Das Einsingen ist ein wichtiger Teil der Probenarbeit. Welche Funktionen es noch haben kann, erklärt Tabea Raidt.
Einsingen als lästige Pflichtübung vor der Chorprobe – das ist vermutlich ein Bild, das viele SängerInnen und sogar ChorleiterInnen haben. Nach dem anstrengenden Herumstehen kann man sich zur Probe endlich wieder gemütlich in seinen Stuhl drücken. Aber das ist so schade!
Ich liebe das Einsingen. Es ist so eine schöne und bunte Spielwiese. Ich möchte diese Stelle dazu nutzen, Werbung fürs Einsingen zu machen. Nicht als Expertin und schon gar nicht auf wissenschaftlichem Niveau. Sondern als Chorleiterin, die versucht, immer wieder Neues auszuprobieren, die ihre Chöre weiterentwickeln möchte und die einfach nur neugierig ist, was alles möglich sein kann.
Ein gutes Einsingen kann folgende Funktionen erfüllen:
- Ankommen und Konzentration
- Aktivierung der Rumpfmuskulatur und Atmung
- Intonation und Artikulation
- Dynamik und Klangfarben
- Rhythmus und Bewegung
- Informationen zu Intervallen und Stimmapparat
- Gruppendynamik
Ankommen und Konzentration:
Alle SängerInnen sowie auch die Chorleitung kommen aus den unterschiedlichsten Situationen und Zuständen in die Chorprobe. Gestresst, erschöpft, überdreht, selten jedoch ausgeruht und konzentriert. Die erste Aufgabe des Einsingens ist daher, den bisherigen Zustand zu verlassen und den Fokus aufs gemeinsame Singen zu lenken. Die Routine spielt hier eine große Rolle.
Mein Lieblingsstart fürs Einsingen ist „sch-sch-sch“ (häufig wiederholt, mit Impulsen aus dem Bauch): Ich beginne alleine, die SängerInnen beenden ihre Gespräche, stehen auf und steigen mit ein. Danach kann man ganz entspannt einen „Guten Abend!“
wünschen.
Aktivierung der Rumpfmuskulatur und Atmung:
Die Bauchatmung (im Gegensatz zur Hochatmung) ist die Grundlage jedes gesunden Singens. Und es braucht sehr, sehr viele bewusste Wiederholungen, bis die Kraft fürs Singen selbstverständlich aus dem Bauch kommt. Jedes Einsingen sollte also einen guten Teil seiner Zeit auf die Stärkung der Rumpfmuskulatur und Atmung verwenden.
Meine Lieblingsübung: Rudern im Stehen. Die SängerInnen sind in Schrittstellung, beim Nach-Hinten-Ziehen mit beiden Händen spannt sich der Bauch an, dabei gibt es ein lautes „ffffff“ (kein Hohlkreuz, Schultern entspannt); beim Nach-Vorne-Beugen hängt der Bauch entspannt und die Luft kommt zurück.
Intonation und Artikulation:
Die klassischen Übungen mit Silben (Vokalisen) auf einfachen Tonfolgen können hier klug genutzt werden, um das saubere Hören und Singen zu fördern. Am gebräuchlichsten ist es sicherlich, den Anfang einer Tonleiter bis zur Quinte (5. Ton) und wieder zurück zu singen, z. B. auf „du-du-du“, dabei steigt der Startton bei jeder Wiederholung um einen Halbton. Meine Lieblings-abwandlungen: 1. Frauen und Männer oder einzelne Stimmen singen nacheinander. 2. Mit einer Hand eine Zahl anzeigen, die SängerInnen bleiben auf diesem Ton (aufwärts oder abwärts) stehen, bis es richtig klingt. 3. Die einzelnen Stimmen bekommen einen Ton zugewiesen, auf dem sie stehen bleiben, dadurch entsteht z. B. ein Dreiklang. 4. Die SängerInnen finden den nächsten Halbton selbst. Abwandlungen zur Artikulation: 1. Tonfolgen auf „la-la-la“ oder „ja-ja-ja“, wobei der Mund weit geöffnet ist und sich der Unterkiefer nicht bewegen darf (da muss dann die Zunge fleißig werden). 2. Zungenbrecher singen, auf einem Ton oder auf Tonfolgen, z. B. „Blaukraut bleibt Blaukraut“.
Dynamik und Klangfarben:
Jeder Chor, der eine gewisse Bandbreite an Repertoire abdeckt, sollte auch die passenden Klangfarben erzeugen können. Ein PopStück soll wie Pop klingen (Übungen oben auf engem „de-de-de“), Gospel wie Gospel (offenes „woa-woa-woa“), Oper wie Oper ( geschlossenes „ju-ju-ju“) und Liedermacher wie Liedermacher (luftiges „na-na-na“).
Hierfür bedarf es eines gewissen Hintergrundwissens bei der Chorleitung, um diese Klangfarben in Übungen vermitteln zu können. Meine Lieblingsübung: Die SängerInnen singen den Refrain eines für ein Genre typischen Liedes so übertrieben wie möglich.
