Zwischen Konzept und Persönlichkeit – gelungene Probenmethodik im und mit dem Chor
Der Ball ist rund und das Spiel dauert 90 Minuten. Wenn es nur so einfach wäre! Schon beim Fußball gelingt es kaum, die Spieltaktik so knapp zusammenzufassen, dass sie auf jedes Spiel anwendbar wäre. Jeder Trainer* hat seine eigenen Methoden, Konzepte, Strategien und seine eigene Persönlichkeit im Umgang mit seinen Spielern. Dieser Tage haben wir bei der WM wieder reichlich Gelegenheit zu beobachten, welche Trainerentscheidungen mit Erfolg belohnt werden und welche danebengehen. Schnell haben 82 Millionen Bundestrainer eine eigene Meinung parat, welche Strategie besser gewesen wäre – um dann doch festzustellen, dass die Lage komplex ist und Vieles auch von Glück und Tagesform abhängt.
Jeder Chorleiter ist ein solcher Trainer, der sich vor (oder spätestens in) der Probe fragen wird: Wie stelle ich es an, meinen Sängern dieses oder jenes Stück näherzubringen? Welche Methoden, welche Rezepte, welche Kniffe wende ich an? Wie ist eine Probe einerseits kurzweilig und führt doch andererseits zu einem nachhaltigen Lernergebnis, auf dem man aufbauen kann? Probenmethodik ist ein weites Feld, in gewisser Weise ein Teilgebiet der Musikpädagogik und -didaktik, das allerdings selten systematisch erforscht und gelehrt wird. Erfolgreiche Chorleiter geben hie und da Tipps weiter, doch selbst im Hauptfachunterricht Chorleitung wird das Thema – je nach Dozent – nur gestreift. Gleichzeitig kann das Thema auch nur bedingt akademisch unterrichtet werden, denn wesentliche probenmethodische Erkenntnisse vermitteln sich erst dann, wenn sie in der Praxis erfahr- und erlebbar werden.
Vielfalt der Methodik
Ich finde es sehr verdienstvoll, dass das Thema Probenmethodik nun in mehreren Ausgaben der SINGEN aufgegriffen und von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. So vielfältig Chor und Chorleiter sind, so vielfältig sind auch die Methoden, die zum Ziel führen. Wie jede Pädagogik verlangt auch Probenmethodik nach einem feinen Gespür für die Bedürfnisse der Gruppe, nach einer guten Selbstwahrnehmung/-reflexion und einem breiten Repertoire flexibel einsetzbarer Methoden, um den Chor in jeder beliebigen Situation ein Stück nach vorn zu bringen. Wie ein erfahrener Kapitän wird so der Chorleiter zum Begleiter auf dem Weg der Einstudierung eines neuen Werkes, der Klippen umschifft und seinen Chor sicher zum Hafen geleitet. Der bedenkt, dass ein Chor mal angetrieben werden, mal aber auch ausruhen muss; der den Chor motiviert, aber auch auf Probleme hinweist etc.
Makromethodik
Der Blick fürs große Ganze ist wichtig, lange bevor die Einstudierung eines Werkes beginnt: Wie viele Wochen, wie viel Probenzeit habe ich bis zur Aufführung? Muss parallel anderes Repertoire geprobt werden? Verfolge ich ein bestimmtes Ziel, soll der Chor etwas Bestimmtes lernen an dem gewählten Werk? Je nach Beantwortung dieser Fragen ergibt sich eine andere Aufteilung der zur Verfügung stehenden Probenzeit. Ich selbst probe deutlich effektiver, wenn ich diese Fragen vor der ersten Probe gestellt und für mich beantwortet habe. Bei längeren Einstudierungszeiträumen empfiehlt es sich, einen schriftlichen Probenplan anzufertigen, der dann auch den Sängern als Orientierung dienen kann. So weiß jeder, an welcher Stelle des Prozesses man sich gerade befindet.
