Warum es wichtig ist zu wissen, was die Generation Y von einem Chor erwartet.
„Die Jungen singen doch nicht mehr“, gehört leider oft zu den Aussagen, die landauf, landab gesagt werden, wenn es um das Thema Nachwuchs geht. In vielen Vereinen beginnt die Alterspyramide tatsächlich mit 40. Manche Vereine haben einen Kinder- und Jugendchor, doch dann kommt zwischen „20 und 35 einfach nichts. Singt diese Generation – also die Generation Y? Die Frage ist hier vielleicht falsch gestellt. Sie singt. Die große Frage ist: Wo singt sie? Das wollten wir von zwei Chorleitern, die nicht nur selbst Teil der Generation Y sind, sondern auch Chöre in dieser Alterstruktur leiten, wissen.
Von Singverdrossenheit kann hier nicht die Rede sein. Nikolai Ott und Martin Renner im Gespräch über Motive der Generation Y für das Singen. Beide sind Chorleiter, beide sind Angehörige der Generation Y, beide lieben Musik und haben ihre Leidenschaft nicht nur zum Beruf gemacht, sondern könnten ohne sie nicht leben. Zwei junge Männer, die vieles vereint – doch nicht unbedingt auf den ersten Blick.
Nikolai Ott
Nikolai Ott ist studierter Kirchenmusike und macht derzeit seinen Master in Chorleitung an der Hochschule für Musik in Trossingen. Er leitet nicht nur die Kantorei der Karlshöhe Ludwigsburg, sondern hat mit „cantus imperitus“ einen eigenen Chor gegründet, in dem er seine Vorstellung von guter Chormusik erfolgreich umsetzt. Als Chorleiter eines Kirchenchores kennt er sich mit den alltäglichen Problemen eines Amateurchores sehr gut aus. Seine Leidenschaft gilt der alten und der sehr neuen Chormusik.
Martin Renner
Martin Renner tut, was er tut, aus einer besonderen Leidenschaft heraus. Für ihn muss Musik knallen und grooven. Mit „Beauties and the Beats“ hat er sich schon lange im Pop-A-cappella-Business einen Namen gemacht. Viel Witz gepaart mit modernen Bühnenoutfits und ausgefallenen Moderationen sind sein Markenzeichen. Er bezeichnet sich selbst in vielerlei Hinsicht als Autodidakt, lernt gerne von anderen und setzt es dann nach seinem Prinzip um. Neben seinen eigenen Projekten ist er aber auch Chorleiter eines klassischen Männerchores, mit allem, was an Vereinsalltag dazu gehört. Unterschiedliche Herangehensweisen, unterschiedliche Genres, unterschiedliche Typen – doch beide arbeiten erfolgreich mit Mitgliedern der Generation Y. Woran liegt das?
Hobby zwischen Freizeit und Arbeit
„Chorsingen ist keine Freizeit im eigentlichen Sinne. Tief im Inneren ist es Arbeit, denn man geht zur Probe, um produktiv zu sein“, erklärt Nikolai Ott. Diese Einstellung steht im krassen Gegensatz zu dem, was man eigentlich der Amateurmusik im Allgemeinen gerne zuschreibt: Hobby, also Freizeit pur. Und hier ist schon die erste Begriffsdefinition notwendig. Arbeit, das bedeutet für die Generation Y eben nicht strenges Schaffen. „Es geht letztlich um den Ehrgeiz, etwas Gutes auf die Beine zu stellen“, sagt Ott. Martin Renner kann ihm da nur beipflichten. „Ja, es ist Arbeit, aber es ist eher eine Spaßgemeinschaft, die sich selbsverwirklichen will und dabei eben auch Erfolg haben will.“ Die Generation Y weiß ziemlich genau, was sie will, und was für sie nicht in die Tüte kommt. Als erste Generation, die sich beruflich massiv digitalisiert hat, kämpft die Generation Y oft noch um die Balance zwischen Arbeit, digitaler Erreichbarkeit, Familie und Freizeit. Da bleibt wenig Willen, um die gefühlt knappe Freizeit mit etwas zu belegen, was nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. „Die Leute überlegen sich gut, was sie in ihrer freien Zeit tun wollen. Das ist egoistisch, aber irgendwie auch legitim“, gibt Nikolai Ott zu bedenken.
