Warum beim Singen die „Glückshormon-Bombe“ gezündet wird und welchen körperlichen Unterschied es macht, Musik nur zu konsumieren oder auch selbst zu praktizieren
„Singen macht glücklich“ – das liest man häufig. Aber lässt sich das wissenschaftlich belegen und was passiert da in unserem Gehirn? Und welche positiven Effekte hat das Üben auf den gesamten Körper? Sandra Bildmann hat für die SINGEN mit dem Assistenzarzt Maximilian Niebler genau darüber gesprochen. Die beiden duzen sich, weil sie sich auf der Opernbühne bereits zuvor kennengelernt haben.
Warum singst du – privat und als Arzt?
Persönlich-privat habe ich meine ersten sängerischen Erfahrungen bei den Regensburger Domspatzen gemacht, als meine Eltern beschlossen haben, dass mir das Internat dort gut tun wird. [lächelt] Ich habe aber dann relativ schnell aus eigenem Ansporn heraus eine große Begeisterung für das Singen verspürt und damit sind wir auch gleich beim Wissenschaftlichen: Es gibt ja viele Gründe, warum Menschen singen. Schon Platon mutmaßte, dass hinter dem Singen als Kulturtradition zuvorderst innere Gefühle und das Bedürfnis nach sozialer Harmonie stehen. Aus der anthropologischen Forschung weiß man, dass klangliche Lautäußerungen über die reine Kommunikationsfunktion hinaus schon immer eine große Rolle gespielt haben. Uneins ist man sich allerdings darüber, was zuerst da war: Laute und Klang oder Formanten und Vokalsprache. Generell bin ich auch in meinem Arzt-Dasein ein leidenschaftlicher Verfechter des Singens, weil es aus vielschichtiger Hinsicht positive Effekt für Körper, Geist und Seele bereithält.
Laute produzieren, singen oder auch Musik „nur“ wahrnehmen ist eine unmittelbar emotionale Erfahrung. Aber warum und was passiert da im Körper?
Diese Frage könnte man sehr ausufernd und hoch wissenschaftlich beantworten. Aber wenn man es mal auf zentrale Kernaussagen runterbricht, wird beim Singen – noch mehr, als beim Musizieren mit einem Instrument – ein richtiger „Chemiecocktail“ im Hirn aktiv freigesetzt. Das Singen aktiviert unser Belohnungssystem im Gehirn. Dieser Chemiecocktail besteht zu großen Teilen aus den Botenstoffen Dopamin, Serotonin, den Endorphinen und Oxytocin. All diese Botenstoffe zeigen ein enges funktionales Zusammenspiel, besonders im subjektiven Erleben und Empfinden von Euphorie, Glück, Entspannung und Motivation.
Warum gerade beim Singen all diese „Glücklich-Macher“ synchron und/oder aufeinanderfolgend aktiviert werden, liegt einerseits daran, dass das Singen per se als koordinatives Zusammenspiel dutzender verschiedener Körperregionen im Gehirn als Schaltzentrale die vielen verschiedenen Hirnareale mit ihren jeweiligen Botenstoffen aktiviert und vor allem auch miteinander synchronisiert. Zweitens sind in uns Menschen evolutionär wie biographisch fest verankerte Gedächtnisinhalte angelegt, die das Singen wie das Hören von Gesang mit positivem Emotionserleben verknüpfen. Beim aktiven Singen werden dann natürlich genau diese „Gedächtnis-Patterns“ reaktiviert. Drittens wirkt das mit dem Singen einhergehende Stimulieren der körpereigenen Resonanzräume wie eine Massage und triggert hierdurch wiederum unser „Entspannungssystem“. Viertens ist das Singen mitunter die intensivste Form des Emotionsausdruckes und -erlebens, welche wieder unser limbisches System, sozusagen unser „Emotionssystem“, maximal stimuliert. Und fünftens, und dieser Aspekt kommt besonders beim Chorsingen zur Geltung, ist Singen eine der intensivsten Gestaltungsformen von sozialer Interaktion und sozialer Integration. Hierbei kommt dem Oxytocin, das gemeinhin auch als „Kuschelhormon“, „Bindungshormon“ oder „Mama-Hormon“ bezeichnet wird, eine große Rolle zu, weil es das soziale und subjektive Erleben auf neuronaler Ebene vermittelt und steuert.
