Ein Blick auf die Geschichte des Chorfestes
Stuttgart wird dieses Jahr zur Bühne eines gesamtdeutschen Chorfestes – nicht zum ersten Mal! Schon mehrfach wurden hier Deutsche Sängerfeste gefeiert.
Der Südweststaat und seine Metropole sind aus der Geschichte der deutschen Sängerschaft und ihrer Großveranstaltungen gar nicht wegzudenken, im Gegenteil: Sie standen von Anfang an mit auf der Bühne des Sängerwesens, sogar ganz vorn.
Aus Stuttgart stammen wichtige Wegbereiter des deutschen Amateurchorgesangs, so z. B. der „deutsche Sängervater“ Karl Pfaff. In Württemberg entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Sängervereine Deutschlands, z. B. der 1824 gegründete Stuttgarter Liederkranz (bis heute die größte Amateurmusikvereinigung der Republik); und in Württemberg war es auch, wo sich die Sängervereine erstmals zu gemeinsamen Liederfesten trafen; das erste dieser Feste in Deutschland fand bekanntlich 1827 in Plochingen statt.
Der Schwäbische Sängerbund als Vorbild
Mit der Gründung des „Schwäbischen Sängerbundes“ (seit 2005 „Chorverband“) haben die Laienchöre Württembergs dann 1849 auch den ersten, dauerhaft bestehenden Landeschorverband Deutschlands ins Leben gerufen. Er hat zunächst jährlich, später im Zweijahresrhythmus „Allgemeine Liederfeste“ mit Preissingen veranstaltet – damals weit über die Landesgrenzen hinaus beachtete Ereignisse.
Nach dem Vorbild des Schwäbischen Sängerbundes wurden anschließend in anderen deutschen Staaten ähnliche Verbände ins Leben gerufen, aus diesen wiederum ging 1862 der „Deutsche Sängerbund“ (jetzt „Deutsche Chorverband“) hervor. Bei dessen Gründung gehörten die Schwaben ebenfalls mit zu den treibenden Kräften, vor allem der Stuttgarter Otto Elben (1823-1899).
Die ersten „Deutschen Sänger-Bundesfeste“
Unter Otto Elben als Präsident und dem Stuttgarter Immanuel Faißt als Chormeister veranstaltete der Dachverband 1865 in Dresden sein „1. Deutsches Sänger-Bundesfest“, den Vorläufer der heutigen Deutschen Chorfeste.
Die Veranstaltung in Dresden stand noch ganz unter der nationalen Zielsetzung, die vor der Reichsgründung in der Sängerschaft (wie bei den Turnern und Schützen) bestimmend war. Beim zweiten Fest des Bundes in München 1874 hatte sich die Situation bereits grundlegend geändert: Deutschland war seit 1871 unter der Kaiserkrone vereint, der oppositionelle Nationalliberalismus des Bürgertums war zu einem „affirmativen Reichspatriotismus“ mutiert.
1896: Das V. Deutsche Sänger-Bundesfest in Stuttgart
Patriotismus beherrschte dann auch die die folgenden Deutschen Sängerfeste in Hamburg, in Wien und schließlich in Stuttgart, wo im August 1896 unter der Schirmherrschaft Kaiser Wilhelms II. das „5. Deutsche Sänger-Bundesfest“ eröffnet wurde. Die Schwabenmetropole, lange Zeit ein kleines Städtchen „zwischen Hängen und Reben“, hatte seit der Reichsgründung von der Industrialisierung und dem einsetzenden Wirtschaftsboom kräftig profitiert. Jetzt, am Ende des Jahrhunderts, verfügte man auch hier über die für solche Großveranstaltungen nötige Infrastruktur.
Viele der bunten Festkarten und Festhefte, die 1896 als Erinnerung an die Sänger verteilt wurden, zeigen diese Entwicklung: Prächtige mehrstöckige Wohnhäuser, Großbauten für Gewerbe und Handel, sogar eine elektrische Straßenbahn, die vom Bahnhof direkt zur Sängerfesthalle fuhr. Ein Großteil der angereisten Sänger musste allerdings – wie noch lange üblich – in Massenquartieren untergebracht werden.