Mikromethodik
Angefangen beim kompletten Einstudierungszeitraum kann man immer weiter „heranzoomen“ und immer kleinere Zeiträume betrachten: etwa ein Probenwochenende, eine einzelne Probe, ein einzelner Probenabschnitt und schließlich ein einziger Moment der Interaktion zwischen Chor und Dirigent. Auf allen Ebenen lohnt es sich, seine Methodik zu hinterfragen und weiter zu schärfen. Auf allen Ebenen gibt es Interessantes zur Methodik zu sagen. Im Folgenden soll es hauptsächlich um eine „typische“ Chorprobe gehen. Die meisten Amateurchöre proben wöchentlich, üblicherweise zwischen anderthalb und drei Stunden. Wie kann diese Zeit gut genutzt werden, damit die Sänger in der folgenden Woche gerne wiederkommen?
Dreiteiliger Aufbau
Wie bei einer Unterrichtsstunde kann man – etwas vereinfacht – jede gelungene Probe grob in drei Teile teilen: Einstieg, Erarbeitung,
Ergebnissicherung („methodischer Dreischritt“).
1. Einstieg: Begrüßung, Einsingen/Warm-up, Kennenlernen des neuen Stückes oder Wiederholen des Repertoires. Der Einstieg dient
der gemeinsamen Orientierung und soll Lust auf das neue Stück machen und/oder an die vorige Probe anknüpfen. Viele Chöre schätzen es, wenn man zu Beginn knapp den Probenplan bekanntgibt: So wissen alle ungefähr, was auf sie zukommen wird. Ein schwungvoller Einstieg kann Motivation und Energie für den ganzen Abend geben, daher: Mit guter Laune, positiv und optimistisch starten, wann immer das möglich ist. Wichtig: Das Einsingen ist bereits integraler Bestandteil der Probe, denn es bereitet nicht nur den einzelnen Sänger auf die Probe vor, sondern fördert idealerweise auch das Aufeinanderhören und einen gemeinsamen Klang. Daher sollten auch unbedingt alle Sänger am Einsingen aktiv teilnehmen.
Geschickte Chorleiter bauen knifflige Stellen des zu probenden Stücks schon ins Einsingen ein und sparen so hinterher Zeit (z.B. eine Koloratur wird in eine Geläufigkeitsübung verpackt und so vorweg geübt). Das Einsingen soll aber kein Absingen sein: lieber nicht zu lange (maximal 20-30 Minuten) und keine allzu anstrengenden Übungen! Lesen Sie hierzu auch den Artikel „Einsingen! Es kann so gut sein…“ von Tabea Raidt auf den Seiten 12 und 13.
2. Erarbeitung: Dies ist der Hauptteil der Probe, hier findet die eigentliche Einstudierungsarbeit statt. Idealerweise wechselt man
ab zwischen leichteren und schwereren Stellen, zwischen Bekanntem und Neuem, rhythmischen und klangbetonten Passagen etc., um die Probe abwechslungsreich und mit gutem Spannungsbogen zu gestalten. In dieser Phase darf und muss man sich tief in das Stück vergraben und sich dabei auch die Hände schmutzig machen: Fehler sind kein Problem, dafür probt man ja! Nach Möglichkeit nicht zu lange an denselben drei Takten festbeißen, sondern abwechseln zwischen Detailarbeit und „Strecke machen“. Chöre schätzen es sehr, wenn man die stimmliche Belastung der Sänger stets im Blick hat: Zum Warmsingen mit einem angenehmen Stück in bequemer Lage anfangen und nach einem stimmlich fordernden Probenabschnitt (z. B. hohe Lagen, laute Dynamik) etwas Entspannendes zwischenschieben.
3. Ergebnissicherung: Der Ausklang der Probe. Damit sich das Gelernte setzen kann, sollte man stets das Ergebnis der Probe in einem Durchlauf (ganzes Stück oder abschnittweise) zusammenfassen. Am Ende der Probe sollte man sich (verbal oder nonverbal) darüber verständigen, was bei der Probe herausgekommen ist und wie/wo die Arbeit in der nächsten Probe weitergehen kann. Idealerweise endet die Probe mit einem musikalischen Erfolgserlebnis, das zur Weiterarbeit motiviert und die Sänger mit einem positiven Gefühl in den Abend entlässt. Einige Chöre haben auch ein eigenes Ritual zum Beschluss der Probe, beispielsweise das gemeinsame Singen eines Abend- oder Segensliedes.
