Sprache und Singen gehört zu den ersten Regungen des Menschen.
Die neue Normalität, die allmählich, wenn auch mit vielen Unsicherheiten behaftet, stetig mehr Gestalt annimmt, stellt uns alle vor neue Herausforderungen. Wie geht es beispielsweise weiter mit den Laienchören, die relativ zur Gesamtbevölkerung weit weniger als zehn Prozent ausmachen, gleichwohl aber zu Recht als wichtige Stützen des Kulturlebens gelten können? Ist das überhaupt der richtige Zeitpunkt, um grundsätzliche Fragen zu stellen, warum wir singen oder warum es Menschen gibt, die der Chormusik vielleicht zugewandt sind, aber nie auf die Idee kämen, sich einem Chor anzuschließen?
Singen ist nützlich
Diese Antwort auf die Frage, warum wir singen, steht nicht im Widerspruch zu den ästhetischen Ansprüchen, die mit jeder Chorprobe und jedem Chorkonzert einhergehen. Doch ist Ästhetik kein Selbstzweck, sondern sie besitzt einen enormen Wert und ist daher von großem individuellen und sozialem Nutzen. Die Hirnforschung hat längst erkannt, dass das menschliche Fühlen, Denken und Handeln unvollständig beschrieben wäre, wenn sie den Sinn für das Schöne außer Acht ließe. Doch zeigt es sich, dass dieser ästhetische Sinn eng verwoben ist mit starken Emotionen und kognitiven Leistungen. Nur so ist zu erklären, dass das Singen Menschen helfen kann, Gefühle zu regulieren, Stress verursachende Gedanken auszublenden und volle Konzentration und Aufmerksamkeit auf die Tätigkeit selbst zu richten. In diesem Sinne kann man von einem Selbstzweck durchaus sprechen, doch Dreh- und Angelpunkt bleibt der Mensch, allen vermeintlichen oder tatsächlichen Klangidealen zum Trotz.
Singen ist sozial
Diese Antwort liegt auf der Hand – und doch wäre es fahrlässig, sie zu übergehen. Mütter und Väter, die mit ihren kleinen Kindern singen, leisten damit sehr viel mehr für das Familienleben, als ihnen bewusst ist. Die empirischen Erkenntnisse sind für sich genommen zwar schon beeindruckend, da beispielsweise sozial-emotionale Kommunikation, Sprachentwicklung, positive Affekte und die Überwindung mancher alltäglichen Krisen mit Eltern-Kind-Singen in Verbindung stehen. Entscheidend ist jedoch vielmehr, dass das gemeinsame Singen eine geteilte Zeit ist, ein unabdingbarer Ausdruck von Wertschätzung, denn nichts wiegt mehr als die ungeteilte Aufmerksamkeit. Nun erfüllen viele kulturelle Techniken, das Spielen, Geschichten erzählen oder Bewegung denselben Zweck.
Und doch füllt das Singen eine Nische, die einfach zu nutzen ist und sich mit den genannten Techniken sehr gut verbinden lässt, im Grunde sein wahres Potenzial erst in Verbindung mit ihnen entfaltet. Das verbindende Element dabei ist die Synchronisation. Dabei kommt es nicht auf die Genauigkeit von Metronomen an, sondern allein auf das Bewusstsein, etwas gleichzeitig zu tun, und in dieser Gleichzeitigkeit eine tiefe Verbindung mit dem Gegenüber einzugehen. Eine Schar von Kindern in einem Raum, bedeutet nicht, dass sich diese besonders stark wahrnehmen und aufmerksam sind für die wechselseitigen Bedürfnisse. Gemeinsame Bewegung, Tanzen und Singen hilft indessen, genau diese gegenseitige Wahrnehmung in Gang zu setzen. Die Kinder schauen sich an, stellen fest, wer überhaupt da ist, wer mitmacht oder wer vielleicht gerade aus der Reihe tanzt. Das sind ganz wichtige soziale Erfahrungen, für die solche Synchronisationsstrategien wie Singen und Tanzen prädestiniert sind.
