Seit Jahrhunderten pflegen Komponisten den Brauch, ihre Veröffentlichungen einer bestimmten Person zu widmen. Im 18. Jahrhundert waren es meist herrschaftliche Mäzene, denen so auf Titelblättern gehuldigt wurde; im 19. Jahrhundert dagegen, dem Zeitalter „der Verbürgerlichung der Musik“ und der Ära eines intensiven Freundschaftswesens, galten Widmungen häufig Privatpersonen, denen man sich aus persönlichen Gründen besonders verbunden fühlte.
Die Widmung im Wandel der Zeit und der Gesellschaft
So geben uns die Titelblätter Einblick in die privaten Beziehungen und die gesellschaftlichen Vernetzungen der Tonsetzer.
Auch Silcher hat seinen Publikationen oft nach dem Zusatz „hochachtungsvoll zugeeignet“ oder „freundschaftlich gewidmet“ einen Namen beigefügt. Viele der von ihm genannten Personen und Institutionen sind uns gut bekannt. Mal sind es bedeutende Sängervereine wie der Stuttgarter Liederkranz oder der Kölner Männer-Gesang-Verein, mal Musikerkollegen und -kolleginnen (z. B. Emilie Zumsteeg), mal ehemalige Schüler und Studenten wie der spätere Präsident des Schwäbischen Chorverbands Otto Elben, der Schriftsteller Hermann Kurtz oder der Hofkapellmeister Julius Benedict.
Wer verbirgt sich hinter „Dr. Dreifuss“?
Wer jedoch war eigentlich jener Doktor Dreifuss, den Silcher auf dem Titelblatt seines 10. Volksliederheftes als seinen „Freund“ bezeichnet? Auf der Suche nach der Identität des Herrn Dreifuss kehren wir zunächst bei der Familie Benedict in Stuttgart ein. Ihr Gründer, der zur israelitischen Gemeinde gehörende Bankier Moses Benedict, war ein ebenso großzügiger Kunstliebhaber wie sozial engagierter Menschenfreund.
Silcher und die Familie Benedict
Um die Jahreswende 1815/16 stellte Moses Benedict den jungen Silcher, der zuvor an der Mädchenschule in Ludwigsburg unterrichtet hatte, als Privatlehrer für seine Kinder ein. Zu Silchers neuen Zöglingen zählte nun nicht nur der musikalisch hochbegabte, oben genannte Julius, sondern auch dessen 1810 geborene, ebenfalls talentierte Schwester Henriette Benedict. Sie hat in späteren Jahren mehrere eigene Liedkompositionen veröffentlicht – allerdings unter einem anderen Nachnamen, nämlich: Dreifuss.
Die „Wiener Allgemeine Musikzeitung“ vom 30. Oktober 1847 berichtet über sie:
„Die Komponistin ist … die Gattin des durch seine Humanität und Freundlichkeit allgemein bekannten und geachteten Herrn Dr. Dreyfus, der in seinem Hause oft die Notabilitäten der hiesigen Kunstwelt versammelt und auf diese Weise der Kunst auch im geselligen Kreise eine gastliche Stätte öffnet.“
Henriette und Samuel Dreifuss und ihre Beziehung zu Friedrich Silcher
Der Mann, zu dem sich Silcher auf dem Titelblatt seines zehnten Volksliederheftes als Freund bekannte, war demnach der Stuttgarter Arzt Samuel Dreifuss (auch Dreyfus / Dreifus geschrieben). Vermutlich hat der Tübinger Musikdirektor Henriettes Mann bei einem seiner späteren Besuche bei den Benedicts, denen er lebenslang freundschaftlich verbunden blieb, kennen und schätzen gelernt. Dreifuss genoss allgemein hohes Ansehen, da er nicht nur als Armenarzt, sondern auch als Initiator des ersten Waisenhauses für jüdische Kinder in Württemberg ein vielfältiges soziales Engagement an den Tag legte; und er war ein großer Musikliebhaber!
In einem Nachruf auf ihn heißt es 1853:
„(Er) gewann sich durch angeborene Leutseligkeit die Liebe Aller, die ihn näher kannten, durch seine Bildung wurden ihm alle höheren gesellschaftlichen Zirkel geöffnet, wo er als Virtuos am Flügel ein beliebter Gast in allen Salons wurde. … Der edle Mäzen Moses Benedikt schätzte die vorzüglichen Eigenschaften des jungen Arztes höher als Reichtum und willigte in die Einigung [Ehe] seiner in edler Liebe dem jüdischen Arzte zugetanen Tochter ein. In diesem Hause hatten Kunst und Wissenschaft längst ihren Musensitz aufgeschlagen und hier entfaltete sich Dreifuß‘ edles Herz und schöner Geist tausendfältig.“
Die Emanzipation des Judentums in der bürgerlichen Gesellschaft
Die Familien Benedict und Dreifuss sind ein gutes Beispiel für die mit der so genannten Judenemanzipation einsetzende Integration der Jahrhunderte lang ausgeschlossenen „Israeliten“ in die bürgerliche Gesellschaft Württembergs. Kulturelles und soziales Engagement waren dabei nicht selten der Schlüssel, der ihnen die Türen öffnete. Der Protestant Silcher wiederum war ein durch und durch liberaler Geist, für dessen berufliche und private Beziehungen Konfession und soziale Schichtzugehörigkeit eines Menschen keinerlei Rolle spielten. Die Kunst als verbindendes Element war ihm stets wichtiger als künstliche Grenzziehungen durch konfessionelles oder soziales Schrankendenken.
Die Gründung des Schwäbischen Chorverbandes
In diesem liberalen Geist wurde übrigens auch 1849 der Schwäbische Sängerbund, heute der Schwäbische Chorverband, gegründet. Noch heute ist der Verband stolz darauf, Friedrich Silcher als seinen geistigen Ahnherren zu sehen. Dies zeigt sich nicht nur in der Pflege und Weiterentwicklung des Nachlasses und Geburtshauses Silchers als Silcher-Museum in Schnait, sondern auch in seinen immer noch geltenden Grundsätzen. Laut den Statuten dieses Verbandes durften weder Religion noch gesellschaftlicher Rang ein Aufnahmekriterium sein. Dies ist unter anderem ein Verdienst des ersten Präsidenten des Schwäbischen Chorverbandes, Karl Pfaff.
Karl Pfaff in Silchers Tradition
Als Pädagoge erkannte er früh welches Potenzial der Volksbildung in der aufkeimenden Sängerbewegung schlummerte und trieb so die Sängerbewegung immer weiter voran. 2016 jährt sich der Todestag von Karl Pfaff zum 150. Mal. Mehr zum Gedenken an den berühmten Sängervater und Esslinger Ehrenbürger findet sich auf Seite 29.