Ein paar Tipps und Tricks für die Praxis
Der erste Einstieg in ein neues Stück soll Lust machen auf die Musik, die es zu entdecken gilt. Die Sänger sollen einen ersten Überblick bekommen über den Umfang, schwierige Klippen und einfache Passagen. Ich empfehle, bei nicht allzu komplexen/langen Stücken
gleich zu Beginn einen Durchlauf zu versuchen – natürlich ggf. mit Hilfe am Klavier und gern in langsamerem Übetempo. Auch wenn es zwischendurch hakt und knirscht: Weitermachen, wieder hineinhelfen, den Chor mitziehen! Wenn alle das Stück einmal komplett gelesen haben, startet man mit einem Erfolgserlebnis in die weitere Einstudierung und hat bereits ein Gefühl dafür, wie viel Arbeit auf einen zukommen wird. Idealerweise hat man auch schon eine Ahnung davon, wo die tollen und spannenden Stellen liegen, für die es sich lohnt zu proben! Nach dem ersten Durchlauf wird man sicherlich das Werk etwas auseinandernehmen und die Einzelteile durch die Mangel drehen müssen. Dazu einige Ideen:
Text weglassen: Um ein erstes Gefühl für die Musik und den Klang eines neuen Stückes zu bekommen, empfiehlt sich ein Einstieg ohne Text. Klangstücke probe ich gerne auf der Tonsilbe „lu“ oder „lo“, das ist entspannend zu singen, führt zu einer schnellen Klangverschmelzung und fördert von Anfang an einen guten Klangfluss (Linie/Legato). Rhythmische Stücke kann man gut auf der Tonsilbe „don“ proben, das gibt rhythmische Kontur und eignet sich besonders für schwungvolle und rasche Tempi. Manche Chöre üben Koloraturen effektiv auf die Tonsilben „ti-pe-ti-pe-tip“.
Töne weglassen: Umgekehrt kann man natürlich auch die Töne weglassen und den Text sprechen lassen. Dies eignet sich vor allem für homophone Stücke oder Abschnitte. Wichtig: Nicht darauflos „brabbeln“, sondern im Rhythmus sängerisch und gestützt sprechen. Das heißt, nicht zu tief sprechen, sondern mit derselben Energie wie beim Singen. Mit vollem Fokus auf den Text lassen sich viele Aspekte erarbeiten und festigen, die sich in der weiteren Einstudierung auszahlen:
- Rhythmus
- Aussprache des Textes (z. B. deutsches oder italienisches Latein, fremdsprachliche Texte, gutes Hochdeutsch, …)
- Absprachen, Zäsuren und Atemstellen
- gemeinsame Artikulation (z. B. „sind deine Wohnungen“ mit einem d oder „sind deine Wohnungen“ mit zwei d)
- Phrasierung (Wo liegt der Zielpunkt der Phrase?)
- Tempoveränderungen (accelerando, ritardando, rubato, …) mit vollem Fokus auf den Dirigenten
Rhythmische Vorübungen ausdenken, um komplexe Rhythmen sicherer zu bewältigen.
Schwierige Takte „loopen“: Schwierige Tonfolgen oder komplexe Rhythmen mit einer Stimmgruppe isoliert üben, indem man eine kurze Sequenz quasi „endlos“ wiederholt. Dabei den Puls absolut stabil halten! Faustregel: Lieber einmal mehr wiederholen, damit sich die Stelle richtig setzen kann und man nicht mehr nachdenken muss (unbewusstes Lernen, Muskelgedächtnis). Je selbstverständlicher es nachher klingt, desto besser!
Kurz und punktuell wiederholen: Der Mensch lernt und festigt das Gelernte über Nacht. Bei einem Probenwochenende wäre es also vertane Zeit, ein schwieriges Stück nur an einem von drei insgesamt Tagen zu proben: Lieber kurz und punktuell wiederholen, aber dafür an allen drei Tagen das Stück ins Gedächtnis rufen. Der Lerneffekt wird schneller, größer und nachhaltiger sein.
