Cornelia Lanz berichtet von ihren Erfahrungen in der Arbeit mit Geflüchteten und warum Musik viele Barrieren einreißen kann.
Es ist das größte Glück, das Singen und die Musik zu haben, in der Begegnung mit anderen Nationen, Kulturen, Sprachen, Religionen und Traditionen. Im Singen überwindet man vermeintliche Grenzen, die wir uns doch nur selbst setzen – denn sind nicht alle Grenzen nur in uns? Wer sagt denn, dass Oper und pakistanische Trommelklänge nicht zusammenpassen? Wer bestimmt denn, dass Urdeutsche sich nicht auf syrische Dabkaklänge bewegen können? Singen ist stets Befreiung, der Alltag wird abgeschüttelt, ein Eintauchen in den ureigenen Klang der Stimme. Unfrei klingt die Stimme nicht – will sie nicht schwingen. Stimme ist natürlich auch ein Spiegel des Stimmens, nicht umsonst sagt dies der Name „Stimme“ oder „Stimmt’s?“
Zwei Episoden:
Oftmals kam ich in eine Probe und wurde bestürmt mit 1.000 Problemen von Notoperationen in der Türkei über neue Angriffe des IS oder Querelen im Flüchtlingsheim. Ich sagte: Lasst uns jetzt singen und nach der Probe reden. Nach der Probe kam es oft nicht mehr zu einem Gespräch. Bestimmt waren die Probleme leider nicht aus der Welt, aber das Singen hatte es doch geschafft, für eine kleine Weile eine Insel in Sorgen und Depressionen zu schaffen. Bei einem Casting in Stuttgart-Weilimdorf in einer Turnhalle mit 240 Geflüchteten wollte ich das neue Opernprojekt vorstellen. Aber die deutsche Sprechstimme erwies sich schnell als wenig hilfreich. Bis meine Worte auf farsi, urdu, arabisch etc. übersetzt waren, waren die 50 Kinder unruhig geworden. Erst als ich einen Ausschnitt aus Carmen auf französisch sang, war plötzlich Ruhe. Und noch mehr: Sarmad Fouad aus dem Irak stellte sich vor mich und ahmte mich nach. Wir hörten an diesem Abend etliche Beiträge von Pakistani-Rap bis zu romantischen arabischen Gedichten.
Singen gegen die Angst
Ich bin immer wieder froh, dass die Musik da anfängt, wo die Worte aufhören. Es nutzt sich auch nicht ab, es wird eigentlich immer stärker.Die Menschen haben Angst vor dem Neuen oder dem Anderen, weil sie nicht wissen, was kommt. Und diese Ängste muss man auch ernst nehmen. Nur: Angst führt oft zu schnellen Urteilen. Ich denke, dass wir beim Singen nackt und ungeschützt unsere Seele preisgeben. Andere Menschen sollen Vertrauen schöpfen, auch wenn sie unsere Sprache nicht verstehen und ich vielleicht erst europäisch forsch auf sie zugehe. Das Singen vermittelt mir einen Einblick in ihre Seele, Wünsche, Stimmungen. Oftmals möchte ich mich am Abend zusammenrollen, wenn ich viel gesungen habe, um mich am nächsten Tag wieder öffnen zu können.
Chancen
In der zweijährigen Arbeit mit sehr inhomogenen internationalen Gruppen war auf die Kraft der Musik immer Verlass und das war auch unsere große Chance. Man lernt seine eigene Identität durch die Begegnung mit dem Fremden kennen. Man entwickelt für manches in seiner Kultur eine Dankbarkeit. Ich entdecke in anderen Kulturen anderes, was kostbar ist oder lerne, ohne Wertung zu beobachten.Vor zwei Jahren zog unser Opernteam von ca. 20 Leuten in ein ehemaliges Kloster im Landkreis Biberach. Dort kamen im Mai 2014 74 syrische Flüchtlinge an. Wie aufeinander zugehen? Warum nicht mit einer Mozartoper? Was damals noch als sehr innovativ und verrückt klang, machen jetzt etliche Theater und Opernhäuser. Ein frivoler Opernstoff, ausgerechnet „Cosi fan tutte, mit muslimischen Geflüchteten, katholischen Ehrenamtlichen und Opernprofis. Passt das? Albert Einstein sagte schon: „Eine Idee, die nicht zumindest am Anfang verrückt klingt, ist keine gute Idee.“ Und warum auch nicht: Unser aller Horizont hat sich um die Geschichten und die Wirklichkeiten von Mohammad, Maysa, Houzayfa und Omar u. v. a. erweitert und deren Horizont um unsere Wirklichkeiten. Wir hatten bereits zwei Wochen Bühne gebaut, aber der Kontakt blieb doch mehr an der Oberfläche. Erst als wir den ersten musikalischen Mozartdurchlauf machten, verstanden die Syrer, dass wir es ernst meinten und was wir wollten und brachten ihre Ideen ein, ihre Visionen, diese Oper zu einer Friedensoper zu machen. Manchmal bin ich auch angestrengt von der Kompliziertheit der Dynamiken in meinem Ensemble und will wieder in meinen schwäbischen Kirchenchor.
