Interview mit Heike Kiefner-Jesatko über Frauenchöre, deren Reiz und ihre gesellschaftspolitische Bedeutung
SINGEN: Viele Dirigentinnen und Dirigenten stehen eher unfreiwillig vor einem Frauenchor, der nämlich erst zu einem geworden ist, weil Männerstimmen fehlen. Geht es Ihnen auch so?
Heike Kiefner-Jesatko: Ich habe meinen Frauenchor 4×4 vor 20 Jahren ja selber gegründet, insofern stehe ich da ganz freiwillig vorne. Damals noch ein bisschen ahnungslos. Ich kannte einige wenige Werke für Frauenchor, im Studium kam das Thema nicht vor und in meiner Zeit als Opernchorleiterin betraf es mich auch nicht, und dann habe ich einfach angefangen und festgestellt, dass mir die Arbeit sehr viel Spaß macht. Bei uns an der Hochschule einen Frauenchor zu leiten macht auch durchaus Sinn, weil wir einfach viel mehr junge Frauen- als Männerstimmen haben.
Ich glaube nicht, dass sich das unterscheidet. Man braucht für alle Chöre, die man leitet, neben den pianistischen, dirigentischen, gesanglichen, pädagogischen und vielen anderen Fähigkeiten eine Leidenschaft für das, was man tut, und da ist es egal, ob ich einen gemischten Chor, Männer-, Kinder- oder Frauenchor leite. Die Hauptsache ist die Leidenschaft und die Fähigkeit, diese zu vermitteln; es ist extrem wichtig, dass man weiß, was man haben möchte – dass man eine klangliche und musikalische Vorstellung hat. Klar, ich bin eine Frau. Ich weiß, wie Frauen ticken. Und wenn es einer Studentin mal nicht gut geht, kann ich vielleicht mehr Verständnis dafür haben, das kann schon sein. Aber ob das jetzt so entscheidend ist?
Was sind denn für Sie reizvolle Aspekte an der Leitung eines Frauenchors? Haben Sie Männer mal vermisst?
Ich habe auch noch einen gemischten Chor an der Hochschule und eine große Kantorei in Mannheim. Dort habe ich fast so viele Männer- wie Frauenstimmen und im Hochschulchor an der PH gibt es auch Männerstimmen. Insofern kann ich dieses Bedürfnis nach Männerstimmen in anderen Chören ausreichend stillen. Im Frauenchor ist es spannend, den Klang weit aufgefächert zu bekommen, also eine gute Tiefe, eine gute Höhe und präsente Mittelstimmen zu haben – und das alles ohne Männerstimmen. Das hat einen anderen Reiz als im gemischten Chor. Die Erdung zu erreichen und alle höheren Stimmen darin zu verankern in möglichst perfekter Homogenität nur mit den warmen Farben der Frauenstimmen, das ist eines von vielen Zielen meiner Arbeit.
Welche Eigenschaften hat ein Stück, das Sie auswählen?
Es ist dieser Moment, wenn ich mir ein Stück anschaue, dass ich denke ‚Wow, das sind Akkorde, die interessieren mich oder das könnte einen interessanten Zusammenklang geben, der ist einfach spannend.‘ Es kann der Klang sein, der mich anspricht oder auch die Sprache oder Sprachrhythmus, das können interessante Dissonanzen sein oder etwas rhythmisch Interessantes, was dazu führt, dass ich es auswähle. Ungemein bereichernd ist es, wenn Komponist:innen ihren unverwechselbaren Kompositionsstil haben und, wenn die Musik nicht austauschbar ist, wenn sichtbar ist, dass sich der Text auch in der Musik wiederfindet, so dass eine Tiefe in der Musik entsteht, eine weitere Ebene unter den Noten liegt, die zur Interpretation anregt – so etwas spricht mich sehr an und ich habe große Freude daran, das zu vermitteln.
Sie kennen sich aus mit Chören auf Reisen und bei Wettbewerben: Da sammelt man ja wahnsinnig viel Erfahrung und sieht, was andere machen. Wie ist der nationale, aber auch vielleicht internationale Vergleich?
Ganz lange hatte ich den Eindruck, dass sich in Deutschland relativ wenig tut, was Frauenchöre angeht. Da gab es irgendwie nie so viele. Aber im Moment scheint es, als wenn sich bei den Frauenchören etwas bewegt – das finde ich wirklich gut! International gibt es viel mehr Frauenchöre als in Deutschland und es gibt viele Frauenchöre, die auf sehr hohem Niveau musizieren, vor allem in Skandinavien, aber nicht nur dort. In den skandinavischen Ländern gibt es viele Komponist:innen, die für diese Chöre komponieren und genau wissen, was diese sehr guten Laienchöre leisten können. Das vermisse ich so ein bisschen in Deutschland. Wir haben das Glück, dass wir Komponisten kennen, die für uns wunderbare Stücke schreiben.
Die Skandinavier:innen und Balt:innen sind uns, was die Chorszene angeht, ein Stück weit enteilt. Was können oder müssen wir uns denn von ihnen abschauen?
Das ist ein ganz großes Thema. Unsere Kinder, Jugendlichen und Studierenden brauchen eine bessere Ausbildung. Wir brauchen viel mehr Musik schon bei den Kleinen in den Kindergärten. Wir brauchen hervorragend ausgebildete Musiklehrer:innen, die das Fach in den Schulen mit Engagement und Freude unterrichten. Wir brauchen Strukturen, die es ihnen ermöglichen, genau das tun zu können. Es braucht mehr Geld und mehr Personal, um die Breitenförderung noch mehr auszubauen zu können. Wir brauchen einen Konsens darüber, dass beide – die Musik und die Kunst – für das Miteinander in der Gesellschaft sehr wichtig sind. Diesen Konsens haben die Skandinavier:innen und baltischen Länder schon lange gefunden.
Halten Sie es für eine sinnvolle Überlegung, dass Frauenchöre aktiv neue Mitsängerinnen finden könnten, indem sie sagen ‚Wir sind unter uns‘?
Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Stimmt aber auch nicht mehr ganz: Manchmal passiert es auch im Frauenchor, dass eine junge Frau irgendwann ein junger Mann sein wird.
Haben Sie das erlebt?
HKJ: Das ist gerade aktuell bei uns. Da macht sich einer auf den Weg. Ich habe auch gerade einen jungen Mann, der mir gerne für meinen Frauenchor vorsingen möchte. Das sind neue Entwicklungen – der Frauenchor öffnet sich.
Das ist vielleicht auch wieder ein Punkt, wo Musik ein verbindendes Element sein kann, so dass jemand über die Musik und über die Gemeinschaft lernt, sich zu öffnen?
Genau, wo auch eine Gemeinschaft da ist, die die Person trägt. Wir haben das bei uns aktiv besprochen und sind alle bereit, diese Person zu begleiten. Das ist ja ein schwerer Weg. Und dann werden wir sehen, wie es weitergeht.
Ich kenne es aus eigener Chor-Erfahrung, wenn es heißt: ‚Alle Frauen bitte!‘ Gemeint sind aber die Sopran- und Altstimmen, zu denen auch ein Countertenor oder ein Altus gehören kann…
Das betrifft mich auch. Ich muss jetzt auch meine Sprache umstellen. Beim Deutschen Chorwettbewerb in Freiburg gab es einen Frauenchor, bei dem ein Altus mitgesungen hat, und ich erinnere mich noch, dass es damals die Anfrage gab, ob das überhaupt sein darf. Und – ja klar! Also ich meine: Er singt eine Frauenstimme!
Liebe Frau Kiefner-Jesatko, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sandra Bildmann.