Musik kann beeinflussen, sie kann manipulieren. Ich zum Beispiel merke: Wenn es mir schlecht geht, dann will ich alles, nur bitte keinen Walzer hören! Wenn ich mich dann aber überwinde und mache einen absoluten Kitschwalzer von Johann Strauß an, geht‘s mir doch wieder besser. Da hat jetzt jeder natürlich seine eigenen „Heilungs-Stücke“. Aber warum funktioniert das?
Bei dir ist der Johann-Strauß-Walzer mit spezifischen und ur-persönlichen Erinnerungen verknüpft. Er entspricht vermutlich auch deinem persönlichen Geschmack, sodass er bei dir eben aufgrund dadurch, dass es auch in deinem emotionalen Gedächtnis im sogenannten limbischen System wie eine Speicherkarte eingraviert ist, mit positiver Emotion und positiven Erinnerungen verbunden ist. Bei dir ist encodiert, dass – wenn diese Rhythmus-Pattern, gewisse Klangharmonie und Melodie-Pattern ablaufen – dein Gehirn als Barkeeper deinen Glückcocktail mixt, ob du willst oder nicht.
In diesem Zusammenhang muss ich auch schnell auf unserer körpereigenes Stresssystem zu sprechen kommen, welches durch das Hormon Cortisol repräsentiert wird. Cortisol wird bei chronischem Stress ausgeschüttet und bewirkt im Körper eine Anpassung von Kreislauf- und Stoffwechselvorgängen, die dazu führen, dass der Organismus in dieser Stressbelastung überlebensfähig wird. Bei vielen Menschen ist der basale Cortisolspiegel durch lebensstil-bedingten Stress-Einfluss zu hoch: Höhere kardiovaskuläre Belastung, höherer Zuckerstoffwechsel etc. sind die Folge. Die mit dem Singen verbundene Zündung unserer „Glückshormon-Bombe“ wirkt einer zu hohen Cortisol-Ausschüttung entgegen und senkt den Cortisolspiegel langfristig.
Gibt es neben den Hormonen noch weitere Faktoren?
Dass das Singen sozusagen die Königin des physiologisch guten Emotionsausdruckes ist, liegt auch an der Sängeratmung. Die tiefe und regelmäßige Bauchatmung beim Singen aktiviert darüber hinaus auch Dehnungsrezeptoren in der Lunge. Werden diese Dehnungsrezeptoren aktiviert, stimuliert dies wiederum den Parasympathikus in unserem vegetativen Nervensystem, also der Teil des Nervensystems, der unbewusst unsere Körperfunktionen reguliert. Der Parasympathikus oder Vagus verwaltet und vermittelt als „Rest and digest“-Nerv im Gegensatz zum Sympathikus als „Fight or flight“-Nerv einen körperlichen Ruhezustand fernab von Stress und Bedrohungen. Dass das Singen ähnlich wie eine gute Meditation genau diesen Ruhezustand aktiviert und unser Stresssystem hierdurch noch weiter herunterreguliert, merkt man an Herzschlag und Blutdruck. Das ist vielleicht auch die eindrücklichste manipulative Komponente des Singens.
Welchen Unterschied macht es, ob ich Musik konsumiere oder selber aktiv praktiziere?
Da muss man ein bisschen ausholen und einmal einen kurzen Blick auf die neuronalen Vernetzungsstrukturen und -dynamiken im Gehirn werfen. Natürlich hat man schon allein beim Musikhören eine hochgradig polysensorische Vernetzung, also eine Verknüpfung über viele verschiedene Eingangskanäle vorliegen. Der gehörte Ton kommt in unserem Hörzentrum, dem auditorischen Kortex an und wird dort verarbeitet und an sekundäre Hirnareale weiter projiziert, darunter auch direkt in die emotionalen Zentren. Die Gedächtnisnetzwerke klinken sich dann über die Re-Aktivierung und das Wiedererkennen biographischer oder musikalischer Gedächtnisinhalte ein. Das sind plötzlich sehr viele Kabelstränge und „Transistoren“ in unserem Gehirn, die da aktiv sind. Weil Musik über so viele Ebenen aufgehängt ist, ist sie auch so mächtig.
