckt im Musizieren beziehungsweise im Singen?
Oh, schwierige Frage! Im Idealfall sind immer Kopf und Herz dabei. Es gibt ja auch sehr unterschiedliche Typen. Manche sind eher so ein bisschen intellektuell unterwegs, bei denen ist wahrscheinlich etwas mehr Kopf dabei. Und dann gibt es andere, die sind ein bisschen unbekümmerter, stürmischer oder legen andere Schwerpunkte. Ich glaube, das kann man gar nicht so allgemein sagen. Auch bei Komponist:innen hat man ja manchmal den Eindruck, die Musik ist eher konstruiert, gerade auch bei zeitgenössischer Musik; und bei anderen hat man eher das Gefühl, das kommt aus dem Herz. Aber das sind sehr subjektive Einschätzungen und man kann sich da auch sehr täuschen.
Der Kopf, der Geist, das Mentale und das Psychische werden oft als Synonyme verwendet. Zurecht?
Es ist nicht so ganz trennscharf. In der Medizin unterscheidet man oft die Psyche von der Somatik. Psyche heißt auf Griechisch ‚Seele‘, Soma ist der Körper. Da wird also oft unterschieden zwischen der Seele und dem Körper, den zwei den Menschen ausmachenden Entitäten, die sich gegenseitig beeinflussen. Das Leib-Seele-Problem zieht sich durch Jahrtausende der Philosophiegeschichte. Geist ist ein auch theologisch aufgeladenes Wort, das manchmal auch synonym mit dem Mentalen oder dem Psychischen verwendet wird. Mental wiederum steht häufig für ‚geistig‘ oder ‚psychisch‘. Das ist oft nicht so richtig eindeutig. Die englische Übersetzung meiner Professur heißt z.B. ‚Mental Health‘, auf Deutsch ‚psychische Gesundheit‘. Die gängigste Unterscheidung ist dieses Mental-Psychische – wenn man das jetzt mal so zusammenfassen will – und das Körperliche, wobei die eben in sehr engem Austausch stehen. Wenn es mir psychisch-mental nicht so gut geht, dann lässt mich das mein Körper oft wissen. Gerade als Sänger ist es ja auch wichtig, auf seinen Körper zu hören. Und wenn es mir körperlich nicht so gut geht, dann schlägt mir das auch schnell mal auf meine Psyche – da gibt es ständig Wechselwirkungen.
Profitierst du als Sänger vom Mediziner in dir?
Eigentlich ist es bei mir so, dass ich die beiden Bereiche eher trenne: Wenn ich Sänger bin, dann bin ich Sänger und verhalte mich eher so wie die anderen Sänger. Bin ich als Arzt unterwegs, dann bin ich eher so wie die anderen Ärzte oder Psychologen. In schwierigen Probensituationen kann es mir aber helfen, wenn zum Beispiel ein Dirigent sehr eigenartig ist oder sich aufspielt: Da schaltet sich dann schon immer wieder auch mein anderer Hintergrund ein, und dann versuche ich, das Verhalten ein bisschen einzuordnen. Ich leite auch zwei Chöre und auch als Dirigent ist man immer wieder gruppendynamischen Herausforderungen ausgesetzt oder wenn es dann Befindlichkeiten von einzelnen Personen gibt, mit denen man nicht gerechnet hat. Ich glaube, da hilft mir meine Erfahrung als Psychiater teilweise schon. Im musikalischen Umfeld werden schnell kleine Sachen groß, Drama, Krise usw. So direkt in der Arbeit sind der Arzt und der Sänger in mir aber eher zwei voneinander getrennte Bereiche. Die Leute denken oft, Psychiater laufen durch die Welt und ‚analysieren‘ alles, dabei tun sie es eigentlich nur mit entsprechendem Auftrag. Ich versuche, das außen vor zu lassen und es tut mir auch gut, einfach nur für das Singen offen zu sein.
Kannst du denn als Mediziner vom Sänger profitieren?
Ja, unbedingt! So herum ist es vielleicht fast mehr! Als Mediziner läuft man eher Gefahr, ein bisschen sehr viel mit dem Kopf zu arbeiten. Bin ich gestresst, tut es mir gut, auf meinen Körper zu hören, auf die Atmung zu achten und in mich hineinzuspüren. Und vielleicht zwischendurch mal ein Liedchen zu trällern.
Der Mensch ist vielen Einflüssen ausgesetzt, die er nicht kontrollieren kann. Man kann nicht einfach bestimmen, dass man am Tag X die besten Voraussetzungen hat, um seine Leistung abrufen zu können. Was kann man tun, um dennoch möglichst nah heranzukommen?