Integration und Inklusion sind wichtig und viel wird über diese Begriffe geschrieben und nachgedacht. Doch diese mit Leben zu füllen, erfordert es, geeignete kulturelle Techniken zu nutzen, um die im Rahmen solcher Konzepte formulierten Ziele überhaupt zu erreichen. Sprache allein kann das nicht schaffen. Die Frage ist nicht, ob wir es uns leisten können, auch noch Singen, Bewegung und Tanzen in moderne Ausbildungskonzepte von Erzieherinnen und Erziehern aufzunehmen. Die Frage ist vielmehr, ob wir es uns leisten können, genau das nicht zu tun und die brachliegenden Potenziale auszublenden. Die musikalische Früherziehung als punktuelles Ergänzungsangebot ist nichts anderes als eine Bankrotterklärung, eine Form von Diskriminierung in der kulturellen Bildung, die wir klaglos als Normalfall akzeptieren.
Singen hält körperlich und geistig fit
Dass man bei einer solchen Überschrift sofort an die Gruppe älterer Menschen denkt, die eine noch immer wachsende Mehrheit unserer Gesellschaft ausmacht und prägt, kann man niemandem verdenken. Gemeinsames Singen und Tanzen kann nach relativ gut gesicherten Erkenntnissen die Lebensqualität und das Wohlbefinden fördern und zu gelingendem Altern einen guten Teil beitragen. Menschen mit Demenzerkrankungen profitieren von Singangeboten als Ergänzung zu anderen strukturierten Beschäftigungen wie gemeinsames Kochen, gelegentliche Ausflüge, Bewegung oder Spielen. Entscheidend ist dabei nicht das bestimmte Lied, die bestimmte Gesangstechnik oder der bestimmte Tanzschritt. Singen auf Rezept, wenn es so etwas gäbe, würde vielmehr bedeuten, dass überhaupt Angebote für Singgruppen in Reichweite sind, in die sich Menschen integrieren können und die Chance besteht, sich mit einer Gruppe zu identifizieren. Die Mehrwerte von sozialen Begegnungen, körperlicher und geistiger Aktivität sind dann nur Nebenwirkungen und vor allem Antipoden zu den sedentären Lebensstilen, zu denen viele, auch und gerade ältere Menschen neigen. Chorsingen verlangt den vollen Einsatz von Körper und Geist und verbindet Generationen ungeachtet mancher, teils schwerwiegender gesundheitlicher Probleme, wie kaum eine andere kulturelle Technik.
Was bleibt?
Gesundheits- und Hygienemaßnahmen, aber auch ein grundsätzliches Verständnis dafür, was gemeinsames Singen vielen Menschen bedeutet, sind der Maßstab für eine pandemiesichere Zukunft der Chöre. Räume mit Luftfilteranlagen sind ohne Alternative. Die Kosten etwa für die Reparatur zahlloser Klaviere, die stetigen Raumklimaveränderungen so wenig standhalten wie die Immunsysteme von Choristen, sind viel zu hoch, um dauerndes Lüften durch die Fenster sinnvoll erscheinen zu lassen. Doch das ist längst nicht das einzige Problem. Wir müssen die nächsten Generationen an das Singen heranführen. Das geht nur durch Familien, Kindergärten und Grundschulen, in denen das gemeinsame Singen die Regel und nicht die Ausnahme darstellt. Die Pandemie hat dem Chorsingen, wie vielen andern kreativen Bereichen, einen schweren Schlag versetzt und die zuvor schon vorhandenen strukturellen Probleme verschärft. Eine Wende zum Besseren scheint nur möglich mit einer umfassenden Agenda für das Singen, die bei den Kleinsten ansetzt und alle Generationen von Menschen einschließt, völlig ungeachtet ihrer Herkunft, ihres sozialen Status und persönlichen Lebensstilen.
Buchtipp:
Gunter Kreutz, Warum Singen glücklich macht, erschienen im Psychosozial-Verlag, 239 Seiten.