Eine wissenschaftliche Hilfestellung für Amateurchöre
Seit über dreißig Jahren ist John Rutter in Deutschland ein gern aufgeführter Komponist. Aber viele Amateur- und Kirchenchöre tun sich schwer damit, die Lieder in Deutschland gut aufzuführen. Manchmal haben die Sängerinnen und Sänger Probleme mit der Aussprache – ja, heav’n wird wirklich nur Heen [he:n] ausgesprochen, sonst bekommen das auch englische Sänger nicht auf einer Silbe hin. Und selbst wenn die Aussprache perfekt ist, ist es für die Kirchengemeinde an Heiligabend nicht so schön, wenn die Musik zwar anrührt, der Textinhalt aber völlig unverständlich bleibt.
Oxford University Press hat nun acht Weihnachtslieder in einer Übersetzung von Moritz von Freyhold herausgebracht. Der seit 1997 in London arbeitende Musiker hat 2022 von Oxford University Press den Auftrag bekommen, sieben der acht Weihnachtslieder von John Rutter für eine neugeplante deutsche Ausgabe zu übersetzen. Unter Mitarbeit des Sängers Norbert Meyn wurden die Lieder so übersetzt, dass sie den Sinn des Originals in einer für deutsche Sängerinnen und Sänger verständlichen Sprache und in vertrauten Bildern übertragen. Im Folgenden wird beschrieben, warum es sich lohnt, diese Weihnachtslieder in der neuen Übersetzung zu singen. Durch Wortwahl und Platzierung werden in den Übersetzungsbeispielen musikalische Höhepunkte und Reime erhalten, vertraute Bilder bei den Hörer:innen und Sänger:innen geweckt und Auslassungen an anderer Stelle kompensiert.
Welch süß’re Klänge, Takt 9-12
Der musikalische Höhepunkt auf „voice“ wird durch das Wort „auf“ (Takt 11, Schlag eins und auf der höchsten Note) im Deutschen erhalten. Dies wird auch durch die Vertauschung der Wortstellung erreicht: Im Englischen steht das Verb „awake“ am Satzanfang, wohingegen im Deutschen „Die Stimm“ diesen Platz einnimmt.
Im zweiten Teil des Satzes wird „Awake the string“ (Erweckt die Saite) mit dem spezifischen Begriff „Saite“ ausgelassen und durch die kürzere Phrase „Musik ertön!“ mit dem allgemeineren Begriff „Musik“ ersetzt. Im Englischen wurde „the string“ vermutlich gewählt, um den Zusammenhalt der Phrasen durch den Reim „King-string“ zu stärken, was im Deutschen durch „schön-ertön“ erhalten bleibt.
Krippen-Carol, Takte 17-30
Der musikalische Höhepunkt in Takt 25 auf „Christ“ ist aufgrund des ansteigenden Melodieverlaufs bis Takt 25 und des darauffolgenden Melodieabfalls klar ersichtlich. Die Bedeutung, die in diesem Auf- und Abbau den Reimen „away“ (T. 18) – „lay“ (T. 20) – „today“ (T. 22) – „pay“ (T. 24) – „aye“ (T. 27) und „Day“
(T. 30) zukommt, ist auf den ersten Blick weniger klar. Die 14-taktige Phrase besteht aus vier mal zwei (Takte 17-24) und zwei mal drei Takten (Takte 25-30). Die erste Hälfte ist kleinteilig, ergibt aber als Ganzes eine reguläre 8-taktige Phrase, die durch zwei irreguläre Dreitaktphrasen ergänzt wird. Durch die Platzierung der Reime an den Enden der 2-taktigen und dann der 3-taktigen Phrasen im englischen Original wird die Konstruktion nicht nur harmonisch, sondern auch sprachlich zusammengehalten. Der Erhalt der Reime ist also wichtig. Dies ist bis Takt 25 durch die Reime „Tag“-„lag“-„ward“-„mag“ gelungen, doch für „aye“-„day“ wurde auf die Reime „gebor’n“ – „auserkor’n“ ausgewichen – beides vertraute Bilder der Weihnachtsgeschichte. Durch den Wechsel der Reime an genau der Stelle, an der sich die Phrasenstruktur ändert, wird diese im Reimschema nachvollziehbar und dadurch erhalten.
Engels-Carol, Takt 53-61
In der ersten Hälfte des Satzes ist die Übersetzung fast wörtlich identisch mit dem Original, doch die zweite Hälfte weicht inhaltlich erheblich ab, da die wörtliche Übersetzung „in einem einfachen Stall sah’n wir seine Geburt“ nicht in die musikalische Phrase passt. Stattdessen wurde das vertraute Bild eines ärmlichen Stalls, der durch die Geburt Jesu erhellt wird, verwendet, was zum Rhythmus der Musik passt und das Bild sogar noch bereichert.
Sternen-Carol, Takt 15-18
Hier wird bei der Übersetzung die Phrase „in the sky“ (im Himmel, Takt 17) ausgelassen und durch das vertraute Bild „gebt gut Acht“ ersetzt. Durch eine Veränderung der Wortstellung – „gebt gut Acht“ in Takt 16 und „Er scheint hell“ erst in Takt 17 – werden zwei Dinge gleichzeitig erreicht: Einerseits wird ein Nebensatz zur Übersetzung der -ing-Form-Konstruktion „shining bright“ (der hell scheint) vermieden, andererseits bleibt der Reim „bright – Night“ des Originals durch den Reim „Acht – Nacht“ erhalten.
Ein ähnliches und vertrautes Bild wurde im Kerzenlicht-Carol in den Takten 47-48 verwendet:
Dieses Mal ist die Phrase „und geben gut Acht“ nah am englischen Originaltext „their vigil will keep“ (werden ihre Wache halten). Anstelle des spezifischen Engels „Seraphim“ wurde im Deutschen das allgemeinere (und kürzere) Wort „Engel“ gewählt, wodurch „steh’n“ auch noch untergebracht werden kann. Der originale Reim „keep – sleep“ in den Takten 48 und 56 wird durch „Acht – Nacht“ im Deutschen erhalten.
Wiegenlied zu Weihnachten, Takt 16-36
Hier wird in Takt 18 das „Kind“ vor der „Mutter“ erwähnt und dadurch betont. Für die Hörenden ist klar, dass es sich hier um das Jesuskind handelt. Diese Betonung kompensiert die Auslassung von Jesus in Takt 35, welcher durch „König“ ersetzt wird. Damit ist der „König“ („King“ in Takt 36) bereits erwähnt und der Satz kann nun mit „des Herrn“ beendet werden, was sich mit „fern“ in Takt 28 reimt. Der Reim „sing-King“ in den Takten 28 und 36 bleibt durch „fern-Herrn“ erhalten.
Diese rundum gelungenen Übersetzungen bringen Rutter noch einmal neu in die deutsche Weihnachtsliedertradition ein und eignen sich sehr gut für Gemeindechöre, die den Text beim Singen verstehen möchten und den Zuhörerinnen und Zuhörern die Weihnachtsbotschaft ganz direkt vermitteln wollen.