Aber jetzt kommen wir zum additiven Effekt des aktiven Praktizierens und da ist natürlich unsere neuronalen Bewegungszentren, die Motorcortices, aber auch das Frontalhirn als Planungszentrum in zentraler Weise gefordert. Beim aktiven Musikmachen haben wir ja zusätzlich zu den beim Musikhören angeführten Zentren nochmals einen motorischen Output wie auch über Rückkopplungsnetzwerke auch einen Input. Außerdem müssen wir über den präfrontalen Cortex vermittelt planen, uns konzentrieren, kreativ sein und letztendlich alle Abläufe koordinieren. Beim Gesang im Speziellen sind natürlich auch noch unsere Sprachzentren wahnsinnig involviert, außerdem habe ich durch die Aktivierung und Ansteuerung der körpereigenen Resonatoren/Klangräume noch die sensorische Rückkopplung, also meine Innenwahrnehmung, dabei.
Insgesamt sind beim aktiven Musizieren nochmals signifikant mehr neuronale Zentren, Abläufe und Verschaltungen aktiv. Für den Fall des Singens gibt es hier auch ein recht anschauliches Beispiel: Es gibt viele Menschen, die stottern – aber beim Singen dann plötzlich nicht mehr. Das ist der singende Beweis, dass beim Singen einfach ganz viele andere neuronale Netzwerke aktiv sind; dass das Singen nicht mit dem Sprechen gleichzusetzen ist, auch rein neurobiologisch.
Für welche Körperregionen und Fähigkeiten ist es sinnvoll – abgesehen davon, dass ich das Stück am Ende besser kann –, dass ich übe?
Oha, ich fürchte, das wird jetzt eine lange Antwort! [lächelt] Fangen wir einmal mit den motorischen Aspekten an. In unserem Gehirn liegen die primäre Schaltzentrale für Bewegungen und die primäre Schaltzentrale für sensorische Wahrnehmungen, also alles, was an Reizen, Kälte, Wärme, haptisch reinkommt, direkt nebeneinander positioniert. Dies liegt daran, dass Sensorik und Motorik unmittelbar miteinander verknüpft sind. Ich bin ja zum Beispiel bei der Ausführung meiner Bewegung auf die Rückmeldung meiner muskulären Dehnungsrezeptoren angewiesen oder muss zum Beispiel die Hand ganz schnell von der heißen Herdplatte wegziehen können. In diesen beiden Gehirnarealen ist unser Körper einmal parallel von oben bis unten, von Kopf bis Zeh kartographisch mit verschiedenen nebeneinanderliegenden Nervenzellen, die für die jeweilige Körperregion zuständig sind, abgebildet. Diese kartographische Repräsentation des Körpers im Gehirn mit einer parallelen Anordnung im sensorischen wie motorischen Cortex nennt man Homunculus. Man kann diesen Homunculus bei jedem Individuum dank funktioneller MRT-Untersuchungen in seinen Proportionen graphisch abbilden und hat dann zum Beispiel gemeinhin einen riesengroßen Kopf mit überdimensionalen Lippen oder riesige Fingerspitzen, da dort unzählig viele sensorische und motorische Verschaltungen ablaufen. Dank der Neuroplastizität ist nun dieser Homunculus in seinen Proportionen modifizierbar, also in dem Sinne, durch wie viele Nervenzellen und Verschaltungen eine bestimmte Körperregion repräsentiert wird und dann auch differenzierter angesteuert werden kann. Und wenn ich jetzt natürlich ein Sänger bin, dann wird mein Stimmmuskel, meine Halsmuskeln, meine Zungenmuskeln, meine Kehlkopfmuskeln, mein Zwerchfellmuskel, meine Zwischenrippenmuskeln einerseits in ihrer Kraft, andererseits auch in ihrer zerebralen, neuronalen, motorischen wie sensorischen Repräsentation optimiert. Wenn ich jetzt ein Pianist bin und entsprechend übe, dann habe ich natürlich in meinem individuellen Homunculus überdimensionierte Hände und so weiter und sofort. Diese nun hochgradig auf vielerlei Ebene trainierten Körperareale erweisen sich dann auch bei „musik-fremden“ Tätigkeiten von großem Vorteil.
Es gibt sicher noch weitere Vorteile…
Dann habe ich natürlich durch regelmäßiges Üben mit einer Vielzahl von synchronisierten Gehirnarealen auf beiden Hälften des Gehirns eine deutlich optimierte wechselseitige und synchronisierte Verschaltung beider Gehirnhälften. Verschiedene Gehirnareale sind entweder auf der einen oder anderen Gehirnhälfte, aber nicht auf beiden Gehirnhälften zu finden. Ein Großteil der Kommunikation dieser spezifisch einseitigen Gehirnareale erfolgt über eine einzigen Kabelstrang, den sogenannten „Balken“. Beim übenden Praktizieren von Musik wird diese Kommunikation zwischen beiden Gehirnhälften über den Balken besonders beansprucht und im Sinne der Neuroplastizität auch besonders im Sinne einer höheren Transportkapazität dieser Datenautobahn trainiert. Diese verbesserte Synchronisation beider Gehirnhälften hat über die Musik hinaus auch zahlreiche positive alltagspraktische Effekte in Bezug auf die raschere und flexiblere Verschaltung von Emotionen mit dem Gedächtnis, in Bezug auf eine erhöhte Kreativität, kognitive Flexibilität, generell in Bezug auf eine erhöhte abrufbare Intelligenz.