Kulturelle Unterschiede und sprachliche Barrieren nerven auch gewaltig, wenn alles doppelt so lange dauert und viele Missverständnisse aufkommen. Aber meistens spüren alle, ob man es ernst meint, und ein Großteil der Kommunikation läuft ohnehin nonverbal ab. Konflikte sind oftmals menschlicher Natur, wenn es z. B. nur Käsebrötchen zu essen gibt oder man nachts noch müde Bühne abbaut. Dann wird auch gerne die Religion instru-mentalisiert, dass beispielsweise genau dann gebetet werden muss.
Die Kunst ist frei, zum Glück!
Leider spürt man den Rechtsruck in Europa schon in der Kunst – in Polen, Ungarn, Frankreich werden Stücke zensiert, abgesetzt oder es fließen schlicht keine Gelder. Wir dürfen nach den Funktionen von Kunst fragen, schließlich ist sie stets ein Spiegel der Gesellschaft. Begleiterscheinung der Zusammenarbeit mit den Geflüchteten sind zum Beispiel die Vernetzung und das Neuer-finden kultureller Prozesse. Die Kulturtempel müssen sich immer wieder neu erfinden und legitimieren und ich finde es gut, dass viele Entscheidungsprozesse durch die Dringlichkeit der Situationen, in denen die Flüchtlinge sind, auch beschleunigt werden, Wege verkürzt werden, völlig unterschiedliche Institutionen kooperieren wie die Caritas mit Menschen aus der Wirtschaft oder Kulturinstitutionen mit der Bundespolizei.
Kann Kultur Frieden schaffen?
Diese Frage steht über allem – ich denke schon: Leuchtende Vorbilder sind Barenboim mit seinem West-Eastern-Divan Orchestra und viele viele kleine Projekte, wie z. B. jemand, der in Palästina „Antigone“ einstudiert. Ich empfand es auch als Zeichen von Rückkehr der Kunst, dass Gergiev vor ein paar Wochen mit seinem Orchester nach Palmyra reiste, an den Ort, an dem bis vor Kurzem Menschen vom IS enthauptet wurden. Auf jeden Fall fängt Frieden immer im Kleinen an. Ich suche immer wieder neu nach Wegen, bei denen die Kunst nicht verraten und zugleich eine Friedensbotschaft verbreitet werden kann. Der Kulturbetrieb sollte keine Angst vor dem Scheitern haben. Selbst wenn die Flüchtlinge bei den Opern nicht mitgemacht hätten. Dann hätten wir immer noch einen Schritt auf einander zu gesetzt und hätten mit einander geredet, gelacht und geweint. Der Kulturbetrieb könnte noch eine größere gesellschaftliche Relevanz haben. Gerade durch die Arbeit von und mit Flüchtlingen bekommt er eine gesellschaftliche Bedeutung.
Begegnungen
Begegnung mit dem „Anderen“: Ist überall wo „Begegnung“ draufsteht auch wirklich „Begegnung“ drin? Was bedeutet Begegnung mit dem „Anderen“ konkret? Ich freue mich sehr, dass es jetzt so viele Kulturprojekte mit Flüchtlingen gibt und möchte dafür Mut machen. Fast jeden Tag werde ich von Chorleitern, Schulmusikern, Hausfrauen gefragt, wie sie auf die Flüchtlinge zugehen sollen, ob sie z. B. deutsche Weihnachtslieder singen können – JAAAA!!! Gehen Sie ins Flüchtlingsheim! Wenn Leute sich aufmachen und sich öffnen, dann ist es schon einmal gut. Ich denke, dass die Flüchtlinge sehr schnell spüren, ob das Interesse echt ist. Auch sind es immer die einzelnen Menschen, die das Projekt getragen haben, die gerade Kraft und Inspiration hatten und ihre Liebe ins Projekt einbrachten. Auf unserer Reise waren wir mit vielen verschiedenen Nationen auf der Bühne (Afghanistan, Iran, Irak, Nigeria, Pakistan, Syrien).