Im Alter zwischen 20 und 35 befinden sich die Menschen in einer Phase, in der das Leben oft umbricht. Lebensrealitäten ändern sich, Lebensmittelpunkte verschieben sich. Laut Renner kann man das aber auch durchaus positiv sehen. „Wenn einem etwas wichtig ist, macht man es trotzdem weiter. Letztlich hat man deshalb gute und motivierte Leute im Ensemble.“
Thema Vereinszugehörigkeit
In der Sicht auf den Verein zeigt sich bei der Generation Y eine Fokusverschiebung, die aber durchaus in das Gesamtbild der Generation passt. „Wenn ich meinen Männerchor anschaue, dann geht es dort sehr viel um die Gemeinschaft“, erklärt Martin Renner. „Das ist bei den anderen Ensembles schon etwas anderes. Die wollen singen und nicht unbedingt am Vereinsfest Würstchenbraten“, ergänzt er. Dabei ist ein solches Engagement nicht ausgeschlossen. Es ist nur nicht unbedingt ein Grund, um einem Verein beizutreten. „Sie wollen lieber das Geld für den Haushalt des Vereins mit dem erarbeiten, wofür sie sich entschieden haben, nämlich dem Singen“, erklärt er weiter.
Das bedeutet nicht, dass sich die Sängerinnen und Sänger aus der finanziellen Verantwortung für einen Verein herausstehlen möchten. Die Erfahrung zeigt, dass ein höherer Mitgliedsbeitrag oder Umlagen meist das kleinere Problem als erzwungene Arbeitseinsätze sind. Sie sind bereit, sich ihr Hobby etwas kosten zu lassen, solange die Rahmenbedingungen hierfür passen. Dabei spielt auch die Regionalität nur noch eine untergeordnete Rolle, was beide Chorleiter bestätigen können. Die Mitglieder ihrer jungen Ensembles kommen aus ganz Baden-Württemberg und nehmen zum Teil Anreisen von mehr als einer Stunde für die Proben in Kauf. „Ich frage mich dann manchmal, ob ich das dafür auch machen würde, aber ich bewundere das wirklich“, freut sich Renner. Auch hier zählt wieder: Wer solche Anreisen auf sich nimmt, ist von sich aus motiviert und bereit, im Ensemble einiges zu leisten. Die Mischung muss aber eben auch passen. Martin Renner sieht bei „Beauties and the Beats“ die Aufteilung von Arbeit zu Spaß bei ungefähr 60 – 70% Arbeit. Nikolai Ott hingegen setzt den Arbeitsanteil bei den Proben mit „cantus imperitus“ erheblich höher an. Hier zeigen sich eben doch Unterschiede im Genre. Nikolai Ott sieht in der Arbeit die Motivation für seine Sängerinnen und Sänger, Martin Renner den Spaß. „Bei uns gehört Witz und Entertainment zur Arbeit dazu“, freut sich Martin Renner. Beide sind sich aber darin einig, das es letztlich um das Ergebnis geht. „Es geht um ein Erfolgserlebnis und darum, das Gefühl zu haben etwas erarbeitet und nicht überarbeitet zu haben“, fasst Nikolai Ott zusammen.
Wie wichtig wird ein Umdenken für Vereine?
