Ein gänzlich unwissenschaftlicher Essay direkt aus den Kochbuch-Erinnerungen eines Praktikers.
Was wir schon mal haben: Das Ohr des Menschen, so weiß man, sei bereits in seinem pränatalen Zustand das einzige voll entwickelte Organ, und sei auch dasjenige, das bei seinem natürlichen Tod als letztes seine Funktion verlöre (was sicher schon zu manchen Peinlichkeiten führte).
Entwickelt, ja, differenziert sicher auch, sonst würde nicht das Neugeborene sofort die Stimme der Mutter wieder erkennen und reagieren, und die Melodik der „Muttersprache“ setzt sich oftmals weit hinein in das Leben fort. Wieder einmal stehen also qua Definition und unbewusster Realität die Väter naturgemäß etwas abseits.
Die früh vorhandene Differenzierung wird dann erweitert; so werden immer mehr Geräusche erkannt, zugeordnet zu Personen und Ereignissen sowie in ihrer Richtung und Lautstärke, damit auch qualifiziert. Reaktionen erfolgen zunächst und ein Leben lang aus dem Unterbewussten, später notfalls blitzschnell gesteuert.
Über die im Gehirn ablaufenden Vorgänge der Verarbeitung von Höreindrücken soll hier bewusst nicht referiert werden.
Singen und Hören? Sicher – ein komplexer Vorgang! Die ersten Töne, Motive, Lieder gehen über das Ohr ein, der Volksmund berichtet von der „Eingängigkeit“ einer Melodie und verbindet dabei Gefallen, Missfallen, Merkfähigkeit oder Ablehnung.
Wie bewertet das der Musik-Praktiker bis hin zum Komponist?
Einen guten „Ohrwurm“ braucht man erst gar nicht zu definieren, man kann es aber durchaus anhand einer strukturellen Analyse. Nur: Was dem einen Menschen ein Ohrwurm ist, klingt dem anderen banal. Wieso denn?
Die bewusste Schulung des Gehörs
Dies kann schon recht früh begonnen werden, aus ihr ergibt sich ein qualitativer Umgang mit dem Gehörten. Daraus folgert die Fähigkeit, Lautstärken, Tonfolgen und Lagen der Töne zu hören und zu definieren. Wer definieren lernt, lernt auch zu werten, indem er schließlich Belangloses von Gekonntem unterscheiden kann. Zwei oder mehrere Linien (Stimmen) gleichzeitig zu hören und zu qualifizieren, ist ein hohes Ziel der Hörerziehung.
Anwendung der Hörqualifikation:
Die setzt nun für einen Menschen, der Führungsarbeit in einem Ensemble übernehmen will, auch viel Selbstdisziplin voraus. Ein Beispiel aus dem Nähkästchen: Bei der Probe mit dem Symphonieorchester der Musikhochschule flüsterte mir mein Lehrer Prof. Müller-Kray ins Ohr: „Hinein hören!“ Warum? Er hatte wohl bemerkt, dass ich vor lauter Dirigierarbeit zu sehr auf mich konzentriert war. Die dem Ensemble und damit allen Zielen dienende Arbeit muss darauf ausgerichtet sein, sich selbst zurückzunehmen, auch wenn es jugendlichem Temperament schwer fällt. Die stetige behutsame Kontrolle ist der Garant für einen doch selbst erhofften Erfolg.
Wie oft habe ich bei den vielen Hundert von mir betreuten Rundfunkaufnahmen die Kollegen Chorleiter beim Abhören ermahnt, doch nicht innerlich zu dirigieren, sondern nur (!) zu hören. Eine einfache psychologische Komponente sehe ich damit unverrückbar in der unerlässlichen Forderung an einen Menschen, der eine Leitungsfunktion hat, zuhören zu können. Ich gehe so weit in der Annahme, dass dies bei weitem nicht nur für die Musik gilt. Vielen Betrieben geht es deshalb gut, weil der Chef zuhören kann; Innovationen aller Art entstehen eher auf dieser Basis.
Der Erzieher weiß es ohnehin. Die fruchtbare Wechselwirkung zwischen „Führen oder Wachsen lassen“ erkannte schon in den 50er Jahren der Psychologe Theodor Litt.
Gehörerziehung und Stimmbildung sind untrennbar verbunden
Setzen beide in weiser Führung zu früher Lebenszeit ein, dann ist es später selbstverständlich, dass selbst die Schwierigkeiten einer einfachen Tonleiter (!) gemeistert werden. (Dabei ist das Spüren von Ruhepunkt, Durchgang, Leittonspannung usw. impliziert). Um wie viel mehr dann die Chromatik, die freitonale Folge, die Dissonanz zur anderen Stimme.
Eh der Ton den Hals verlässt, hat das Ohr der Stimme vorzugeben, was sie zu tun hat. Natürlich hat auch die Stimme einen „Stellmechanismus“, den es zu trainieren gilt. Zur Feinjustierung ist sie indes nicht tauglich. Wird die Stimme müde (zu langes Singen, Singen in falscher Lage, zu laut) ermüden meist auch die Ohren, weil der Mensch abgespannt ist. Über die Probleme des alternden Menschen möchte ich hierbei nicht referieren, auch nicht über die – allerdings oft einigermaßen lösbaren Probleme mit den Hörgeräten.
„Einsingen“ kann im Rahmen einer Chorerziehung für Stimme und Gehör nur fruchtbar werden, wenn alle angesetzten Übungen bestmöglich gemeistert werden. Hierbei zu murksen, ist verantwortungslos.Dasselbe gilt für die Arbeit am Klang, definiert durch die Vokale. Nur deren Kongruenz und Annäherung von Stimme zu Stimme ergibt einen homogenen Chorklang.
Die Arbeit an der Deutlichkeit (Konsonanten) fällt umso leichter, je klarer die Sprachtechnik bis hin zur Syntax durch das Beispiel der Leitung selbstverständlich erscheint. Und wiederum ist das Wissen und Können der leitenden Person gefragt…. und dessen Ohren.
Kann Gehörbildung für den singenden Menschen jemals aufhören?
Wie eingangs beschrieben generell nicht; wer singt, will sich auch mit Anstand „hören“ lassen, in der von ihm zu leistenden und geförderten Qualität. Aus dem geschulten Hörvermögen und dem Willen zu einer gegenseitigen möglichst vollkommenen WAHRnehmung ergeben sich somit Fähigkeiten zur Gesamtleistung einer singenden Gruppe, die nur aus der geführten Gemeinsamkeit erwächst.
Die Nur-Macher sind zwar die lauten Erfolgreichen. Sie gehen davon aus, dass die Lautstärke den Gradmesser für die Qualität darstellt. Genau zuhören darf man allerdings nicht, und die Seelen erreichen sie ohnehin nicht. Wissen und Können sind also Voraussetzungen; Selbstdisziplin, Stetigkeit, Geduld und Bescheidenheit –sind das etwa Tugenden, die man allenfalls beliebig in Anspruch nimmt oder gar verlernt hat? Das Hören und die Erziehung dazu benötigen schier endlose Sensibilität.