Stimmbildung: Chorische Stimmbildung endet nicht mit dem Einsingen! Bei schwierigen Stellen mit gezielten stimmtechnischen Hilfestellungen unterstützen. Auf eine gute Sitz- und Stehhaltung, gesundes Singen, Vokalausgleich und gute Registermodulation achten, dann werden die Sänger stimmlich nicht so schnell müde. Die Intonation wird ebenfalls davon profitieren. Das geht übrigens auch im Team: Der Chorleiter probt, der Stimmbildner steuert parallel stimmtechnische Tipps bei.
Das Thema herausarbeiten: Hat das Stück ein klares musikalisches Thema (z. B. in einer Fuge), sollte dieses zunächst mit allen in einer angenehmen Tonlage geübt werden, z. B. das Alt-Thema. Die detaillierte Arbeit an der Gestaltung des Themas wird sich dann in die anderen Stimmen übertragen.
Stimmen kombinieren: Nicht immer nur im Tutti oder nur in Einzelstimmen proben, sondern in sinnvollen Kombinationen: Stimmen, die parallel laufen oder sich harmonisch gut ergänzen. Ist der Chor geübter, können auch „fiese“ Kombinationen zu Übungszwecken sinnvoll sein: Stimmen, die dissonant zueinander klingen.
Interessante Akkorde aushören: Auf interessanten/schwierigen Akkorden stehen bleiben (Fermate) und die Harmonie aushören. Danach den Akkord einmal separat aufbauen, z. B. wie folgt: Erst den Grundton aushalten (immer chorisch nachatmen), dazu kommt die Quinte, dann die Terz, dann alle weiteren Akkorderweiterungen als nicht zu dominante Farbwerte. Wichtig: Beim Aushören nicht nur lossingen, sondern 50% singen (maximal mezzoforte!) und 50% hören. Wenn der Akkord mit guter Intonation und Balance dann sicher steht, die Stelle wieder im Zusammenhang proben und versuchen, den ausgehörten Akkord direkt in derselben Qualität zu erreichen.
Auf gute Balance achten: Ein guter Chorklang baut sich in aller Regel vom Bass her auf („Klangpyramide“), der durch klare und obertonreiche Tongebung die höheren Stimmen klanglich trägt. Liefert der Bass ein solides Fundament, können Tenor, Alt und Sopran entsprechend entspannter singen und ihre Intonation an den Obertönen der Bassstimme ausrichten. In der dur-moll-tonalen Harmonik führt der Grundton (sollte am präsentesten sein), dann kommen etwas leiser Quinte, Terz und weitere Akkorderweiterungen.
Tipp: Wenn eine Stelle einfach „nicht klingt“, liegt oft nur scheinbar ein Intonationsproblem vor – meist lässt sich durch verbesserte Balance der Klang entscheidend optimieren.
Auf gemeinsame Vokale achten: Für die Mehrzahl der Chorwerke ist ein einheitlicher und geschlossener Chorklang das Ideal, sodass die Einzelstimmen möglichst verschmelzen und nicht herauszuhören sind. Dabei ist wichtig, dass alle Sänger einheitlich vokalisieren, d. h. dass alle dieselbe Vokalfarbe haben, gerade auch in unbetonten oder Schlusssilben: „Leben“/„Lebön“/„Lebän“… Auf die feinen Unterschiede kommt es an! Außerdem sollen alle Sänger einer Stimmgruppe gleichmäßig zum gemeinsamen Klang beitragen: Nicht leiser oder lauter als der Nachbar singen.
Genre beachten: Ist das Stück a cappella? Dann kommt es besonders auf einen homogenen Klang, genaue Intonation und ein gutes Legato (Klangfluss) an. Ist das Stück chorsinfonisch, d. h. wird der Chor von einem Orchester begleitet? Dann ist eine akkurate Textbehandlung unerlässlich: Die Konsonanten müssen deutlich artikuliert und vor der Zeit gesprochen werden, damit die Vokale auf die Zeit klingen. Der Chor klingt sonst zu spät und wird als schleppend wahrgenommen.
Stimmung transportieren: Den emotionalen Gehalt des Textes/Stückes und die Haltung des Chores zum Stück von Anfang an mitproben. Ist der Affekt von Trauer oder Angst bestimmt? Hat das Stück einen lockeren und heiteren Charakter?
Aufeinander hören: Chorarbeit ist Teamwork! Als Einzelkämpfer kommt man im Ensemble nicht weit. Ohren auf – man kann es nicht oft genug betonen.