Rhythmus und Bewegung:
Jeder Chor, der nicht nur Klassisches im Repertoire hat, auf jeden Fall aber im Pop-Rock-Spektrum, braucht ein gutes Rhythmusgefühl. Der gesungene Rhythmus darf nicht vom Schlagbild der Chorleitung abhängen sondern sollte gefühlt werden und am besten auch sichtbar sein. Meine Lieblingsgrundlage ist: der Gospel-Schritt auf 1-2-3-4 und die Schrittfolge rechts-tipp-links-tipp. Die oben beschriebenen simplen Übungen lassen sich bestens darauf singen, z. B. auf Achteln. Die Angabe für den nächsten Halbton erfolgt dann rhythmisch auf der letzten Viertel. Zusätzlich kann man die Hände nutzen, z. B. Klatschen auf „1“ und Schnippen auf „3“.
Informationen zu Intervallen und Stimmapparat:
Wenn jemand ein Instrument lernen möchte, bekommt sie/er üblicherweise ein paar Informationen zum Bau und zur Funktionsweise des Instruments. Und bevor ein Geiger im Orchester spielt, übt er zunächst alleine. Beim Singen bzw. im Chor ist das oft nicht so. Natürlich kann jeder Mensch singen, glücklicherweise. Aber alle Arten von Singen, die über Tonhöhe, Lautstärke und Klangfarbe von Kinderliedern hinausgehen, bedürfen eines besonderen Könnens. Und dafür sollte eine gewisse Portion an Hintergrundwissen vorhanden sein. Es kann nützlich sein, wenn der Chor weiß, wie eine Quarte klingt oder dass die Terz, gerade abwärts, oft zu tief wird.
Außerdem ist es wichtig, die physischen Grundlagen gesunden Singens zu kennen, um Heiserkeit und Verspannung zu vermeiden (erste Anzeichen: wenn Stirn und Hals verspannt aussehen, kann auch die Stimme nicht entspannt sein). Meine Lieblingsübung zur Kontrolle der Taschenfalten (deren Anspannung der häufigste Grund für Heiserkeit ist): die SängerInnen heben zwei imaginäre Sprudelkästen hoch, dabei fühlen sie, dass der Hals innen eng und gepresst wird. Die SängerInnen lassen los, stellen sich große Enttäuschung vor und fühlen, wie der Hals innen groß und weit wird. Ziel sollte sein, alle Übungen mit entspannten Taschenfalten singen zu können.
Gruppendynamik:
Wo immer mehrere Menschen zusammenkommen passiert Gruppendynamik, im Guten oder im Schlechten. Das Einsingen kann gut dazu genutzt werden, Spannungen abzubauen und das Kennenlernen zu erleichtern. Hierfür eignen sich besondere „Eisbrecher“-Übungen sehr gut. Die meisten Eisbrecher zielen darauf ab, Scheitern in Spaß zu verwandeln und Ehrgeiz mit Freude zu verbinden. Mein Lieblings-Eisbrecher (aus Fris/Thorning: Icebreakers): Zwei SängerInnen stehen sich gegenüber und zählen bis 3, wobei sich die SängerInnen mit dem Sprechen abwechseln, gerne auch rhythmisch. Im nächsten Schritt wird z. B. die 1 durch ein Klatschen ersetzt u.s.w., dabei auch Partnerwechsel einplanen. Klingt simpel, ist aber gar nicht ohne und vor allem sehr, sehr lustig.
Was noch?
Das Ende des Einsingens ist nicht das Ende der Stimmbildung! Hinweise, Hilfestellungen und Übungen zu Klangfarben oder zur Entspannung in der Höhe sollten sich immer wieder in der Probe eingestreut finden. Tipp: Schwierige Tonfolge eines Liedes, das geprobt werden soll, als Einsingübung auf Silben vorwegnehmen, später wiederholen.
Klein anfangen!
Es gibt Millionen von Übungen, Ideen, Büchern und Tipps zum Einsingen, sodass einen die Schwemme gerne mal überfordert und man lieber beim Alten bleibt.
Mein Tipp: in das „übliche“ Einsingen eine kleine neue Übung einbauen. Und beim nächsten Mal eine andere ausprobieren.
Kein Auftritt ohne Einsingen!
Auch fürs Ständchen gilt:
Zusammenfinden, Atmen, gemeinsame Töne finden, Hals entspannen. Mein Tipp bei ganz wenig Zeit: Lippenflattern (wie das Prusten beim Pferd, aber mit Ton bzw. Glissando).
Warum nicht mal jemand anderes das Einsingen machen lassen?
Oft reicht es, wenn da ein anderes Gesicht steht, um wieder Schwung in den Start zu bringen. Mein Tipp: eine befreundete Chorleiterin oder den Chorleiter vom Nachbarchor bitten, „sein“ Einsingen mal beim eigenen Chor zu machen – und gerne umgekehrt. Das Einsingen ist auch eine wunderbare Gelegenheit, die/den VizechorleiterIn in die Probenarbeit einzubinden.
Es gibt so viele tolle Ideen zum Einsingen! Einfach bei Youtube „Einsingen Chor“ eingeben und durchklicken. Wenn etwas besonders gefällt, kann man ja recherchieren, ob der betreffende Chorleiter bzw. die Dozentin auch Kurse gibt oder ein Buch geschrieben hat. So findet man auch zu spannenden „Programmen“ zum Einsingen und zur Stimmbildung, z. B. Icebraker, Solmisation, Circle Singing, The Intelligent Choir, Voice Painting, Estill Voice Training oder Complete Vocal Technique.
Viel Spaß beim Ausprobieren!
Tabea Raidt