Warum man Fußball und Chorsingen nicht vergleichen sollte.
Und warum es trotzdem sinnvoll ist, es zu tun.
Liebe Leserinnen und Leser der SINGEN,
Hinter uns liegt wieder einmal eine Weltmeisterschaft, zwar nicht ganz so erfolgreich wie 2014, aber immerhin, wieder eine Weltmeisterschaft. Die Zahl der Bundestrainer wuchs im Juni 2018 plötzlich auf eine hohe, zweistellige Millionensumme und jeder hatte irgendwie irgendwas zu sagen. Und selbst die Fußballmuffel unter uns wussten – gewollt oder ungewollt – immer, was los war.Auch in meinen Chören war Fußball im vergangenen Juni oft Thema, ob in der Pause oder auch in der Probe selbst. Alle zwei bis vier Jahre – also passend zu EM und WM – frage ich mich, warum das so ist, und warum der Fußball gesellschaftlich eine so große Rolle spielt.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde es toll, wenn ein Land sich mit etwas gemeinsamem identifiziert und sich Menschen zum Fußballschauen treffen, auch diejenigen, die sonst keine Länder- oder Ligaspiele sehen. Aber es wundert mich schon…
Genauso geht es mir mit anderen Hobbys, zum Beispiel Schach. Jede Woche ist in meiner Tageszeitung ein Schachspiel zum Zuhause nachspielen abgedruckt. Eigentlich jeder Schachspieler kennt die großen Züge, Eröffnungen und Mattwendungen der Geschichte. Wie jeder Fußballer die Endspieltore oder besondere Konter zitieren kann. Ich finde das großartig, denn das ist, was diese Gemeinschaften eint, sie haben eine gemeinsame Geschichte und können sich damit identifizieren.
Warum verhält es sich im Chor anders?
Nun blutet mir an dieser Stelle das Dirigentenherz. Genau das, diese Begeisterung, fehlt mir in unserer Chorszene, ein gemeinsames Repertoire und eine schlaglichtartige Kenntnis unserer Musikgeschichte. Ich habe leider noch nie einen Chorsänger über die Verar-
beitung des Chorals „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ in Mendelssohns Paulus-Ouvertüre schwärmen hören. Dafür aber viel zu oft über das (zugegebenermaßen überfällige und ruhmreiche) Götze-Tor 2014 gegen Argentinien. Jeder Fußballer weiß, wie die Ligatabelle der ersten Bundesliga aussieht und was sich noch tun könnte. Hand aufs Herz: wissen Sie, wer den Deutschen Chorwettbewerb 2018 gewonnen hat?
Wettbewerbe sind normal und wichtig
Selbst Amateur-Sportvereine messen sich regelmäßig, in Turnieren, Wettbewerben und Leistungsspielen. So wie ich es überblicke, ist die Teilnahme von Amateurchören an Wettbewerben wie dem Carl-Friedrich-Zelter-Wettbewerb eher überschaubar. Was mich aber noch mehr erschreckt: ein Sportler befasst sich während der Saison so gut wie jedes Wochenende mit seinem Hobby, sei es auf dem Platz auf der Tribüne oder zumindest in den Medien. Aber für Chorsänger ist es bisweilen schon zu viel verlangt, alle zwei Jahre ein Wochenende zum Wettbewerb zu gehen – sicher neben vielen Auftritten bei Festen oder Geburtstagen. Dennoch, es erschließt sich mir nicht ganz, warum das eine geht, das andere nicht.
Was ist mir mein Hobby wert
Ich habe Freunde und Bekannte, die sich für horrende Summen Stadionkarten kaufen, von Württemberg bis nach Dortmund oder Hamburg fahren und ein Hotelzimmer mieten um ihren Verein spielen zu sehen. Nur die wenigsten Chorsänger aber – so ist zumindest meine Beobachtung – gehen von Zeit zu Zeit in Konzerte semiprofessioneller und professioneller Chöre und Orchester, obwohl diese Veranstaltungen wahrscheinlich um einiges günstiger, näher und weniger aufwändig in der Organisation sind. Wir leisten uns mit unseren Rundfunkbeiträgen (Gott sei Dank!) Spitzenensembles, die so professionell Musik machen, dass man sogar Proben für CD-Aufnahmen mitschneidet. Ensembles, die so leistungsfähig sind wie kein Amateurchor der Welt. Doch nur die wenigsten gehen hin oder hören sich Sendungen wie zum Beispiel auch Vocals on Air an. Auch das entzieht sich meines Verständnisses.
Warum ist das so?
Nun, zunächst einmal muss man konstatieren, dass die Arbeit im Chor viel weniger bis gar nicht wettbewerbsorientiert ist. Das heißt, es gibt in der Regel (Chorwettbewerbe ausgenommen) keinen eindeutigen „Gewinner“. Das widerspricht dem Konzept des „homo ludens“ und macht es gesellschaftlich leider nicht einfacher, Chorsingen auf die gleiche Ebene wie den Sport zu heben. Auch der „Erfolg“ chorischer Arbeit ist nicht
einfach zu messen, da selbst vermeintlich objektivierbare Kriterien wie Intonation, Deklamation, Aufführungspraxis und Choreographie nicht direkt messbar sind und unmittelbar subjektiv bewertet werden.
Das macht es schwierig bis unmöglich, Chöre in einer Liga singen zu lassen oder mit einem Chor „mitzufiebern“, wenn es um den Klassenerhalt geht. Nebenbei bemerkt hielte ich das auch nicht für sinnvoll. Es erklärt nur (ansatzweise), warum Sport anders funktioniert als Chor.