Und dann haben wir natürlich beim Üben noch diese psychologische Dimension der Selbstwirksamkeit. Ich sehe, dass ich als Person durch Üben, durch Disziplin und das, was ich mir vornehme, einfach selbstwirksam werden kann, was wiederum mein Belohnungssystem natürlich aktiviert.
Dann habe ich auch die psychosoziale Dimension, dass ich beim Üben ja meistens Anleitung und Rückmeldung durch meinen Lehrer oder Lehrerin bekomme, was wiederum positive Erfahrungen und Lerneffekte in Bezug auf meinen Bindungshorizont, mein Sozialverhalten auch in Bezug auf Kritikfähigkeit mit sich bringt. Und ich lerne Disziplin. Und so weiter und sofort. Da kann man unendlich weitermachen.
Das Musizieren/das Singen hat also einen großen Mehrwert gegenüber anderen Hobbys?
Ich würde meine Kinder immer zur Musik bringen – weil das natürlich schon ein Premium-Hobby mit vielen einzelnen Hobby-Komponenten ist. Ich bin beim gemeinschaftlichen Musikmachen in eine Gemeinschaftsstruktur eingebettet, kann mich selbst künstlerisch-kreativ verwirklichen, trainiere gleichzeitige diverse Fähigkeiten, verbessere meine psychische wie physische Gesundheit und kann – je nach Vorliebe – durch Konzerte und Wettbewerbe einen kompetitiven Charakter inkludieren. Generell sollte man aber das machen, was einem liegt und Spaß macht. Sport oder andere Hobbys können genauso positive Implikationen mit sich bringen, aber oftmals nicht unbedingt in dieser multifaktoriellen Dimension, wie beim Singen oder Musizieren generell. Man sollte aber niemanden zur Musik zwingen, denn dann wird Musik plötzlich mit negativen Bindungs- und Lernerfahrungen „fehl-konnotiert“.
Dann gibt’s kein Serotonin mehr…
Wenig Serotonin, wenig Dopamin, dafür viel negativ encodiert und das soll nicht sein, weil dann Musik als Trägerin von positiver Emotion als Ressource auch beim Hören verloren geht.
Wenn wir keine Musik im Leben hätten, nicht singen oder selber musizieren würden; wenn es das nicht gäbe: Was wäre das für eine Welt – körperlich, menschlich, sozial, emotional?
Will ich eigentlich gar nicht wissen. Das wäre eine Welt, in der es dann was anderes geben müsste. Eine Welt ohne Musik kann ich mir nicht vorstellen, weil Musik so alt ist wie der Mensch. Es gibt ja diese kleine Gruppe von amusischen Menschen. Man muss sich das ein bisschen so vorstellen wie eine Rechtschreibschwäche. Die Betroffenen werden Musik in ihrem Leben wahrscheinlich nicht so als Ressource erleben und empfinden können, aber sind trotzdem für gewisse Formen von Musik zu gewinnen, zum Beispiel über rhythmische Dimensionen. Das sollte man akzeptieren und versuchen, andere Ressourcen zu fördern und zu stärken.
Ist Musik mehr Herz oder mehr Kopf?
Beides! Musik und vor allem das Singen ist aus meiner Sicht die perfekte Synthese von Herz und Kopf.
Lieber Max, danke für das Gespräch!
Das Interview führte Sandra Bildmann.
Maximilian Niebler ist als Arzt in Weiterbildung in klinischer und forschender Tätigkeit an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Regensburg am medbo Bezirksklinikum Regensburg tätig.
Vor dem Hintergrund einer weiterführenden Gesangsausbildung parallel zum Medizinstudium verbindet er seine freien Tage außerhalb der Klinik mit regelmäßiger Konzerttätigkeit und sang bereits unter der Leitung von Sir Simon Rattle und Peter Dijkstra. Derzeit steht er als Mitglied des Vokalensembles LauschWerk auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper.
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