Wir müssen uns klarmachen, dass wir keine Maschinen sind. Wir können nicht jeden Tag immer die perfekte Leistung abrufen – weder als Ärztin noch als Sänger. Und das müssen wir einfach aushalten, dass das so ist. Man darf sich nicht unter Druck setzen und meinen, man müsste das können. Das kann niemand. Über die Jahrzehnte ist ein bisschen der Eindruck entstanden, dass manche Zuhörer:innen mit einem ‚CD-Ohr‘ hören und im Konzert eine Perfektion erwarten, wie sie sie von der CD – oder heutzutage Spotify – kennen. Manchmal vergessen die Leute, dass eine Aufnahme in der Regel kein Live-Mitschnitt ist, sondern im Studio unter perfekten Bedingungen und mit teilweise sehr vielen Takes entsteht. Und das muss man als Sänger:in einfach wissen.
Wenn man sängerisch aktiv ist, braucht man den Körper als Träger seines Instruments und muss ihn gut pflegen: ausreichend schlafen, abwechslungsreich essen, immer wieder Bewegung einbauen. Dann steigt auch die Chance, dass er in entscheidenden Momenten zur Verfügung steht – das sage ich speziell als Arzt. Auch für die psychische Gesundheit gibt es sehr viele Schutzfaktoren, die sind jedoch von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgeprägt. Soziale Unterstützung ist zum Beispiel ein ganz wesentlicher Schutzfaktor. Chorsingen ist hierfür ein exzellentes Beispiel, weil man nicht alleine ist. Ich habe selbst erlebt, als ich mal kurzfristig eingesprungen bin und das Stück noch nicht so gut kannte, wie es mich angespornt und beruhigt hat, weil von meinen Mitsänger:innen Sicherheit und Dankbarkeit ausging. Eine sehr gute Vorbereitung und viel üben sind aber natürlich auch wichtige Erfolgsfaktoren, um im Ernstfall die Leistung dann auch abrufen zu können.
Was können Menschen tun, die – obwohl sie dieses soziale Gefüge und die Gruppe um sich herum haben – trotzdem total nervös sind?
Zunächst muss man sagen, dass Lampenfieber nichts Pathologisches ist. Das ist etwas ganz Normales, der gewisse Kitzel, der uns sogar zu Höchstleistungen anspornt. Denn man hat gesehen, dass die besten Leistungen meist nicht aus dem relaxten Zustand erbracht werden, sondern wenn ein gewisses Anspannungsniveau da ist. Erst wenn es darüber hinausgeht, spricht man von einer Auftrittsangst, die man vom Lampenfieber unterscheiden muss. Was hilft, ist unter anderem die Erfahrung: Wenn man das schon ein paar Mal gemacht hat und merkt, man kommt wieder runter von der Bühne und man lebt immer noch. Man muss ein bisschen nachsichtig mit sich sein, das gehört dazu. Es wäre eher komisch, wenn man das nicht hat.
Es gibt Menschen, die vom Kopf her sagen ‚Eigentlich bin ich gar nicht nervös‘, aber dann fängt der Körper an zu zittern, die Atmung gerät außer Kontrolle. Was passiert da im Körper?
Das ist ähnlich wie bei einer Prüfungsangst. Die pathologische Angst zeichnet sich dadurch aus, dass wir in einer Situation sehr stark Angst erleben, obwohl die eigentlich gar nicht so gefährlich wäre. Da spielen sehr viele Sachen mit rein und wir spüren sehr starke körperliche Signale, die wir als bedrohlich erleben, zum Beispiel Herzrasen oder Schwitzen, vielleicht sogar Atemnot wie bei einer Panikattacke. In unserem Gehirn springen dann neuronale Kreisläufe an, die sich der bewussten Kontrolle schnell entziehen, die automatisiert ablaufen und unter anderem über den Mandelkern, die Amygdala, verschaltet werden. Da macht sich das Gehirn, laienhaft gesagt, ein bisschen selbständig und dann kommen die rationalen Gedanken ‚Ich kann das und ich hab das ja alles gut vorbereitet!‘ nicht mehr so richtig im Bewusstsein an. Da schaltet das Gehirn auf Autopilot, ähnlich wie bei Angst- und Fluchtreaktionen. Wenn jetzt hier ein hungriger Tiger reinkommt, überlegt man auch nicht, was man noch einkaufen will. Manche Menschen werden in Bewährungssituationen von einer solchen Angst überrollt und es geht darum, da wieder rauszukommen. Das kann man lernen und therapeutisch üben, da gibt es verschiedene Ansätze, um wieder mehr an den Teil des Gehirns ranzukommen, der bewusster und rationaler denkt.