Die Gesellschaft wandelt sich stetig. Die Generation Y hat schon gestandene Personaler in Firmen an den Rand der Verzweiflung gebracht, weil bisherige Strukturen hier einfach an ihre Grenzen kommen. Diese Problematik zeigt sich nun verzögert natürlich auch im Bereich der Vereine und des Ehrenamts. „Viele Vereine müssen erkennen, dass das so nicht mehr funktioniert“, erklärt Renner. Die Gesellschaft an sich wird sich immer weiter professionalisieren und das Thema Qualität wird sich immer weiter zuspitzen. „Hier kommen Grenzen“, sagt Renner weiter. Stichwort Verantwortung im Verein. Auch hier sind sich beide einig. Es geht in der Generation Y nicht um Verantwortungsvermeidung. Im Gegenteil. Die meisten Sängerinnen und Sänger wollen in die Entscheidungen eingebunden werden, ihre Meinung soll gewertschätzt werden. Dabei werden Hierarchien nicht von vornherein abgelehnt. Wichtig ist eher, dass es eine respektvolle Atmosphäre und ein Begegnen auf Augenhöhe ist.
Auswirkungen auf die Probenarbeiten
Die Arbeit mit Menschen, die unglücklich werden, wenn sie das Gefühl haben, dass sie Zeit vergeuden, stellt Chorleiter aller Genres vor spezielle Herausforderungen. Doch eigentlich ist dies kein Problem mit der Generation Y an sich, sondern ein heikles Thema in fast jedem Chor: Wie lange singt eine Sängerin oder ein Sänger tatsächlich während der Probenstunden? Wer sich überlegt, ob er Zeit für ein Hobby verwendet, bis zu einer Stunde Fahrt auf sich nimmt, der möchte dann auch einen effektiven Probenverlauf mit möglichst viel Singen haben. Oft ein Problem, denn immer wieder müssen Stimmen einzeln geprobt werden. Würde man eine Stoppuhr verwenden, käme man vermutlich nur auf einen Bruchteil der Zeit, in der faktisch gesungen wird. Ärgerlich für Sängerinnen und Sänger, die selbst nicht zum Singen kommen, aber auch ärgerlich für die Chorleitung, die so wenig Zeit hat, sich um den Gesamtklang zu kümmern. Auf dieses Problem reagieren beide Chorleiter auch auf Grund ihrer Sängerinnen und Sänger unterschiedlich.
Nikolai Ott setzt auf die Eigenmotivation seiner Sängerinnen und Sänger. Da alle seiner Ensemblemitglieder gut ausgebildete Musiker sind, ist das Selbststudium hier Pflicht. Martin Renner setzt dagegen auf digital. Er produziert Übefiles für seine Chöre. Eines ist aber beiden wichtig: „Man muss den Dampf in der Probe halten“, erklärt Renner. Die Leute müssen ständig Input bekommen und beschäftigt sein. Dies hat er nicht nur im Chor, sondern auch bei Musical-Projekten mit Jugendlichen gelernt. Reißt der Konzentrationsfaden ab, dauert es lange, wieder ins Arbeiten zu kommen. Beide verwenden daher bei ihren Proben einen einfachen Trick. Sie lassen die Stimmen gleichzeitig an unterschiedlichen Orten ihre Stimmen proben. „Dann singt eben eine Stimme auf dem Männerklo, eine im Stuhllager, eine im Gang und eine im Raum selbst. Das funktioniert dann schon“, sagt Renner. Nikolai Ott geht noch eine Spur weiter. „Manchmal lasse ich alle bei einer Stimme mitsingen, das schafft auch mal neue Einsichten“, lacht er. Am wichtigsten ist aber tatsächlich die Vorbereitung vor der Probe. Nur so kann ein schneller Fortschritt entstehen.
Warum singt die Generation Y?
