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SINGEN Juli / August 2025, Thema

Möglichkeiten ausloten statt Defizite sehen

Sandra Bildmann.
Dr. phil. Kerstin Schatz
1. Juli 2025
Titelbild: Geragog:innen orientieren sich am Leitbild von Menschenwürde und Partizipation im Alter.
Foto: freepik

Interview mit Musikgeragogin Kerstin Schatz über musikalische Teilhabe im Alter und den gesellschaftlichen Auftrag, dieses Menschenrecht zu (er-)füllen

 

Liebe Frau Schatz, die Geriatrie ist die Fachrichtung im medizinischen Bereich, die sich mit älteren Menschen befasst. Geragogik klingt auch ein wenig nach einer Abteilung, in der man Heilung erfährt. Stimmen Sie zu?

Nein, mit Medizin und Heilung im klassischen Sinn hat Geragogik nichts zu tun.

Womit beschäftigt sich die Geragogik dann im Allgemeinen?

Der Begriff „Geragogik“ besteht aus den altgriechischen Worten „geraios“, was mit „alt“ oder „hochbejahrt“ übersetzt werden kann, und „agos“, was so viel heißt wie „ich führe hin, ich zeige den Weg“. Geragogik ist also die Wissenschaftsdisziplin der fördernden Begleitung älterer Menschen. Sie erforscht Bildungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte, entwickelt und erprobt Bildungskonzepte mit Älteren und für das Alter und bringt diese in die Aus-, Fort- und Weiterbildung für die Arbeit mit Älteren ein.

Was fasziniert Sie an diesem Themenfeld und wie kamen Sie zur Musikgeragogik?

Ich bin begeistert davon, dass sich Geragog:innen in ihrer Arbeit am Leitbild von Menschenwürde und Partizipation im Alter orientieren. Außerdem geht die Geragogik davon aus, dass das Alter eine eigene, wertvolle Phase im Lebenslauf darstellt, in der sich Menschen weiterentwickeln, Neues lernen und ihre Identität weiter entfalten können. In meiner Arbeit als Kirchenmusikerin habe ich mit Menschen jeden Alters, besonders auch mit vielen älteren und alten Menschen zu tun. Sie besuchen Konzerte und Gottesdienste, leiten Chöre, nehmen Orgelunterricht und sind als Sänger:innen bzw. Musiker:innen in den Kirchengemeinden aktiv. Da war es ein logischer Schritt, mich als studierte Musikpädagogin auch im Fachbereich Musikgeragogik zu qualifizieren, um den Bedürfnissen meiner älter werdenden Musiker:innen und Gemeindeglieder gerecht werden zu können.

Worauf legen Sie persönlich dabei am meisten Wert?

Mir ist es sehr wichtig im Austausch, im Dialog mit den Musiker:innen zu sein, zum Beispiel zu ihren musikalischen Wünschen und Zielen. Um dann gemeinsam zu überlegen, auf welchen Wegen und mit welchen Angeboten, Maßnahmen oder Hilfestellungen diese Ziele erreicht werden könnten. Dabei orientiere ich mich immer an den vorhanden Kompetenzen, so dass anstelle von altersbedingten Defiziten die bestehenden Möglichkeiten der Senior:innen in den Vordergrund treten.

Der Fachbegriff ist erst rund 60 Jahre alt. Kam die Notwendigkeit, sich mit Menschen höheren Alters wissenschaftlich zu beschäftigen, erst auf, weil wir inzwischen eine höhere Lebenserwartung haben?

Die höhere Lebenserwartung ist das eine. Es ist ja heutzutage keine Seltenheit mehr, dass zwischen dem Ende der aktiven Berufstätigkeit und dem Tod, also die Lebensphase, die man früher mit „Alter“ bezeichnete, 30 oder mehr Jahre liegen. Das andere ist die veränderte Haltung der Menschen in ihrer nachberuflichen Phase: Sie wollen ihr Leben genauso bewusst gestalten wie vorher, sich womöglich neu orientieren, etwas Neues lernen. Viele wollen ein aktiver Teil der Gesellschaft bleiben und sich mit ihren Gaben in vielfältiger Weise einbringen.

Was kann Musikgeragogik dazu beitragen?

Musikgeragog:innen ermöglichen Musik für und mit Menschen in allen Lebenslagen und Lebensphasen im Alter. Sie streben danach, Ältergewordenen angemessene Zugänge zum aktiven Musizieren und zu musikalischer Bildung zu erhalten oder neu zu schaffen. Dadurch wird es zum Beispiel möglich, dass Musiker:innen auch im fortgeschrittenen Alter weiterhin oder erstmals im Chor singen, im Orchester spielen oder ein Ensemble leiten. Sie bleiben uns als Gesellschaft somit als wertvolle Kulturträger erhalten und können umgekehrt bis ans Lebensende „am kulturellen Leben der Gemeinschaft“ teilnehmen und „sich an den Künsten […] erfreuen“, wie es in Artikel 27 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Aus diesem Menschenrecht und dem Artikel 24b der UN-Behindertenrechtskonvention, der Menschen mit Behinderung das Recht zuspricht, „ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung [zu] bringen“ begründet sich die Fachdisziplin Musikgeragogik.

Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?

Gäbe es keine Forschungen zu Praxis und Theorie der Musikgeragogik könnten wahrscheinlich weniger Menschen im höheren Lebensalter Musik genießen oder selbst aktiv musizieren als es heute der Fall ist. Dann gäbe es vermutlich keine zielgruppenspezifischen musikalischen Angebote, wie zum Beispiel Seniorenchöre oder Konzerte für Menschen mit Demenz, und keine Unterrichtsangebote für ältere Anfänger:innen am Instrument. Ich bin sehr froh darüber, dass sich immer mehr Kolleg:innen aus verschiedenen musikalischen Arbeitsfeldern mit den Prinzipien der Musikgeragogik auseinandersetzen und sie in ihre Arbeit aufnehmen.