Verein
Der Verein Zuflucht Kultur e. V. will Mut machen für das inter-kulturelle Miteinander und engagiert sich für Völkerverständigung durch Kultur unter anderem beim World Humanitarian Summit der UNO in Genf, beim weltweiten Rotkreuztreffen, am Bürgerfest des Bundespräsidenten auf Schloss Bellevue, im Deutschen Bundestag, beim Deutschen Kirchentag, bei Amnesty International, bei Oxfam Deutschland, im Bayerischen Landtag, bei Auftritten mit dem Bundespolizeiorchester, im Jusitzministerium Rheinlandpfalz, im Jüdischen Museum Berlin und auf Anti-Pegida-Demos.
Wir waren in Talkshows wie Markus Lanz, WDR West Art Talk, SWR Landesschau und bei der großen Spendengala des ZDF von Johannes B. Kerner.
Die Mozartopern „Cosi fan tutte“ und „Zaide. Eine Flucht.“ kamen insgesamt 17 Mal im Radialsystem Berlin, Gasteig München, Theaterhaus Stuttgart und im Theater Augsburg zur Aufführung. „Idomeneo“ ist derzeit in Planung. Die bisher schönste Bestätigung: Die Sendung „Die Anstalt“ (ZDF) erhielt für den Auftritt des syri-schen Flüchtlingschores Zuflucht den Grimmepreis 2015 „für den Moment der Echtheit und Wichtigkeit“, in dem die Mitwirkung direkt Betroffener emotionale Wucht entfaltet sowie den Amnesty Menschenrechtspreis 2015. Projektleiterin Cornelia Lanz erhielt 2015 für Ihre Arbeit den Zonta Kunst und Kultur Award Oberschwaben.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann übernahm im September 2015 die Schirmherrschaft für das Projekt „ZAIDE. EINE FLUCHT.“ Wir machen Oper mit Flüchtlingen. Die Oper dient aber auch als künstlerisches Medium, um eine seriöse, zielorientierte, vertrauensvolle und niveauvolle Arbeitsatmosphäre zu schaffen und Flüchtlingen, die eine Stimme/eine Bühne suchen, die Möglichkeit zu geben, sich auszudrücken und um Ihnen ein Podium für ihre Geschichten zu geben. Inzwischen arbeitet ein Team von über 200 Flüchtlingen mit uns aus Biberach, Stuttgart, Ulm, Ehingen, Augsburg, Berlin, München, Nagold, Geißlingen … Wir haben ca. fünf Auftritte im Monat, z. B. auch in Schulen (dort werden Kamingespräche mit Schülern geführt, Speeddatings inszeniert und Workshops gegeben), und bieten immer allen Flüchtlingen an, die Aufführungen zu begleiten. Um die Oper entwickeln sich viele Dinge wie Opern- und Konzertbesuche, Deutschnachhilfe, Hilfe bei der Wohnungssuche und beim Umzug, Hilfe bei Ämtergängen etc.
Wir möchten auch weiterhin gerne Mittler zwischen Flüchtlingen, Sozialarbeitern, Stiftungen, Bevölkerung, Künstlern, Publikum und Politikern sein. Wir möchten weiterhin gegen Rassismus und rechtsradikale Gewalt ansingen. Das Projekt leistet viel Aufklärungsarbeit unter den Deutschen und gibt Flüchtlingen ein Gesicht. Den Auftritt des Chores bei ZDF-Die Anstalt, für den der Grimmepreis vergeben wurde, sahen rund zehn Millionen Menschen. Wir bekommen viele Zuschriften und Anfragen dazu. Aus der Politik gab es auch vielfache Wertschätzung und gute Rückmeldungen.
