Wann und wie ein Mehrwert durch das Verlassen konventioneller Aufführungssituationen entsteht
Wir leben in einer musealen Zeit, in der Kunst permanent wiederholt wird. Unabhängig davon, wie beliebt Werke sind, entwickelt sich die Gefahr einer Abnutzung, eines Überdrusses des Immergleichen. Daraus entstehe „das Bedürfnis, die Dinge mal in einem anderen Licht zu sehen oder auf eine andere Art und Weise zu erleben“, sagt Angelika Luz, Sängerin, Regisseurin und Dramaturgin zahlreicher interdisziplinärer Produktionen. Wie finden Amateurchöre Inspiration für Ansatz und Umsetzung von Veranstaltungen, die vom Konventionellen – dem rein konzertanten Konzert – abweichen?
Alles fängt mit der Frage an: Was ist eine Bühne? „Sie entsteht in dem Moment, in dem ich einen Raum als Bühne definiere. Entscheidend ist die innere Haltung“, sagt Angelika Luz, „für sich festzulegen: Ich begebe mich jetzt in eine künstlerische Aktion und allein mit der Klarheit wie ich auftrete, um das zu vermitteln, entsteht eine Bühne.“ Damit hängt unmittelbar das Bewusstsein für die Unterscheidung des privaten und des Bühnen-Ichs zusammen. „Im Konzert-Chor geht man nicht wirklich in eine Rolle, wohl aber in eine Haltung, in der ich über etwas erzähle, das außerhalb der Realität ist. Es ist ein bisschen so, als würde man etwas auf ein Podest heben. Aber eben auf ein inneres Podest.“
Was „performativ“ und „Performance“ bedeuten
Sobald ein Konzert nicht mehr nur aus Musik besteht, wird gern von einer „Performance“ gesprochen. Landläufig hat sich eingebürgert, alle Erweiterungen, die sich nicht eindeutig zuordnen lassen, als „performativ“ zu bezeichnen, ein Sammelbecken für alles Außermusikalische. „Man nimmt den Überbegriff von Performance, weil da alles irgendwie reinpasst, aber eigentlich verwenden wir den Begriff falsch“, erklärt Angelika Luz. Seinen Ursprung hat er in einer nach dem Krieg entstandenen eigenen Kunstform, die sich keiner bestehenden Kategorie zuordnen lasse, „weil sich alles durchdrungen hat und weil es keine Spielregeln mehr gab“; eine Kunstform, die in jeder Sparte anders aussehe. Alle Performances eine jedoch, dass sich das Verhältnis zum Publikum im Vergleich zu konventionellen Programmen verändere: Der Graben verschwinde zugunsten einer unmittelbaren Nähe. Gesucht werde nicht mehr die klassische Bühnensituation, sondern die Vereinnahmung der Anwesenden in der Wirklichkeit, oft auch aus (gesellschafts-)politischen Gründen.
Wer profitiert?
Daraus lassen sich allerdings zahlreiche Ideen für innovative Konzert-Konzepte ableiten (dazu später mehr), ausgehend vom Bedürfnis, Elemente zu finden, die helfen, einen Mehrwert zu erzeugen. „Für wen machen wir das eigentlich?“ Vor jeder Konzeption einer Veranstaltung (und auch, wenn es vermeintlich kein „besonderes“ Konzept gibt) ist elementar, sich bewusst zu machen, an wen sich das eigene Angebot richtet. Denn auch ein Chorkonzert ist zunächst ein Produkt, das Konsument:innen angeboten wird. Ob sie sich dafür interessieren, hängt von Inhalt, Verpackung und Bewerbung ab. Von entscheidender Bedeutung ist also, den Mehrwert zu bedenken, den das Konzert für das Publikum bieten soll.
Neue Anreize, Sichtweisen und Perspektiven zu suchen, bereichert aber natürlich nicht nur das Publikum, sondern auch die Ausführenden. Dies ist also gleichzeitig ein Ansatzpunkt für Mitgliedergewinnung und -bindung, denn spannende Projekte locken in der Regel einfach mehr als die Wiederholung von (Alt-)Bekanntem (siehe dazu SINGEN 06/24).
Das private und das Bühnen-Ich
Die „normale“ Konzertsituation aufbrechen zu wollen kann also verschiedene Gründe haben – doch unabhängig von der Frage, wieso ein Chor neue Wege gehen möchte, steht die Herausforderung: Wie gehen wir es an? Denn: Einen Handwerkskoffer oder Maßnahmen-Katalog dafür gibt es nicht.