Reagieren statt verordnen
Jeder Mensch will gehört werden. Gehört zu werden, Gehör zu finden, ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Dieses Bedürfnis pausiert nicht, nur weil man zufällig gerade in einer Chorprobe sitzt. Also versuche ich, als Dirigent darauf zu achten, jeden Einzelnen nicht nur im Blick zu haben, sondern auch bewusst zu hören. Das erfordert natürlich etwas Übung. Aber meine Erfahrung zeigt eindeutig: Egal, wie versiert ein Chor ist – ich habe als Dirigent stets in dem Maße eine höhere Autorität vor dem Chor, wie meine Sänger spüren, dass sie von mir gehört werden. Dass nicht egal ist, was sie abliefern. Damit meine ich ehrliches Lob genauso wie sachliche Kritik. Es ist wichtig, dass sowohl Gutes honoriert als auch Schlechtes adressiert wird. Gehe ich auf das Gehörte ein, zeige ich: Ich höre Euch. Ihr seid mir wichtig.
Kommunikation
Es lohnt sich, die eigene Kommunikation mit dem Chor einer Prüfung zu unterziehen: Sind es Reaktionen auf das Gehörte oder eher Verordnungen und Anweisungen, vielleicht sogar zu einer Stelle, die noch gar nicht gesungen wurde?
Man vergleiche einmal die folgenden beiden Ansagen. Chorleiter A: „Der Übergang zu Takt zwölf ist immer ein Problem. Ich kenne keinen Chor, der das gut hinbekommt. Nicht schleppen an dieser Stelle!“ Chorleiterin B: „Ihr habt das Tempo gut gehalten bis Takt elf, vielen Dank. Danach müssen wir aber schauen, dass wir denselben Schwung auch nach dem Übergang beibehalten und in Takt zwölf gemeinsam nach vorn musizieren.“ Oder ein anderes Beispiel, Chorleiter A: „Die Phrase geht auf das Wort ‚flüstern’ zu. Bitte phrasieren!“ Chorleiterin B: „Mir gefiel die geheimnisvolle Stimmung, die wir im letzten Durchgang erreicht haben. Sehr gut! Können wir jetzt bitte noch mehr zum Wort ‚flüstern’ hin phrasieren?“ Beide Chorleiter erkennen jeweils dasselbe Problem, formulieren ihre Kritik aber völlig unterschiedlich – zugegeben, etwas überspitzt dargestellt. Nicht nur formuliert Chorleiterin B ihre Kritik zugewandter und motivierender. Vor allem geht sie aber im ersten Teil ihrer Ansage jeweils auf das Gehörte ein, sie beschreibt ihren Höreindruck und signalisiert so, dass sie mit den Ohren bei ihren Sängern war. Sie wirkt dann freundlich, aber bestimmt auf das Gehörte ein und verbessert den gewünschten Parameter. Ich bin mir sicher, dass
ein Chor lieber mit Chorleiterin B zusammenarbeitet, weil sie ihre Kritik geschickt mit Lob mischt und statt vorgefertigter Phrasen auf das Gehörte reagiert.
Fehler, Durststrecken und andere Unwägbarkeiten
Nicht immer läuft alles wie geplant: Der Probenplan geht nicht auf, weil der Chor deutlich langsamer (oder schneller) lernt als gedacht. Oder man zweifelt auf halber Strecke, ob man wirklich das richtige Stück ausgewählt hat, da der Chor sich die Zähne daran ausbeißt und kaum vorankommt. Es gehen einem langsam die Mittel aus, weil ein schwieriger Übergang einfach nicht gelingen will… Solche Durststrecken kennt jeder Chorleiter. Sie sind frustrierend und entmutigend. In solchen Phasen versuche ich mich besonders daran zu erinnern, dass ich meinen Sängern ein Vorbild bin, auch und gerade was Durchhaltevermögen und Motivation betrifft. Es ist ein Paradox: In diesen Phasen, wenn einen als Chorleiter der Mut zu verlassen droht, muss man ganz besonders viel Mut, Motivation und Optimismus ausstrahlen. Dieser emotionale Spagat ist enorm kräftezehrend und kann daher nur vorübergehend durchgehalten werden. Meist reguliert sich die Situation aber, wenn man beharrlich und optimistisch probt und geduldig Lösungswege aufzeigt. In aller Regel lohnt sich das Durchhalten und es geht wieder aufwärts.
