Moderne Chorliteratur zählt heutzutage im Großteil der Chöre zum Standardrepertoire.
In YouTube, Social Media, auf Wettbewerben und CDs: Chöre sind überall zu finden. Es sind diese Chöre, die man gerne als Vorbild für den eigenen Chor nimmt. Chöre, die oft als „der“ moderne Chor betitelt werden. Doch was zeichnet einen modernen Chor aus?
Der moderne Popklang
Im Rahmen der chor.com 2019 wurde einiges im Bereich moderner Chor angeboten: Leitungsfunktion im Popchor, Arrangieren für Einsteiger, Rezepte für die effektive Popchorarbeit oder Volumen, Kraft und Pop für den modernen Chor. Ein Themenfeld, welches mich selbst als Chorleiter interessiert, aber auch als Beobachter, der sich mit der immer wieder weiterentwickelnden Vokallandschaft beschäftigt.
Sind wir doch mal ehrlich: Wenn wir in ein Konzert gehen, dann wollen wir das gemeinsame Musizieren und Singen von Menschen erleben. Dabei beobachtet man in erster Linie eine Interaktion zwischen Ensemble und Dirigent. Im modernen Chor wird der Dirigent im Konzert zweitrangig. Das Ensemble wird selbstständig und agiert direkt mit mir als Zuschauer. Im klassischen Musikkonzert geht es schwerpunktmäßig um Klang. Im „modernen“ Musikkonzert ist der Sound natürlich auch entscheidend. Aber: heute stehen der Text, seine Message und der pure Chorklang im Vordergrund.
Der pure Chorklang – oder wie manche sagen: der moderne Popchorsound. Wie klingt dieser eigentlich. Chorleiter und Arrangeur Erik Sohn hat in seinem Seminar „Leitungsfunktion im Popchor“ gemeinsam mit den Workshopteilnehmern an diesem Sound gearbeitet. „Den klassische Popchorsound gibt es so nicht. Jeder Chor formt in seinem Rahmen durch Proben und Konzerte am eigenen Sound. Das ist besonders spannend, wenn man ein Arrangement von verschiedenen Chören hören kann. Jeder Chor kann und darf anders klingen.“
Es ist der klare, warme und ansprechende Klang
Begrifflichkeit wie Twang (näselnd, scharfklingend), CVT (Complete Vocal Technique) und Belt (Singen im Brustregister) bringen den „modernen“ Sound auf den Punkt.
Ich kenne noch Chöre, in die man geht oder wöchentlich gegangen ist, weil man sich „verpflichtet“ fühlte, sich musikalisch oder gesellschaftlich zu engagieren. Seit einigen Jahren hat sich in vielen Chören etwas geändert: Man will sich verstärkt mit dem, was man tut, identifizieren. Identifikation ist für Choristen der Generation X (geboren Ende 70er/Anfang 80er) und besonders für die Generation Y (geboren Ende 80er/Anfang 90er bis 2000) heute so stark wie nie zuvor. Dies zeigt sich beispielsweise durch Artikel rund um den Chor (T-Shirts, Taschen und Aufkleber mit Chorlogo für Fans). Aber auch durch die modernen Medien: ansprechende Videoclips aus Konzerten oder kreativ inszenierte Musikclips. Oder eine gute musikalische Visitenkarte: die choreigene CD. Ein moderner Chor, dessen Mitglieder sich in der Außenwirkung eindeutig mit dem Chor identifizieren, spiegelt dies auch nach innen wieder. Dadurch singt man mit einer besseren Energie.
Die bessere Energie schweißt auch zusammen
Nicht nur das gemeinsame Vorbereiten, Üben und Performen der Songs, sondern auch das gemeinsame Singen und Genießen von Applaus sind gemeinschaftsfördernd. Während der Popchorworkshops im Rahmen der chor.com 2019 wurde immer viel am praktischen Beispiel gesungen. Doch wann beginnt das gemeinsame Singen? Arrangeur, Chorleiter und Komponist Carsten Gerlitz sieht im Einsingen, oder neudeutsch Warm Up, einen gemeinsamen Startpunkt. „Es ist wichtig, dass es zu Beginn einen gemeinsamen Punkt gibt, an dem man sich sammelt, zueinander findet und sich zusammen eingroovt. Je nach Tages und Jahreszeit, ist ein körperliches Warm Up einzubauen. Ebenso gezielte Gesangstechniken einstreuen. Ein vokales Warm Up dient zur Schärfung des Hörens, was den modernen Chor ausmacht. Doch das alleine muss nicht zwingend sein. Das Feeling für Sound und Groove ist eine Einstellung, die sich mit der Zeit institutionalisiert und schärft.“
Schärfen, forschen und überraschen
Worte, die man sich als Chorleiter bei der Probendidaktik, der Interpretation und für das Konzert mehrfach durch den Kopf gehen lässt. Aber auch als Chorsänger ist man auf der Suche nach Klang, Gefühl und Darbietung. Wenn man Hintergründe über einen Song kennt, kann man dies in seiner Moderation einbauen. Aber man kann auch das Gefühl, den der Song vermitteln soll, intensiver vermitteln. „Das Publikum will lachen und vielleicht auch mal weinen in einem Konzert. Viele Chöre nehmen sich zu ernst.“ sagt Gerlitz. „Lieber einen eigenen Klang kreieren, anstatt kopieren, was man im Radio hört. Wenn man dann noch das geeignete Arrangement für seinen Chor findet und dieses authentisch präsentiert, wird auch das Publikum von Titel zu Titel im Konzert neugieriger und wird überrascht.“ Sowohl im im Workshop von Erik Sohn und Carsten Gerlitz, als auch bei Oliver Gies merkt man als Teilnehmer eines: der Groove muss den Chor und seine Choristen zum Leben bringen. Alles in der Musik orientiert sich an einem gleichmäßigen Puls.
