Seit Anfang der 1990er Jahre begeistern Kino- und TV-Filme sowie Dokumentationen, in deren Mittelpunkt Chöre stehen, ein breites Publikum. Dabei treten Chöre in den unterschiedlichsten Rollen und Funktionen innerhalb der Handlung auf. Doch worauf gründet das wachsende Interesse von Filmemachenden und Zuschauenden am Chorsingen – und können solche Filme die gesellschaftliche Wahrnehmung und Wertschätzung von Chorgesang tatsächlich beeinflussen?
Die Musikpädagogin Susanne Maas hat sich schon 2013 in ihrer Doktorarbeit mit dem Thema „Chöre im Spielfilm“ beschäftigt. Im Mittelpunkt stehen dabei Spielfilme und TV-Produktionen, in denen Chöre oder Chorsingen innerhalb der Handlung thematisiert werden. Doch gibt es eigentlich ein eigenes Genre „Chorfilm“? Der Begriff ist weder in der Filmwissenschaft noch in der filmischen Praxis fest definiert, hat sich aber im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert.
Zur Info: Die Publikation „Chöre im Spielfilm“ ist mit dem 6-seitigen Filmregister (bis zum Jahr 2013) am Ende des 468-seitigen Buchs (LIT-Verlag) auch hervorragend als Materialsammlung für Fans von Chorfilmen zu gebrauchen.
Chorsingen als Mittel der Erziehung
Häufig wird Chorsingen in Filmen als Mittel der Erziehung dargestellt. „Der Chorleiter ist hier in der Regel der Musiklehrer oder übernimmt zumindest eine musiklehrerähnliche Funktion in der Schule. Die Schüler bilden den Chor, wodurch Chorsingen explizit zum Instrument schulischer Erziehung wird“, erklärt Maas. Beispielhaft sind hier die populären Produktionen „Sister Act 2“ und „Die Kinder des Monsieur Mathieu“, die weltweit ein breites Publikum erreichten – und in realen Schulen auch gerne im Unterricht eingesetzt werden.
In „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ geht es in erster Linie um Menschlichkeit in der Erziehung von Jungen aus schwierigen Verhältnissen. Das Chorsingen schafft dabei ein neues, humaneres Klima an der Schule und eröffnet den Schülern echte Zukunftsperspektiven. Ganz ähnlich vermittelt „Sister Act 2“ die Botschaft, dass benachteiligten Jugendlichen durch Chorsingen (und den Erhalt der kirchlichen Schule) ein Ausweg aus ihrer sozialen Misere eröffnet wird.
Chorsingen als Therapieform
Ab der Jahrtausendwende rückte zudem das therapeutische Potenzial von Chorsingen stärker ins Blickfeld von Wissenschaft, Forschung und Öffentlichkeit: Nicht das musikalische Ergebnis zählt, sondern das, was die Musik bei den Menschen bewirkt. So entstanden 2004 unabhängig voneinander in Skandinavien die Filme „Wie im Himmel“ und „Oh Happy Day“, die die psychische Gesundheit der Protagonisten und die therapeutische Wirkung des Chorsingens in den Mittelpunkt stellen.
Demgegenüber zeichnen sich Chorfilme, in denen die Chorleitung im Mittelpunkt der Handlung steht, häufig durch die Popularität der Hauptdarstellerin oder des Hauptdarstellers aus sowie durch eine eng an diese Person geknüpfte Handlung. Beispielhaft dafür seien erwähnt: Whoopie Goldberg („Sister Act I“), Beyoncé Knowles („The Fighting Temptations“), und Dustin Hoffmann („Der Chor – Stimmen des Herzens“). Ein pädagogisch wertvoller Film, in dem ein Chor den Rahmen der Handlung bildet, ist die dritte Verfilmung (2003) von Erich Kästners Roman „Das fliegende Klassenzimmer“. Schauplatz ist das Internat des Thomanerchores Leipzig, und die Thomaner selbst wurden in die Dreharbeiten einbezogen.
Chorfilm vs. Musicalfilm
Und dann ist da ja noch eine ganze Reihe erfolgreicher Musicalfilme: Auf den ersten Blick scheinen sie ihre etwas unscheinbare Schwester „Chorfilm“ fast verdrängt zu haben. Denn Hollywood setzt auf Glanz, Tanz und starke Stimmen – „La La Land“, „The Greatest Showman“, „Wonka“ oder die Realverfilmungen von Disney-Klassikern sind Paradebeispiele für eine Ära, in der die Einzelstimme zur Marke geworden ist. Während der Musicalfilm also oft das Individuum feiert, erzählt der Chorfilm eine ganz andere Geschichte: die vom Aufgehen in der Gemeinschaft, vom Hinhören, vom Miteinander.
