Ein Kommentar von Musikdirektor Marcel Dreiling
Haben Sie auch beobachtet, dass viele Gaststätten in der Lock-down-Zeit eingerüstet sind? Meine zwei bevorzugten Restaurants nutzen diese Zeit für Renovierungsarbeiten. Eigentlich ganz schön clever, denn danach kann der Betrieb mit neuem Wind durchstarten, wenn die Pandemie im Griff ist. Was im laufenden Betrieb nicht möglich ist, wird jetzt gemacht. In der Zeit, in der alles darniederliegt, wird investiert, Arbeit verschafft, nach vorne geplant, Zukunft gestaltet.
Diese sinnvolle Strategie sollten wir doch mit unseren Chören auch nutzen. Die Zeit, in der wir unserem Vereinszweck, dem Singen, nicht nachkommen können, lassen sich für strukturelle Maßnahmen nutzen, für die wir im „Alltagsbetrieb“ nie ausreichend Zeit gefunden haben. Ist es nicht Zeit, die SängerInnen über die modernen Kommunikationswege neu zu verknüpfen?! Wir haben in dieser schwierigen Zeit in einem wahnwitzigen Tempo Neuerungen verschiedenster Art erlernt. Unter dem Stichwort „Digitalisierung“ ist nicht nur die lahme Mühle in den Schulen in Gang gekommen. Wir haben gechattet und gezoomt, was das Zeug hält. Die breite Masse hat digitale Endgeräte mit entsprechendem Zugang zum Internet. Das können und müssen wir uns zunutze machen.
Andererseits führt dies zu einer „analogen Verarmung“, die es umso notwendiger macht, in dieser Zeit Kontakte zu pflegen. Ich denke dabei nicht an die bestens vernetzten Jugendlichen, sondern an die älteren, vielleicht sogar alleinstehenden SängerInnen. Fürsorge ist hier das Gebot. Und, liebe KollegInnen ChorleiterInnen: Das ist vornehmlich unsere Aufgabe. Wir sind die Identifikationsfigur des Chores – also stehen wir in der Pflicht! Wir haben unsere SängerInnen nicht als „Stimm-Material“ in Gebrauch, sie sind uns mit Leib und Leben anvertraut. Dafür sind wir auch verantwortlich. Das heißt, wir müssen Kontakte halten und pflegen. Vielleicht sogar in einem Team, das aus dem Chor gebildet ist. Das Sinnbild der „Chorfamilie“ erhält hier vielleicht erstmals eine ganz konkrete, intensivere Bedeutung. Ich kenne Chöre, die zweiwöchentlich regelmäßig einen Infobrief verteilen. Der Brief ist persönlich verfasst – Chorneuigkeiten für Peter Müller“ – und wird ausgetragen. Die Resonanz ist sehr gut.
Auch hier liegt eine Chance: Nie waren Treffen in der Gruppe, gemeinsames Tun und Gestalten so begehrt wie jetzt. Alle lechzen nach Gruppenerlebnissen ohne Pandemiebeschränkungen. Das Fehlen dieser Gemeinschaftserlebnisse in Verein, Kirche und Gesellschaft wird deutlich wahrgenommen. Hier müssen wir, sobald es wieder möglich ist, aufzeigen, dass dies gerade die Stärke des Chorsingens ist. Aus Individuen wird ein großes Ganzes: ein Chor, der sich gemeinsam um Harmonie bemüht. So empfinde ich diese Zeit der Beschränkung durchaus als Chance für eine neue Wertigkeit des gemeinsamen Tuns in Chor und Verein, vielleicht auch über das Singen hinaus. Der Kreativität sind hier keine Grenzen gesetzt. Daraus leite ich meinen Optimismus für die Zukunft des Chorsingen ab.
Kontakte kann man aber auch mit den KollegInnen oder früheren KonzertpartnerInnen pflegen, frei nach dem Motto „Should auld aquaintance be forgot, and never brought to mind“. So lässt sich Altes wiederbeleben und Inspiration für Neues gewinnen.
Und chorintern ist sicher auch einiges liegen geblieben: Ist zum Beispiel die Notenbibliothek in einem aktuellen und praktikablen Zustand – oder wäre es nicht Zeit, eine neue oder erweiterte Systematik einzuführen? Jetzt kann ich als Chorleiter nach sinnvollen Computerprogrammen suchen oder sie passgenau erstellen lassen. Vielleicht gibt es auch jüngere Mitglieder, die in dieser Hinsicht fit sind und die wir aktiv mit einbeziehen können. Die Zeit zur Einarbeitung teile ich gegebenenfalls mit meinem Nachfolger, den ich damit schon sehr frühzeitig einlernen kann. Die Aufgabe, die nächste Generation an den Start zu bringen, ist in allen Bereichen wichtig. Sollte ich nicht jetzt geeignete KandidatInnen für Chorleitungskurse und Ehrenamtsposten suchen und ansprechen?
Wir ächzen und stöhnen ob der eingeschränkten Möglichkeiten. Dabei gehen wir neue Wege, die wir vor Kurzem noch nicht einmal kannten. Vor einem Jahr hatte noch fast niemand die digitalen Möglichkeiten bedacht, die zum Beispiel in dem preisgekrönten Film unserer Chorjugend „Zusammen singen wir stärker“ zum Vorschein kommen. Digitale Proben werden optimiert, Hybrid-Proben ermöglichen es, Präsenzproben mit Fernproben zu kombinieren. Videokonferenzen helfen, mit dem Faktor Zeit effizient umzugehen.
Welche dieser Techniken haben sich bewährt und sollen in der „Nach-Corona-Zeit“ weiter genutzt werden? Eines ist klar: Es wird nach Corona anders sein – aber nicht zwingend schlechter. Wir erhalten die Chance, durch dieses zwangsläufige Innehalten unser Tun zu überdenken. Gelingt es uns, nicht in Schockstarre zu verfallen, sondern in „umtriebiger Erneuerung“ diese Zeit zu nutzen, gehen wir gestärkt daraus hervor. Unsere Fassade wird neu gestrichen, die Zimmer werden renoviert sein und wir werden an Attraktivität gewinnen. Packen wir’s an!
Dieser Kommentar findet sich ungekürzt in der Februar-Ausgabe der Chorzeit.