Die Vereine und die Scheinselbstständigkeit
Der Gesetzgeber kann, wenn er will, und er kann sehr schnell, wenn er will. Mitten im Wahlkampf, am 30. Januar 2025, hat der Deutsche Bundestag durch eine Gesetzesänderung auf das viel zitierte „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichts vom 28. Juni 2022 (B 12 R 3/20 R) reagiert. Der Bundesrat hat am 14. Februar 2025 zugestimmt.
Mit seinem Urteil hat das Bundessozialgericht einer Musikschule und einer Musikschullehrerin „ins Stammbuch geschrieben“, dass Letztere – entgegen vertraglicher Regelung – als nicht freiberufliche, sondern auch rechtlich als abhängig beschäftigte Musiklehrerin zu betrachten sei, was ihre Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung sowie Beurteilung nach die dem Recht der Arbeitsförderung auslöse. Kurios: Das Sozialgericht Stuttgart hatte schon am 21. Dezember 2017 eine Scheinselbstständigkeit der Musiklehrerin festgestellt, das Landessozialgericht Baden-Württemberg hob diese Entscheidung auf und stellte fest, dass die Musiklehrerin als Freiberuflerin zu betrachten sei, die nicht der Versicherungspflicht nach GKV, GRV sPV und dem Recht der Arbeitsförderung unterliege.
Diese Entscheidung hat nun das Bundessozialgericht in seiner oben zitierten Entscheidung wiederum aufgehoben und eine abhängige Beschäftigung der Musiklehrerin festgestellt mit der Folge der umfassenden Versicherungspflicht.
An dieser Stelle sei auf die Ausgabe 09/24 der Zeitschrift SINGEN zum Kolumnenthema „Anmerkungen zur Neufassung des Muster-Chorleitervertrages“ verwiesen. Die Ausführungen sind nach wie vor aktuell und ich darf auf sie Bezug nehmen.
Rechtssichere Beschäftigung
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts hatte eine ungeheure politische und verbandspolitische Wirkung. Schlimmste Befürchtungen wurden geäußert: Würden Musiklehrer an Musikschulen auch entgegen Vereinbarungen über eine Freiberuflichkeit versicherungsrechtlich und sozialrechtlich wie Angestellte behandelt werden müssen, würde dies einen schweren Einschnitt in die Bildungsangebote der Musikschulen und anderer, vergleichbare Träger haben. Eine rechtssichere Beschäftigung von Musiklehrern in diesem Bereich sei künftig nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts nur im Rahmen einer Festanstellung möglich; die Anforderungen an eine Freiberuflichkeit ließen sich nach diesem Urteil an Musikschulen und vergleichbaren Einrichtungen nicht mehr erfüllen mit schwerwiegenden, existenzbedrohenden Folgen.
Risiko der Mehrkosten
Teilweise hatte die Entscheidung zur Folge, dass Musikschulen vollständig auf Honorarkräfte verzichteten und nur noch Lehrkräfte in Festanstellung beschäftigten. Das Risiko der Nachversicherung bis zu vier Jahre „rückwärts“ wurde bei einer Reihe von Musikschulen und Kommunen als nicht tragbar angesehen. Die Mehrkosten der Festanstellung würden zu einer Erhöhung der Ausgaben für festangestellte Musikschullehrer führen, was nur mit erheblichen Mehraufwendungen für den Musikschulträger und auch einer erheblichen Gebührenerhöhung für die Musikschüler verbunden sein würde. Große Befürchtungen wurden hinsichtlich des Umfangs und der Qualität von Bildungsangeboten im Kulturbereich geäußert, nicht zuletzt vom Deutschen Kulturrat.
Wiederholt wurde in Verlautbarungen der allgemeinen und der Verbandspresse darauf hingewiesen, dass dieses Urteil nicht nur die Musikschulen, sondern auch andere, vergleichbare Einrichtungen und nicht zuletzt auch die Vereine betreffen könnte und müsste, vor allem im Hinblick auf die Rolle von Vereinen bei der Ganztagsbetreuung unter Verwendung verbindlicher Lehrpläne, an die sich Vereinsmitarbeiter, die in diesem Bereich tätig sind, zu halten hätten.
Spitzenverbände und Dachverbände sowie die gesetzlichen Krankenversicherungen und die Deutsche Rentenversicherung Bund traten in Verhandlungen darüber ein, wie mit diesem Urteil künftig umzugehen sei, ohne einen Kahlschlag in den musikalischen Angeboten befürchten oder hinnehmen zu müssen. Selbstverständlich hätten viele Musikschulen die wirtschaftlichen Mittel nicht aufbringen können, sämtliche Musiklehrer (Freiberufler und Angestellte) als Angestellte weiter zu beschäftigen, zumal viele Freiberufler neben einer anderen Berufstätigkeit nur ein sehr geringes Stundenkontingent zu bespielen hätten.