Gerade der aktuelle Film „No Hit Wonder“ zeigt, dass Chorsingen keine Flucht vor dem Ich ist, sondern eine neuentdeckte, uralte Form des Zusammenhalts in einer zersplitternden Gesellschaft. Der Musicalfilm lebt von Spektakel – Licht, Kostüme, Choreografie. Der Chorfilm wirkt leiser, intimer und deutlich näher am echten Leben. Wenn Menschen, die keine Profis sind, gemeinsam singen, entsteht ein emotionaler Realismus, der Musicalfilmen oft fehlt. Und das Publikum sucht offenbar auch diese Authentizität, nicht nur Hochglanz.
Vom Kinosaal ins Wohnzimmer – Chöre im Fernsehen
Doch nicht nur im Kino, auch in TV-Filmen spielen immer wieder Chöre eine Rolle. „Mein Song für dich“ (2010, Sat.1) erzählt von einem norddeutschen Dorf, in dem zwei gegensätzliche Musikwelten – Gospelchor und Rockmusik – aufeinandertreffen und schließlich zusammenfinden. Das amerikanische Drama „Perfect Harmony“ (1991) behandelt Rassenvorurteile an einer Jungenschule im Süden der USA. Im Serienbereich ist neben der bekannten und vielfach ausgezeichneten US-amerikanischen Musical-Serie „Glee“ auch die fünfteilige BBC-Serie „The Choir“ (1995) erwähnenswert, die im Umfeld einer britischen Kathedralenschule und ihres Knabenchores spielt. Ein deutsches Pendant zu „Glee“ war die Serie „Hand aufs Herz“ (Sat.1, 2010–2011), in der eine Sing- und Tanz-AG an einer fiktiven Kölner Gesamtschule im Mittelpunkt steht.
Warum ist das Konzept so erfolgreich?
Was ist nun aber der besondere Reiz für den Zuschauer? Chöre in Film und Fernsehen packen das Publikum unmittelbar: Singen ist die Wurzel und der Kern allen Musizierens, die Viel- und Mehrstimmigkeit eines Chores verstärkt Emotionen, von Gänsehautmomenten bis zu feierlicher Erhabenheit. Chöre stehen für Gemeinschaft, Zusammenhalt und moralische Werte – und werden so zum erzählerischen Werkzeug, das Figuren und Handlung leitet. Ob als Handlungsträger („Wie im Himmel“), Handlungsrahmen („Das fliegende Klassenzimmer“) oder Katalysator persönlicher Entwicklung („No Hit Wonder“), Chöre machen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Musik und dem wirklich wahren Leben sichtbar und fühlbar.
In einer Zeit, in der vieles digital und fragmentiert ist, bietet das gemeinsame Singen eine unvergleichliche Möglichkeit, Nähe und Zugehörigkeit zu erleben. Kinofilme, in denen Chöre im Mittelpunkt stehen, öffnen dafür einen ganz besonderen Zugang: Sie machen die Kraft des Chorsingens einem breiten Publikum sichtbar und spürbar. Für viele Menschen, die sonst selten mit Chormusik in Berührung kommen, werden solche Filme zu einem ersten, begeisternden Einstieg in diese Welt – und deshalb sind sie meiner Meinung nach so wichtig! Sie können dazu beitragen, die gesellschaftliche Bedeutung des traditionellen Kulturgutes Chor auf unterhaltsame, berührende Weise zu vermitteln.
Ich denke, dass der Chorfilm erstaunlich gut in den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs passt: Er erzählt von Gemeinschaft, Inklusion, Zugehörigkeit, psychischer Gesundheit – Themen, die mitten in unsere Zeit treffen. Musicalfilme mögen glamouröser sein, aber Chorfilme bilden soziale Realitäten in der Regel wirklichkeitsgetreuer ab. Vielleicht sind diese Filme nicht auf Platz 1 der Kino-Charts, aber mit großem Abstand auf Platz 1 unserer Chorseelen-Charts – meiner allemal!
Anzeige