„Über größeren Chormassen den Taktstock siegreich führen“
Für die Konzerte standen in der Landesmetropole neben der großen Festhalle des Deutschen Sängerbundes viele örtliche Einrichtungen bereit, darunter die 1864 vom Stuttgarter Liederkranz erbaute Liederhalle. Hier konnten die Dirigenten – wie es im Festheft pathetisch heißt – „über größeren Chormassen den Taktstock siegreich führen, getragen und gehoben von ehrlicher Begeisterung für die hohe und gute Sache, für das deutsche Lied und seine Ehre.“ Der repräsentative Höhepunkt der Veranstaltung war der ganz im Geschmack der Kaiserzeit opulent ausgestattete Festzug. Er bestand aus thematisch gestalteten Wagen mit Lebenden Bildern zur Musikgeschichte, begleitet von viel Fußvolk in historischen Kostümen. (Dieser Zug ist uns sogar teilweise in Filmaufnahmen, die zu den ältesten der Filmgeschichte überhaupt gehören, überliefert!)
1956: Zum zweiten Mal ein Deutsches Sängerfest in Stuttgart
Nach 1896 musste Stuttgart sechs Jahrzehnte warten, bis es wieder die Rolle des Gastgebers für ein Deutsches Sängerfest übernehmen durfte. Jahrzehnte, in denen gewaltige Stürme über Deutschland hinweggegangen waren. Sie hatten die alte Kaiserherrlichkeit, eine erste demokratische Republik und ein Schreckensregime hinweggefegt und eine breite Spur der Verwüstung hinterlassen, auch in Stuttgart.
Aber es hatte auch einen Neuanfang gegeben. Als hier am 2. August 1956 die Sänger das „14. Deutsche Sängerbundesfest“ eröffneten, war die demokratisch verfasste „Bundesrepublik Deutschland“ gerade einmal sieben Jahre alt. Das Bedürfnis, das Dritte Reich und den Krieg zu vergessen und das Neue zu feiern, war deutlich zu spüren. Das sogenannte Wirtschaftswunder half dabei kräftig mit. Sein sichtbarstes Zeichen in der Stadt: Der erst wenige Monate vor dem Sängerfest eröffnete spektakuläre Fernsehturm.
„Sing-Sing“ mit neuen Klängen
Das für die Sänger interessanteste Besuchsziel in Stuttgart aber war die ebenfalls erst kurz zuvor eröffnete Liederhalle, ein wegen seiner Akustik und seiner modernen Gestaltung damals weltweit gepriesenes Konzerthaus. Im heimischen Volksmund nannte man den Betonbau zwar gern ironisch „Sing-Sing“ und „Volksliedbunker“, während des Sängerfestes war hier aber alles andere als schlichte Volksmusik zu hören! Das zweite Nachkriegsfest der deutschen Sängerschaft hatte in seinen 70 Konzerten und zahlreichen Zusatzveranstaltungen der zeitgenössischen Chorliteratur auffallend viel Platz eingeräumt, die Zahl der Erstaufführungen war beträchtlich. Ebenso bot man neuen chorischen Gestaltungsformen eine Plattform, so z. B. den „Offenen Singstunden“. Und dort, wo 60 Jahre zuvor noch Männerchöre die Bühne beherrschten, standen jetzt viele Frauen- und gemischte Chöre: „Alle Chorformen, alle Besetzungen stehen nebeneinander“ – so das Fazit eines Beobachters.
Logistische Herausforderung
Mit 100.000 Besuchern, die in 40 Sonderzügen und hunderten von Autobussen angereist waren, bedeutete diese Großveranstaltung natürlich auch eine logistische Herausforderung ersten Ranges. Alles, was an Schulen, Kirchen, Sporthallen etc. zur Verfügung stand, diente entweder als Aufführungsort oder als Massenquartier. Selbst in die Peripherie, nach Esslingen und Ludwigsburg, hatte man ausgegriffen.