Haben sich die Anforderungen und Bedürfnisse im Spektrum der Musikgeragogik in den letzten Jahrzehnten verändert und wenn ja, inwiefern?

Wie jede Aktion im sozialen und kulturellen Bereich spiegelt natürlich auch die Musikgeragogik den aktuellen Zeitgeist zu einem gewissen Grad wider. Ein zentrales Element der musikalischen Wegbegleitung im Alter ist ja der alte Mensch mit seinen individuellen Bedürfnissen im Hier und Jetzt. So stellen wir in unserem Fachverband fest, dass sich das musikgeragogische Angebotsspektrum in den letzten zwanzig Jahren enorm ausdifferenziert hat. Es reicht momentan von Instrumentalunterricht und Amateurmusizieren im Klassik- und Rockbereich über Seniorenchöre, Demenzchöre, Rhythmik, Tanz und Konzerten bis hin zu elementarmusischen (intergenerativen) Gruppenangeboten, Einzelbetreuung in unterschiedlichen Kontexten und musikalischer Sterbebegleitung. Diese Bandbreite ist wichtig und richtig, um allen Senior:innen, die dies möchten, einen geeigneten Zugang zu Musik bieten zu können.

Das Durchschnittsalter in vielen Gesangvereinen steigt zunehmend. Was raten Sie aus Ihrer Perspektive, wie die Chöre damit umgehen sollten?

Einen allgemein gültigen Ratschlag kann ich an dieser Stelle nicht geben, dafür sind die Chorsituationen und die Bedürfnisse, Wünsche, Möglichkeiten und Zielsetzungen vor Ort zu unterschiedlich. Meine Empfehlung ist, ins Gespräch mit allen Beteiligten zu gehen und gemeinsam Lösungen zu suchen. Folgende Fragen sollten ehrlich diskutiert werden: Wollen wir als älter werdender Chor in der bestehenden Besetzung zusammen bleiben und sind wir dafür bereit, unsere Literatur, unsere Probenarbeit, unsere Gestaltung der Auftritte etc. an die alter(n)sbedingten Veränderungen anzupassen? Oder wollen wir das Probentempo, das musikalische Niveau, die Voraussetzungen zur Teilnahme beibehalten und akzeptieren dann, dass manche ältere Sänger:innen den Anforderungen vielleicht nicht mehr gewachsen sind? Könnte für Hochaltrige ein neues, attraktives Chorangebot eingerichtet werden, damit sich der bestehende Chor verjüngen und neu finden kann oder würde dies vor Ort nicht akzeptiert werden? Wäre der Zusammenschluss mit einem anderen Chor in der Region eine gute Lösung, um die Singfähigkeit zu erhalten? An diesen wenigen Fragen sehen Sie schon, dass es nicht den einen Weg im Umgang mit dem demografischen Wandel in unseren Chören gibt. Der schlechteste Weg wäre allerdings, das Thema zu ignorieren.

Betätigen sich nur explizit zuständige Menschen geragogisch oder steckt nicht in jedem/jeder von uns ein:e Geragog:in?

Das kommt darauf an, von welchem Anspruch wir reden. Wir alle haben in unserem privaten und beruflichen Alltag mit älteren, alten uns sehr alten Menschen zu tun, denn das Alter(n) gehört zum Leben dazu. Und ja, jede:r von uns hat ein mehr oder weniger ausgeprägtes Gespür für die Bedürfnisse seiner Mitmenschen, egal in welchem Alter. Für eine professionelle Begleitungs- und Bildungsarbeit alter und sehr alter Menschen braucht es aber schon darüber hinausgehendes fachliches Wissen. Für die Musikgeragogik sind das vielfältige musikbezogene, adressatenbezogene und persönliche Kompetenzen, wie zum Beispiel den souveränen Einsatz verschiedener Formen der Musikvermittlung, Basiswissen aus den Disziplinen Gerontologie und Alterspsychologie sowie Charisma, Selbstreflexion und Kommunikationsfähigkeit – um nur ein paar Anforderungen zu nennen. Musikgeragogik ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die einem als Leiter:in viel abverlangt, die aber gleichzeitig sehr viel Zufriedenheit und Sinnerfüllung schenken kann. Ich möchte allen Kolleg:innen Mut machen und dazu einladen, sich mit der Thematik vertraut zu machen und sich musikgeragogisch weiterzubilden.

Das Interview führte Sandra Bildmann.

www.dg-musikgeragogik.de

Dr. phil. Kerstin Schatz

Foto: privat

Dr. phil. Kerstin Schatz, *1971, studierte Ev. Kirchenmusik (B-Prüfung), Inklusive Musikpädagogik / Community Music (Master, Eichstätt-Ingolstadt) und promovierte im Fach Musikpädagogik. 2015 Zertifizierung zur Musikgeragogin (VBSM) und Betreuungskraft (SGD); seit 1996 Dekanatskantorin in der Evang.-Luth. Kirche in Amberg, Schwerpunkte auf kirchenmusikal. Breitenarbeit und inklusiver Kirchenmusik. Sie war Leiterin der landeskirchlichen Projektstellen „Kirchenmusik 65+: Musikgeragogik in der Kirchenmusik“ (2016–2019) und „Kirchenmusikgeragogik“ (2020–2023). Schatz ist u.a. Mitglied im Projektbeirat für das Bundesmusiktreffen 60plus (BMCO e.V.), stellv. Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Musikgeragogik e.V.

Aus- und Fortbildung, Chormusik, Interview, Pädagogik
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