Fehlerkultur
Dabei zeigt sich, dass der konstruktive Umgang mit Fehlern (falschen Tönen, falschen Absprachen etc.) eine große Rolle in der Arbeit mir dem Chor spielt. Gerade am Anfang des Einstudierungsprozesses, wenn die Töne noch nicht gefestigt sind, ermutige ich meine Sänger, lieber „laut und falsch“ zu singen, als sich vornehm zurückzuhalten und nobel vor sich hinzusäuseln. Im ersten Fall habe ich etwas Handfestes, womit ich arbeiten und was ich im Zweifelsfall korrigieren kann, damit kommt man schneller ans Ziel. Fehler in der Probe sind wichtig und durch sie entwickelt man sich weiter. Ich bemühe mich immer, Fehler klar und sachlich zu adressieren, dabei aber nicht persönlich zu werden oder in Schuldzuweisungen zu verfallen. Eine gesunde Fehlerkultur zu entwickeln, ist etwas sehr Erstrebenswertes für Chöre. Vor allem im englischen Sprachraum praktizieren manche Chöre z. B. folgendes Modell: Wer einen falschen Ton singt und es selbst bemerkt, meldet sich kurz und unauffällig direkt danach per Handzeichen. So weiß der Chorleiter, dass der betreffende Sänger selbst um seinen Fehler weiß und ihn vermutlich beim nächsten Mal selbst korrigieren wird. Die Probe muss so nicht unterbrochen werden.
Pläne sind dazu da, über den Haufen geworfen zu werden…
Die wenigsten Proben im wahren Leben laufen genau wie auf dem Papier vorausgeplant. Um den möglichen Unwägbarkeiten zu begegnen, neige ich inzwischen dazu, mich nicht mehr minutiös auf meine Proben vorzubereiten und einen detaillierten Verlaufsplan anzufertigen (wie das teilweise und zurecht in Prüfungen verlangt wird). Vielmehr überlege ich mir ein grobes Zeitraster mit Puffern und schreibe mir diesen Zeitplan auch auf, inklusive ausreichender Pausenzeiten zur Erholung. Der Zeitplan ist mein roter Faden, der mir zu jedem Zeitpunkt während der Probe sagt, ob ich das Pensum beim aktuellen Probentempo noch schaffen werde oder ob ich mich etwas beeilen bzw. umdisponieren muss. Die zu probenden Stücke muss ich natürlich vorher gründlich studiert haben, das ist klar. Aber so bin ich wesentlich flexibler und kann auch auf Nachfragen/Wünsche aus dem Chor besser reagieren, z. B. eine Stelle einmal mehr wiederholen, bis sie wirklich sitzt. Ich fühle mich mehr im Moment und im Kontakt mit dem Chor, als nur Sklave meines eigenen Konzeptes zu sein. Ich kann aktiver zuhören und besser auf das Gehörte reagieren.
Austausch mit Kollegen
Für die Praxis würde ich mir wünschen, dass wir Chorleiter uns untereinander mehr über Fragen rund um die Probenmethodik austauschen. Lasst uns mehr darüber sprechen, was gelingt, was nicht, und warum. Ich selbst habe viel gelernt durch eigenes Mitsingen oder Hospitieren bei erfahrenen Dirigenten. Wir sollten uns mehr trauen, Kollegen in unsere Proben einzuladen und methodische Fragen gemeinsam zu diskutieren – wir sitzen schließlich alle im selben Boot. Wenn dazu das SINGEN-Schwerpunktthema Probenmethodik beitragen könnte und wir bewusster mit dem Thema umgehen, wird das sicherlich Früchte in der Chorlandschaft tragen und zu umso schöneren musikalischen Ergebnissen führen.
Nur Mut!
Benjamin Hartmann
* Die Bezeichnungen Trainer, Sänger, Chorleiter, Dirigent etc. werden im Folgenden aus Gründen der besseren Lesbarkeit in der männlichen Form verwendet. Frauen sind selbstverständlich genauso mitgemeint!