Übergangsregelung
Am 30. Januar 2025 wurde die bisher fehlende „Übergangslösung“ herbeigeführt; die Entscheidung des Deutschen Bundestages wurde als „Atempause“ bezeichnet: Bis zum 31. Dezember 2026 gilt die Regelung (§ 127 SGB IV) unter der Unterschrift „Übergangsregelungen für Lehrtätigkeiten“, wonach in diesem Zeitraum eine Versicherungspflicht nach § 7a SGB IV nur vorliegt, wenn die Vertragsparteien (Musikschule und Musiklehrer) übereinstimmend von einer selbstständigen Tätigkeit ausgegangen sind, und wenn die Lehrperson (Musikschullehrer) der Fortdauer des freiberuflichen Beschäftigungsverhältnisses zustimmt.
Das heißt: In den nächsten zwei Jahren haben die Vertrag- und Gesprächspartner Zeit, die notwendigen Änderungen herbeizuführen, um entweder den Vorgaben des „Herrenberg-Urteils“ zu entsprechen oder durch Gesetzesinitiativen auf eine Änderung hinzuwirken, die dann – ab 2027 – bei der Betriebsprüfung der Deutschen Rentenversicherung Bund sicherstellt, dass die Fortdauer des freiberuflichen Beschäftigungsverhältnisses unter gleichen oder angepassten Bedingungen möglich ist.
Nicht nur aus Gründen der Wirtschaftlichkeit der Beschäftigung von Musikschaffenden, sondern auch zum Erhalt der Qualität der Bildungsangebote, ist nach dem Wissen aller Beteiligten die Beibehaltung des Modells des freiberuflich tätigen Dozenten erforderlich.
Es ist nochmals zu betonen: Das Herrenberg-Urteil betrifft die Vereine zunächst und in erster Linie nicht. Für sie gilt weiterhin das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg aus dem Jahr 2018, welches im Hinblick auf die Freiberuflichkeit von Chorleitern in Vereinen ergangen ist. Dieses Urteil hat die Anforderungen an die Freiberuflichkeit deutlich verschärft, was an dieser Stelle schon mehrfach mitgeteilt wurde und in der Neufassung des Chorleitervertragsmuster, Stand Juli 2024, zum Ausdruck kommt.
Der Tonkünstlerverband hat davor gewarnt, dass das „Herrenberg-Urteil“ auch Auswirkungen auf Vereine haben könnte und zu Statusfeststellungen von Angestelltenverhältnissen und hohen Nachzahlungen führen könnte.
Entwarnung für Vereine im SCV
Einstweilen kann für die Vereine des Schwäbischen Chorverbandes „Entwarnung“ gegeben werden. Voraussetzung ist, dass den Anforderungen des Landessozialgerichts entsprochen wird, wie dies bei Anwendung des Muster-Chorleitervertrages 2024 der Fall ist. Anpassungen werden dann erforderlich werden, wenn Vereine im Bereich der Ganztagesbetreuung oder aus anderen Gründen und in anderen Zusammenhängen die Anforderungen des Landessozialgerichts nicht erfüllen können. Das gilt in erster Linie im Hinblick auf das unternehmerische Risiko, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Chorleiter nur die tatsächlich erbrachten Leistungen vergütet erhält, die er auch „spitz“ abzurechnen hat. Es gilt aber auch im Hinblick auf die musikalische und pädagogische Freiheit bei der Gestaltung seiner Proben- und Aufführungsarbeit, also im Hinblick auf eine Weisungsfreiheit vom Verein in Bezug auf seine Chorleitertätigkeit. Auch dazu ist auf die Kolumne 09/24, ergänzend auch auf die Ausführungen zum Status Feststellungsverfahren in der Kolumne 12/23, zu verweisen.
Ich werde bei gegebenem Anlass über Veränderungen unverzüglich berichten, vor allem solche, die eine Anpassung der Chorleiterverträge auch im Bereich der Vereine erforderlich machen.
Der freie Chorleitervertrag ist ein wesentliches Element der musikalischen Arbeit der Vereine im Schwäbischen Chorverband. Er muss unbedingt erhalten bleiben. Durch den Chorleiter-Mustervertrag, Stand Juli 2024, ist dies bis auf weiteres gesichert. Wenn sich etwas ändert, werden Sie es unverzüglich erfahren.
Rechtsanwalt Christian Heieck
Weiherstraße 6, 72213 Altensteig
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Dieser Beitrag gibt die Auffassung, Kenntnisse und Erfahrungen des Autors aus vielen Jahren Vereinsrechtpraxis wieder. Wir bitten dennoch um Verständnis, wenn im Hinblick auf die Vielfalt der individuellen Fallgestaltungen, die im Vereinsrecht vorkommen, eine Haftung für die gegebenen Auskünfte im Hinblick auf konkrete Einzelfälle nicht übernommen werden kann.