Es helfen also nur Routine und Therapie?
Nicht nur. Auch entsprechende Entspannungstechniken kann man üben, das muss gar nicht nur im Rahmen einer Therapie sein. Man kann auch präventiv ein kleines Ritual einbauen, das man vor dem Gang auf die Bühne durchführt, oder man kann versuchen, das Ganze für sich zu kontextualisieren: Alternativen parat haben, nach dem Motto ‚Auch wenn es jetzt nicht klappt, geht mein Leben trotzdem weiter.‘ Die Strategie wäre, die Relevanz des Einzelereignisses ein bisschen herunterzuschrauben, denn mentale Bewertungsprozesse sind nicht alle immer rational, gerade auch Druck und Erwartungshaltungen spielen eine wichtige Rolle. In diesem Fall kann es ggf. auch günstig sein, mit einem Musikermediziner oder einer Psychologin darüber zu sprechen.
Was macht denn Druck mit der eigenen Psyche und damit auch mit uns als Gesamtkonstrukt Mensch?
Ich schließe mich dem Basler Arzt Blaise Pascal an: Es hängt von der Dosis ab, ob ein Ding toxisch ist. Viele Menschen erleben Druck als positiv, anspornend, als etwas, das einen weiterbringt; das Gefühl, dem Druck standgehalten zu haben und danach Druck abzulassen. Oft geht man nach dem Konzert noch gemeinsam weg und braucht das Feiern auch, um das Adrenalin ein wenig abzubauen. Jeder Künstler kennt aber auch den Druck, der dazu beiträgt, dass man im Moment gar keinen Spaß mehr hat. Das ist ein Drahtseilakt: Einerseits soll ich mich weiterentwickeln, besser werden und üben. Andererseits soll ich ohne Druck meine Seele sprechen lassen. Das ist wirklich ein Spagat, der sich im Lauf des Lebens auch immer wieder ändern kann. Vieles ist persönlichkeitsabhängig: Manche Leute brauchen Deadlines und Druck, weil sonst nichts passiert, und andere finden das furchtbar: Die halten es nicht aus, ins Bett zu gehen, wenn noch etwas unerledigt ist. Ich persönlich finde, dass es wichtig ist, die Musik oder die Kunst sprechen zu lassen und im Bewusstsein, dass es nicht nur um meine Leistung geht, Freude daran zu haben.
Kann man Druck oder einen Leistungsanspruch positiv ummünzen?
Es gibt die Reframing-Strategie, also etwas in einen neuen Rahmen zu setzen, eine Umdeutung von etwas vorzunehmen. Druck ist ein relativ negatives Wort und man könnte es in Richtung Ansporn oder Entwicklungsanreiz umdeuten. Man kann sich auch hinterfragen: Will ich das wirklich? Ist es mir so viel wert, dass ich diesen Druck in Kauf nehme? Wenn man dann auf die Bühne geht, muss man das auch aushalten. Wer kein Blut sehen kann, sollte halt auch nicht im OP arbeiten. Noch ein spannender Aspekt: Als Dirigent stehe ich ja immer mit dem Rücken zum Publikum. Das ist ein ganz anderes Gefühl als wenn ich als Sänger rausschaue und die Gesichter und Reaktionen sehe. Als Dirigent ist man ein bisschen geschützter und sieht es nur indirekt über die Augen der Sänger:innen oder des Orchesters.
Das kennen Chorsänger:innen auch, wenn sie zum Beispiel in der Kirche auf einer Empore singen und das Publikum unten in der Kirchenbank sitzt…
Ja genau, dieses Gefühl ‚Ich werde beobachtet und wenn ich rot werde, dann sehen das jetzt alle‘ ist natürlich weg, wenn ich auf der Empore stehe. Das befreit viele. Die WHO definiert Gesundheit übrigens als Zustand im vollkommenen psychischen, körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefinden. Das ist eine krasse Definition, bei der man sich überlegen kann: War ich überhaupt jemals gesund? Ich fühle mich diesem Zustand, den die WHO als gesund definiert, in meinem Leben mit am nächsten, wenn man in so einem Flow auf der Bühne ist und es wirklich läuft und man das zusammen mit anderen erlebt.
Lieber Matthias, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sandra Bildmann.