Weiterhin ist (Chor-)Musik ein mehr oder weniger chiffriertes Hobby. Unerlässlich für das Hobby sind also Kenntnis von Notenwerten, musikalischen Grundbegriffen und Orientierung im Notenbild (n. B. bewusst lasse ich hier das Spielen eines Instrumentes und Vom-Blatt-Singen aus). Darüber hinaus wäre ein gewisses Vorwissen zur musikwissenschaftlichen und musikhistorischen Einordnung hilfreich und wünschenswert. Es scheint aber, dass bei vielen Chorsängern nicht einmal das Handwerkszeug ausreichend vorhanden ist. Woran das liegt,
kann ich nicht ganz nachvollziehen. Selbst wenn dieses Basiswissen nicht in der Schule vermittelt worden ist, müsste es doch mit einigen Jahren Chorerfahrung möglich sein, eine halbe Note von einer Achtel zu unterscheiden und einfache rhythmische Strukturen zu begreifen oder den dritten Schlag eines Taktes zu verorten, um einen Konsonanten abzusprechen. Geschweige denn einfache, musikalische Grundbegriffe wie „crescendo“, „legato“, „Da Capo“ oder Wiederholungszeichen zu verstehen.
Im Fußball ist doch jedem Spieler völlig klar,wo das Mittelfeld, der „Sechzehner“ und das gegnerische Tor sind, darüber hinaus weiß jeder, was Abseits ist und wann der Schiedsrichter einen Eck- oder Strafstoß pfeifen sollte. Jeder Schachspieler muss doch wissen, wie er den Läufer oder den Turm bewegen darf; eine provokante Frage: kann jeder, der das hier gerade liest, einen Moll-Dreiklang abwärts singen? Offensichtlich ist Grundwissen für den Sport Grundvoraussetzung, in der Chorarbeit dagegen ein tolles Plus… Verdrehte Welt? Ich habe Chorsänger für 30, 40, 50 Jahre Chorsingen ausgezeichnet, die mir mit stolzgeschwellter Brust erklärten, dass sie keine Noten können. Kein Kommentar.
Oft beobachte ich, wie eine Stimme kollektiv in den Stand-by-Modus geht, wenn beispielsweise ein Register (auch ein wichtiger Grundbegriff!) alleine beprobt werden muss. Da kommt das Smartphone hoch, früher wurde auch dann und wann gestrickt oder es wird sich gern unterhalten. Primär finde ich das zwar nicht verwerflich, jeder Chorleiter muss das für sich selbst entscheiden. Allerdings – und darauf will ich hinaus –
hemmt es die Arbeit im Chor. Anstatt die „freie“ Zeit zu nutzen, um sich mit der gerade probenden Stimme vertraut zu machen, die geprobten Dinge auf die eigene Stimme zu transferieren, Einsatztöne oder rhythmische Strukturen zu erkennen oder einfach nur mit wachen Ohren aufmerksam zu sein, wird die Zeit nicht gut genutzt. Schlimmer ist nur noch die Aufgabe des Chorleiters, die entstandene Un-Aufmerksamkeit wieder in eine Arbeitsatmosphäre zu lenken. Ich denke, kein Torwart der Welt würde auch nur im Training Strickzeug auspacken, weil er gera-de nicht akut gebraucht wird, da die Stürmer am anderen Ende des Spielfelds am Ball sind.
„Ich kann aber keine Noten“
Das allerschlimmste ist nicht, dass man keine Noten kann, was auch immer „Noten können“ heißt. Diese Aussage aber dauerhaft als Schild oder Ausrede zu missbrauchen, kann und will ich nicht hinnehmen. Noten nicht benennen zu können heißt noch lange nicht, sich nicht das musikalische Handwerkszeug aneignen zu können. Da fehlt es aber vielen an Eigeninitiative und vor allem am Mut, dieses „Manko“ anzuerkennen und es beheben zu wollen, was im 21. Jahrhundert sogar vom heimischen Schreibtisch aus machbar oder mit einem halben Jahr Instrumentalunterricht leicht aufzuholen wäre.
Das Geld, das liebe Geld
In allerletzter Instanz manifestiert sich das Ungleichgewicht auch in allen finanziellen Fragen, die das Chorsingen mit sich bringt. Machen Sie für sich folgendes Experiment: vergleichen Sie die Mitgliedsbeiträge von fünf Sportvereinen und fünf Chören. Chorsingen darf offensichtlich eben nichts kosten.
Viele Vereine und selbst große Chorverbände streiten sich aufs Blut, wenn der jährliche Mitgliedsbeitrag von 10 auf 15 Euro er-
höht werden soll. Wo leben wir denn? Haben wir nichts mehr zu essen, wenn wir fünf Euro mehr im Jahr zahlen müssen… Jeder Sportler muss für sein Equipment zahlen, Tennisschläger, Fußballschuhe, Klettergurte etc. gehen meist auf die eigene Rechnung. Ich kenne Chorsänger, die nicht einmal ihren Klavierauszug kaufen wollen, mit der Ausrede, er stünde nach dem Projekt sowieso nur herum. Dass der Klavierauszug davor für ein halbes Jahr Probenarbeit nötig wäre, scheint hier vernachlässigt worden zu sein. Ich wage zu bewzeifeln, dass ein Tennisspieler auf die Idee käme, dem Trainer zu sagen, dass er keinen Schläger kaufen will. Hier wiederum: warum geht das eine, das andere nicht?
Sie sehen, Fragen über Fragen, Schlaglichter, Thesen, Temperament. Hier gebe ich auf und hisse die weiße Flagge. Ich weiß nicht, woran es liegt. Können Sie es mir sagen?