In einem Wort: Qualität. Im Gespräch zeigt sich immer wieder, dass Spaß und Arbeit hohe Motivatoren für das Singen im Chor für die Generation Y sind, aber der Punkt, der alle Aussagen eint, ist letztlich der Anspruch an eine gewisse Qualität. Qualität des Chorleiters, Qualität der Rahmenbedingungen, Qualität der eigenen Leistung, Qualität der anderen Sängerinnen und Sänger. Es handelt sich also um Leistungsbewusstsein, gepaart mit Spaß an der Arbeit und der Gemeinschaft. Wenn diese Rahmenbedingungen stimmen, ist der Rest zweitrangig. Faktoren, die vor Jahren noch ausschlaggebend waren für die Wahl eines bestimmten Chores, treten immer weiter in den Hintergrund. Ob der Jahresbeitrag bei 15 Euro im Jahr oder im Monat liegt, ob die Strecke zum Probenort weit ist oder am Wohnort liegt, das sind nicht die Entscheidungskriterien in erster Instanz. Das Programm muss stimmen, der Aufwand und das Engagement müssen sich lohnen. Man muss für seinen persönlichen Einsatz etwas zurück bekommen.
Was beinhaltet dieser Qualitätsbegriff?
Das Paket muss passen. Eine Chorleitung kann nur dann wirklich gute Arbeit leisten, wenn sie Meister ihres Genres ist. Das hat nicht immer unbedingt etwas mit einer Ausbildung an sich zu tun. Vor allem muss eine Chorleitung authentisch sein bei dem, was sie tut. „Man muss kein Chorleiter zum Fürchten sein, um etwas zu bewegen, aber einer, bei dem es immer dampft“, weiß auch Martin Renner. „Das was du willst, muss funktionieren für das, was du machst.“ Dabei muss das Handwerkszeug als Grundvoraussetzung natürlich passen. Was das aber genau ist, das hängt eben wieder von Genre und Chor ab. Ohne das passende Rüstzeug geht es eben nicht. Ein Pop-Chor setzt zum Beispiel ganz andere Gesangstechniken voraus als die Inszenierung eines Musicals. Die Unterschiede muss man kennen und sich gut auf Projekte vorbereiten. Wenn also die Ausbildung der Chorleitung passt, kommt noch der kreative Aspekt in der Ausrichtung hinzu: „Wenn der Chorleiter keine Vision hat, dann bringt das nichts“, stellt Martin Renner fest. „Ein Chorleiter muss wissen, was er tun will, nur so ist er authentisch und nur so kann es funktionieren“, bestätigt auch Ott. Aus ihrer Erfahrung wissen beide, dass es meistens zu keinen guten Ergebnissen führt, wenn sich ein Chorleiter zu sehr verbiegt. „Ich muss mit meiner Leidenschaft die Leute mitreißen. Für mich ist es einfach mein Leben und ich würde nichts anderes machen wollen“, sagt Martin Renner. Beide haben selbst schon die Erfahrung gemacht, dass ihre eigene Leistung auch nur dann stimmt, wenn sie sich nicht zu stark verbiegen müssen. Anpassung an den einzelnen Chor ist das eine, doch wenn es sich zu stark vom eigenen Profil weg bewegt, leidet die Qualität. Daher muss von der Chorleitung auch ein gewisser Grad an Autorität ausgehen. Das ist nicht immer leicht, weiß auch Martin Renner. Gerade jüngere Mitglieder seiner Chöre nehmen ihn manchmal nicht als Chef im Ring wahr. Solche Probleme können aber durch deutliche Ansagen meist schnell behoben werden.
Dieses Verständnis von Chorleitung benötigt oft auch Verständnis im Vereinsvorstand und auch den Ensemblemitgliedern. „Für eine gute Zusammenarbeit muss vieles passen. Auch das Genre. Als Chorleiter musst du die Möglichkeit haben, eigene Regeln festzulegen. Danach müssen die Sängerinnen und Sänger entscheiden, ob sie das haben wollen“, erklärt Ott. Beide haben schon erlebt, dass nach solchen Ansagen auch Vereinsmitglieder ausgetreten sind. Langfristig bringt es den Vereinen aber immer ein Plus an Qualität und oft auch ein Plus an Mitgliedern.
Isabelle Arnold