Wer kreativ nach neuen Konzepten sucht, sollte sich im Vorfeld einige grundlegende Dinge klarmachen. Dazu zählt als oberstes Gebot der Respekt vor allen Beteiligten, inklusive des Musikstücks selbst. Wer eine Konzertsituation modifiziert, erweitert sie in aller Regel durch Hinzufügen von Elementen, lässt aber die komponierte Musik, wie sie im Notentext steht, unberührt. Außerdem sollte alles in respektvoller Auseinandersetzung vor dem bestehenden Werk und seinen Rezipient:innen geschehen.
Gerade in der Amateurmusik wollen und sollen die Auftretenden als Chorgemeinschaft ein tolles Gefühl und Spaß bei ihrem Auftritt haben. „Aber letztendlich, wenn Publikum da ist, geht es auch um etwas anderes“, ist Angelika Luz überzeugt: Wer eine Bühne betritt und künstlerisch aktiv ist, tut dies, weil er bzw. sie etwas vermitteln möchte. Ganz natürlich enthält dieser Umstand etwas Paradoxes. „Ich singe von etwas, das nicht direkt mit mir zu tun hat, aber auf einer Metaebene natürlich schon. Jetzt mache ich mich zum Werkzeug, mit meiner Persönlichkeit und mit allem, was ich habe – Geist, Körper, Seele –, werde ich zum Medium und bringe das Thema zum Leben. Ich leite es quasi durch mich durch, um es persönlich zu prägen. Und so kommt es dann beim Publikum an. Aber das bin eben nicht ich, ich nehme nur ein Thema, das außerhalb von mir ist.“ Die Auseinandersetzung mit diesem Spannungsfeld ist für ein Bühnenwirken essenziell und öffnet neue Horizonte, vielleicht auch, weil ich mich persönlich von meinem Bühnen-Ich distanzieren kann.
Von der Entscheidung zur Umsetzung
Nun geht es also daran, Ideen zu sammeln, wie ein klassisches Konzert bereichert werden kann. Grundsätzlich kann man zwischen zwei innovativen Formen unterscheiden: jene, in der die rein konzertante Form der Musikpräsentation zwar aufgelöst, das Publikum aber statisch bleibt, und jene, in der das Publikum für ein interaktives Erlebnis mit eingebunden wird. In beiden Fällen spielt Mehrdimensionalität eine große Rolle, wenn verschiedene Elemente simultan ablaufen sowie akustische und/oder visuelle Reize von unterschiedlichen Richtungen ausgehen. „Man kann einen konventionellen Raum anders bespielen“, verdeutlicht Luz, „ich kann beispielsweise Türen benutzen, um das Publikum herum, in den Zwischengängen oder aus dem Treppenhaus singen; ich kann den Effekt nutzen, von hinten und vorne zu singen oder das Publikum einrahmen; ich kann mich auch in das Publikum hineinsetzen.“ Außerdem lasse sich über die Körpersprache immens viel ausdrücken: Schließlich entstehen unterschiedliche Eindrücke je nachdem, ob die Akteur:innen sitzen oder stehen und insbesondere dadurch, welche Körperhaltung sie einnehmen.
Jedes Projekt gewinnt durch eine gewisse Neugierde, in der Umgebung zu stöbern: Welche anderen Gruppen, Vereine, Künstler:innen gibt es vor Ort? Lassen sich Kooperationen eingehen? Angelika Luz empfiehlt, in den Prozess der Ideenentwicklung unbedingt eine Person mit der Sachkenntnis zum Chorwesen allgemein und spezifisch zum betreffenden Chor zu involvieren. Umsetzbar ist schließlich nur, was der Chor auch tatsächlich leisten kann. Ist Auswendigsingen denkbar? Möchten/Müssen wir Rücksicht nehmen auf individuelle Bedürfnisse wie z.B. Barrierefreiheit? Man benötige eine Sensibilität für die individuellen Umstände, betont Luz, „im Einvernehmen mit den Menschen muss man aber manchmal auch etwas riskieren. Und wenn man seine Ideen gut begründen kann, dann sind schon viele dabei.“
Nicht über’s Ziel hinausschießen
Dies führt zu den Grenzen der Innovation, denn auch hier kann weniger mehr sein. Es braucht ein Feingefühl dafür, wie weit sie gehen kann und wo sie zu viel des Guten wäre. Wie eingangs erwähnt, darf die Musik nicht unter ihr leiden; stets sollten Kompromisse so gewählt sein, dass sich Musik und beispielsweise Szenisches inspirieren und befördern, sich ihre Wirkung durch das Wahrnehmen des jeweils anderen intensiviert, dass aber keines der Produkte hierdurch abgewertet wird. „Es geht um das Verhältnis von Auge und Ohr“, verdeutlicht Luz. Wer hingegen die Konzertabfolge unterbreche, arbeite nicht in Konkurrenz zur Musik, denn eine simultane Reizüberflutung halte sie für ebenso wenig sinnvoll wie plumpe, plakative Aktionen wie das Tragen historischer Kostüme als reine Dekoration.