Wie die Industrialisierung und der technische Fortschritt langsam in die Sängerbewegung Einzug hielten
Aus dem Silcher-Museum etwas zum Thema Chor und Technik zu berichten, ist nicht gerade einfach! Die Sammlung des Hauses umfasst in der Hauptsache Zeugnisse aus einer Zeit, in der sich Chorgesang und technische Entwicklung noch kaum berührt haben. Die Epoche Silchers und das erste Säkulum der Laienchorbewegung sind zwar auch das Jahrhundert der Industrialisierung gewesen, die Folgen der Technisierung bekamen die Sänger aber zunächst weniger bei ihrer Chorarbeit zu spüren als vielmehr in ihrem Alltagsleben.
So richtig am technischen Fortschritt partizipieren konnte die württembergische Sängerschaft erstmals um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes. Das Schwäbische Liederfest 1850 wurde eigens in den Monat August verlegt, damit möglichst viele Sangesbrüder mit der damals neu eröffneten „Südbahn“ den Veranstaltungsort Ulm erreichen konnten. Für die Festteilnehmer, die früher „per pedes“ oder mit dem Fuhrwerk anreisen mussten, bedeutete das neue Massenverkehrsmittel eine nicht zu unterschätzende Erleichterung.
Mit der Eisenbahn zum Sängerfest
Ein Viertel Jahrhundert später verfrachtete man dann mit der Eisenbahn nicht mehr nur die Sänger in die jeweilige Feststadt, sondern auch eine vom Chorverband angeschaffte transportable Sängerhalle. In ihre Einzelteile zerlegt, beanspruchte diese Halle sogar einen eigenen Sonderzug. Das mobile Veranstaltungsgebäude war für die Chöre besonders wertvoll, denn nun waren sie bei ihren Aufführungen nicht mehr vom Wetter abhängig.
Zunächst blieb Chor noch technikfrei
Die Sängerschaft war durchaus bereit, die Vorteile moderner Technik in Anspruch zu nehmen – aber nicht, davon auch ein Lied zu singen! Das Chorrepertoire verharrte nostalgisch bei den alten Volksliedthemen: Liebe, Natur, Wandern etc.; einen Lobpreis der Technik findet man in den Liederbüchern jener Zeit höchst selten. Lediglich die Arbeitersängerschaft griff im sogenannten „Tendenzlied“ gelegentlich Stoffe der technisch-industriellen Arbeitswelt auf; diese zunehmend von Maschinen dominierte Welt der Fabriken kam dabei allerdings nicht immer gut weg: „Himmel, was für Elend regiert auf der Welt. Das haben ja wirklich die Maschinen angestellt“ – heißt es z. B. in einem Liedtext um 1900.
Der technische Fortschritt erreicht auch langsam die Sängerbewegung
Erst der Schlager der „roaring twenties“, der gern die Vergnügungen des modernen Städters schilderte, ließ Themen des technischen Fortschritts ins populäre Lied einziehen. Da wurde dann z. B. die im Volkslied beliebte Pferdekutsche schon mal flugs durchs Automobil ersetzt („Schorschl, ach kauf mir doch ein Automobil, es kost‘ ja nicht viel…“). Für die Sängervereine waren die nun besungenen lautstarken Motordroschken übrigens oft ein kaum zu überhörendes Problem, besonders bei Chorvorträgen im öffentlichen Raum. Um die störende Geräuschkulisse fern zu halten, mussten die Straßen weiträumig für den Verkehr gesperrt werden.
Die goldenen Zwanziger
In den „Goldenen Zwanzigern“ hielt die Technik aber auch ganz direkt Einzug in das Musikleben der Gesellschaft und in die Chorarbeit der Sänger. Die Nutzung des elektrischen Stroms hatte es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts möglich gemacht, Methoden der Tonaufnahme, der Tonübertragung und der Tonwiedergabe zu entwickeln und sie fortlaufend zu perfektionieren. So waren – zunächst als Nebenprodukt der Telefontechnik – die ersten Mikrofone und Lautsprecher entstanden, als „Tonkonserven“ wurden nun Schallplatten und Tonbänder sowie die dafür nötigen Abspielgeräte entwickelt und bald auch zum allgemeinen Gebrauch auf den Markt gebracht. 1924 begann zudem das Zeitalter des Hörfunks mit der Inbetriebnahme der ersten deutschen Rundfunkanstalten.
Die medialen Neuerungen stießen damals keineswegs nur auf Begeisterung. Vor allem Sängerfunktionäre der älteren Generation sahen in den neuen Unterhaltungsangeboten eine Gefahr für das traditionelle Chorwesen. Man fürchtete die Konkurrenz von Schallplatte und Radio, manch ein Kulturpessimist sah sogar schon die Dämmerung des abendländischen Musiklebens heraufziehen. Doch die breite Masse der Sängerschaft überwand schnell ihre Berührungsängste mit der neuen Technik und begann sie zu nutzen. Das Chorsingen im Rundfunk und das Aufnehmen eigener Produktionen auf „Tonkonserven“ sind längst Selbstverständlichkeiten, die keiner mehr missen möchte.