Mit flotten Rhythmen
Ein Festzug war – wie schon 1896 – ebenfalls organisiert worden, diesmal unter dem Motto „Horch auf, singendes Herz“; und wie 1896 zeigte er musikgeschichtliche Themen, jetzt aber im Stil der Fünfziger Jahre. Begleitet wurde dieser Zug von Musikkapellen, die die Stimmung der Zuschauer mit „flotten Rhythmen“ in Schwung brachten.
Den meisten Beifall während des Festzugs erhielten die Teilnehmer aus dem Ausland, u. a. aus Amerika, Afrika und Australien: man war – gut ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg – wieder in die Weltgemeinschaft aufgenommen. Nur die Sänger aus dem Osten Deutschlands vermisste man: man war seit Kriegsende wieder eine geteilte Nation.
Heuss als Kenner der Chormusik
Die Schlussveranstaltung fand dann im randvoll besetzten Neckarstadion statt. Theodor Heuss, der erste Präsident der neuen Republik, hielt die Festansprache. Heuss, der früher selbst Sänger eines Chors gewesen war, hatte während der drei Festtage eifrig Konzerte angehört und bewies sich auch in seiner Ansprache als Kenner des Sängerwesens. Als Hommage an das schöne Wetter begann er seine Rede im Stadion übrigens mit einem Zitat aus einem Silcher-Lied: „Ach du klarblauer Himmel, wie schön bist du heut“. Friedrich Silcher galt dann auch die kleine Nachfeier des Deutschen Sängerbundes in Schnait. Hier übergab Edmund Konsek, der Präsident des Deutschen Sängerbundes, dem Silcher-Museum als Ehrengabe für den einstigen Förderer des Chorgesangs eine kleine Gedenktafel.
1968: Das dritte der DSB-Feste in Stuttgart
Das Sängerfest 1956 hat in der Presse viel Aufmerksamkeit und großes Lob erhalten; beim nächsten, im Jahr 1968 in Stuttgart durchgeführten „16. Deutschen Sängerbundesfest“ war das nicht mehr ganz so eindeutig. Nur 12 Jahre lagen diesmal zwischen den Veranstaltungen, aber in der Gesellschaft hatte sich ein tiefer Spalt geöffnet. Mit ein paar Schlagworten benannt: Generationenkonflikt, Studentenproteste, neue Jugendkultur.
DIE JUGEND WIRD WICHTIGER
Der Konflikt zwischen Jung und Alt reichte bis tief in die Vereine und Verbände hinein, auch in den Deutschen Chorverband, wo sich Traditionalisten und Modernisierer die Stirn boten. Gleich die ersten Zeilen des Festbuchs erwähnten das „Spannungsfeld zwischen den Generationen“, das man bei diesem Chorfest überwinden wolle, indem man auch einen Akzent auf das „Thema Jugend“ setze. Als Zeichen dafür wurden 4000 Kinder und Jugendliche eingeladen.
DER Blick über die Grenzen
Ein weiterer Akzent des Festes lag auf dem „Thema Ausland“. Der Deutsche Chorverband gehörte zur 1958 ins Leben gerufenen „Arbeitsgemeinschaft Europäischer Chorverbände“. „Völkerverständigung“ war ja überhaupt eines der großen Schlagworte jener Zeit!
So hatte man 1968 Chöre aus der ganzen Welt nach Stuttgart eingeladen, dazu den damaligen Bundesaußenminister Willy Brandt als Redner.
New Look im Programm, Brimborium im Aufzug
In musikalischer Hinsicht war die Veranstaltung mit einem hohen Anteil an zeitgenössischen Chorwerken durchaus ein Erfolg. Die Presse lobte den „New Look mit ganz wenig Silcher und fast ohne Jahrhundertwendeschnulzen“, nahm dafür aber die inzwischen als überholt empfundenen äußeren Repräsentationsformen aufs Korn; so bemängelte man, mit dem Aufzug der Fahnenträger sei immer noch „militärisches Brimborium zelebriert“ und „mit mittelalterlichen Trachten gedeutschtümelt“ worden.
Dennoch: Auch nach dem Schluss des dritten deutschen Sängertreffens in der Landesmetropole war das Urteil der Teilnehmer einhellig: „Das Fest in Stuttgart wird uns in bester Erinnerung bleiben!“
Rudolf Veit