„Idomeneo“
Nun also: „Idomeneo“! Was hat Mozart mit den Bürgerkriegsflüchtlingen von heute zu tun? Viel mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Krieg und Flucht sind in Mozarts Oper ebenso wie in unserer heutigen Zeit die bestimmenden Themen. Und so ist es nur folgerichtig, Mozarts Stoff an der Jetztzeit zu spiegeln und in den aktuellen Kontext der Flüchtlingskrise zu stellen. Zuflucht Kultur freut sich sehr, diesen ganz besonderen „Idomeneo“ mit den Ludwigsburger Schlossfestspielen als Koproduktionspartner zu realisieren.
Eine Oper der verlorenen Heimat, eine Oper der Sehnsucht: Idomeneo kehrt auf Irrwegen aus vier Jahren Trojanischem Krieg zurück. Er gerät in ein Unwetter auf See und bietet den Göttern für seine Rettung ein Opfer an. Sein Schwur, mit dem er ein Menschenleben über ein anderes stellt, steckt voller Hybris: Er werde das erste Wesen töten, das ihm auf Kreta begegnet. Es ist der eigene Sohn, Idamante. Die Figuren sind allesamt Gestrandete: Ilia, die verschleppte trojanische Königstochter, Idamante, der vor dem Zorn der Götter fliehen muss, und schließlich Elettra, die nach dem Muttermord zu Idomeneo geflohen ist und sich dort hoffnungslos in Idamante verliebt hat. Der Besetzungszettel der neuen Produktion lässt keine Wünsche offen. Bernd Schmitt, der schon für die legendäre Così-Inszenierung verantwortlich zeichnete, wird wieder Regie führen. Als Orchester konnten die Macher das international besetzte Ensemble BandArt unter der Leitung von Gordan Nikolic, dem ersten Solo-Violinisten und Konzertmeister des London Symphony Orchestra, gewinnen. BandArt, die unter anderem mit La Fura dels Baus zusammenarbeiteten, wurden bekannt durch ihr unkonventionelles „Mitspielen“. Die Mitglieder des Orchesters bringen sich nicht nur als musikalische Begleitung ein, sondern wirken häufig auch aktiv am Bühnengeschehen mit. Die Titelrolle von Idomeneo übernimmt der gefeierte Tenor Maximilian Schmitt. Seinen Sohn Idamante singt die Initiatiorin und Produktionsleiterin Cornelia Lanz. Ilia wird von Josefin Feiler (Staatsoper Stuttgart) verkörpert; Elettra von der ukrainischen Sopranistin Tatjana Charalgina
(ehemals Staatstheater Mainz).
Das Konzept von Regisseur Bernd Schmitt und der Bühnenbildnerin Birgit Angele zielt darauf, die mitwirkenden Flüchtlinge als gleichberechtigte Akteure zu zeigen, deren Partien ebenso wichtig sind wie die der Gesangssolisten. Sie werden in individuellen Monologen in die Handlung verwoben: Jeder Geflohene erzählt, singt, spielt anhand eines Gegenstandes aus seinem Heimatland seine eigene Geschichte, seine eigenen Erinnerungen. Die Tenorpartie des Arbace übernimmt der syrische Schauspieler Zaher Alchihabi. Der irakische Schauspieler Ayden Antanyos, der im wahren Leben tatsächlich auch Kameramann ist, überhöht das Geschehen an verschiedenen Stellen der Oper mit der Live-Kamera. Der Chor besteht aus Mitgliedern des Chors Zuflucht, der Asylsuchende und Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran, Irak, Nigeria, Pakistan und Syrien vereint. Weitere Rollen werden ergänzt, darunter Idomeneos Schatten aus dem Krieg: der Oud-Spieler Samir Mansour, der Idomeneos Rezitative auf dem arabischen Zupfinstrument begleitet. Durch die hierarchiefreie Internationa-lität innerhalb des Ensembles bleibt die Regie stets nah an der Lebensrealität von Geflohenen und spürt den vielfältigen Bezügen zum aktuellen Diskurs in Mozarts Oper nach.
Bühnenbild
Das Bühnenbild zu „Idomeneo“ ist ein Koordinatensystem, indem die Menschen im Mittelpunkt stehen. Nur Tisch, Bett, Segel, ein Teller Kartoffelsuppe sowie einige projizierte Bilder geben Auskunft über Erinnerungen, Träume und Ängste und stellen Fragen. In diesem Raum entspinnt sich die Geschichte. Es ist ein Spiel-Raum, kein Illustrations-Raum.