Damit dieser im ganzen Chor „gespürt“ werden kann, sind kleine Aktionen wie mit den Zehen den Takt treten, leicht hin und her schaukeln oder mit den Knien wippen erlaubt. Anne Kohler, Professorin für Chorleitung an der Hochschule für Musik Detmold, vermittelte in ihrer Masterclass Chordirigieren Jazz/Pop im Rahmen der chor.com: „Groove wird dann lebendig, wenn der Rhythmus körperlich gefühlt wird und mitreißt.“ Eine Aussage, die man an Kohlers Chor Pop-Up aus Detmold im Konzert spürt und auch sieht. Ein schlanker, ansprechender und authentischer Klang, eine Kontaktaufnahme zwischen Ensemble und Zuschauer und ein Ausdruck, der einen körperlich fesselt.
Das Wichtigste ist auch hier die Songauswahl
Eine wichtige Erkenntnis zum Thema: „das Konzert im modernen Chor“ lässt sich aus allen Workshops und Gesprächen unter Chorleitern und Dozent erkennen: das wichtigste ist eine gute Songauswahl. Eine abwechslungsreiche Auswahl an Stilistiken und Rhythmen sowie eine dramaturgische Linie soll/kann erkennbar sein. Die Freude am Auftritt und der Präsentation des Chores auf der Bühne muss das Publikum spüren, damit der Funke überspringt. Die Natürlichkeit darf dabei nie verloren gehen. Man hat wochenlang geprobt. Doch die Anspannung darf man sich nicht anmerken lassen. Fehler sind erlaubt.
Groove und Intonation – Stichworte, die ein Ensemble mit ihren Chorleitern manchmal zum Stocken bringen, weil zu schnell oder unsauber gearbeitet wird. Felix Powroslo, erfahrener Bühnencoach, gab in seinem Workshop „Viel mehr als nur Noten – Bühnenpräsenztraining und Songinterpretation für Chöre“ den Tipp: „Hinhören“. Das Tempo aus dem Arrangement nehmen, einzelne Akkordfolgen ansingen und in jeder Harmonie verharren, bis die Choristen sich im Gesamtklang harmonisch wahrnehmen. Beatboxer Indra Tedjasukmana empfiehlt, ein neues Arrangement lieber nur im halben Tempo zu proben, Rhythmen gemeinsam zu sprechen, langsam das Tempo steigen und wenn es sicher geht, dann wieder zu singen.
Zum Schluss möchte ich noch auf die Fehler im modernen Chor zu sprechen kommen. Wenn Popsongs sehr technisch klingen, muss sich der Chor selbst nicht auch so anhören. Der menschliche Klang muss weiterhin im Vordergrund stehen. Eine Imitation ist nicht gewollt und will auch keiner hören. Aber einer rhythmischen Überforderung darf der Chor nicht ausgesetzt sein. Oliver Gies, Sänger bei Maybebop und Arrangeur, rät, durch längerfristiges Üben komplizierte Rhythmen im Chor zu festigen, bevor es damit auf die Bühne geht. Langsamer ist hier die Parole.
Wie definiert sich der moderne Chor?
Kommen wir auf meine Ausgangsfrage zurück: Wie definiert sich schlussendlich der moderne Chor? Ich resümiere aus vielen Hörbeispielen, Kollegengesprächen und der Fachliteratur, dass der moderne Chor ein authentischer Klangkörper ist, mit dem sich die Menschen die im Chor singen, stärker als früher, identifizieren und die Musik und Texte der vor zutragenden Songs leben und nicht nur „abspielen“. Die natürliche Freude am Gesang, das gut „inszenierte“, aber glaubwürdige Konzertprogramm und die qualitativ ansprechende Außendarstellung sind Komponenten, die einen modernen Chor ausmachen. Doch jeder Chor soll sich selbst in seinem Tempo und nach seinen Vorstellungen formen, etablieren und vermarkten. Man muss sich nicht mit anderen messen. Als Chor soll man natürlich und vertrauenswürdig auf sein Publikum wirken. Denn das Wichtigste ist und bleibt die Musik – egal ob traditionell oder modern. Just Sing It! – Singt einfach!