Das Alter muss für einen Menschen nicht das Ende des Chorsingens bedeuten. Es heißt nur, dass man sich wie in jedem Alter gut um sich und seine Stimme kümmern muss.
Das Thema der älteren Singstimme ist von zunehmender Bedeutung in der Chorlandschaft. Ob in gemischten Chören, Männergesangvereinen oder Frauenchören, Kirchenchören und Singgruppen – überall finden sich Menschen mit reiferen Stimmen. In den vergangenen Jahren zeichnet sich erfreulicherweise eine immer größer werdende Popularität des gemeinsamen Singens ab und schnell kommt die Frage auf: Kann da eine älter gewordene Stimme überhaupt mithalten? Häufig trifft man dabei auf Vorurteile und Selbsteinschätzungen wie „Ein älterer Mensch kann nicht mehr im Chor mitsingen“ oder „Dafür bin ich zu alt und ich kann nicht mehr so singen wie früher“.
Ist es denn wirklich so, dass Menschen in einem „gewissen Alter“ nicht mehr singfähig sind? Muss das – teils auch selbst verordnete –
Aussortieren zwangsläufig erfolgen oder gibt es Mittel und Wege, Sänger und Sängerinnen mit reiferen Stimmen in den Chören zu halten?
Was heißt denn das eigentlich „im Chor singen“?
Jeder, der im Chor singt oder einen Chor leitet, hat die Erfahrung gemacht: Chorsingen ist weit mehr als nur gemeinsames Singen und Konzertieren. Über die musikalische Erarbeitung und das Erleben von Musik hinaus werden ganz andere und ebenso wichtige soziale Funktionen abgedeckt. Zwischenmenschlicher Austausch, Verantwortung für sich und in der Gruppe, Leistungsbereitschaft, Engagement und der Wille, sich gemeinschaftlicher einer Aufgabe zu widmen, können hier beispielhaft genannt werden. Vor allem für ältere Menschen, die schon nicht mehr im Beruf stehen, sind diese Aspekte von großer Bedeutung.
Der Prozess des Älterwerdens
Das normale Altern definiert sich über ein Nachlassen der Leistungsfähigkeit in gleich mehreren Aspekten. Gemeint sind damit die drei Bereiche Sinne (Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen, Tasten), Körper (Beweglichkeit, Kraft, Fingerfertigkeit) und geistige Fähigkeiten (z.B. Informationsverarbeitung, Koordination, Reaktion, Erinnerungsvermögen). Diese gemeinsam auftretenden altersbedingten Beeinträchtigungen werden als polymodale Einschränkungen bezeichnet. Jeder Mensch erlebt irgendwann diese altersbedingte Einschränkungen, allerdings ist der Prozess sehr individuell und stark abhängig davon, wie der körperliche und mentale Gesamtzustand eines Menschen ist. Fast jeder kennt im Freundes- oder Bekanntenkreis die Über-Achtzigjährigen, die gesundheitlich und im Kopf fit sind und mit vollem Elan und Freude im Leben stehen. Für die Chorarbeit ist die Kenntnis über diese Abläufe nicht nur für die Chorleitenden, sondern auch für die Sänger und Sängerinnen wichtig, um eine klare Einschätzung der (eigenen) Leistungsfähigkeit ermöglichen zu können.
Die älter werdende Singstimme
Das Älterwerden hat mit den individuell nachlassenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten Einfluss auf die Singstimme. Schlechtere Durchblutung, geringerer Muskeltonus, trockenere Schleimhäute, Verknöcherungen z.B. des Kehlkopfes – all das kann das Singen erschweren. Der Körper kann die für das Singen so notwendige Körperspannung weniger gut aufbauen und halten. Die Sänger und Sängerinnen brauchen häufiger Pausen. Das Atemvolumen und der Atemimpuls nimmt ab, wodurch sich die Tonhaltedauer verkürzt. Durch Veränderungen des Ansatzrohres und der Resonanzräume sowie trockenere Schleimhäute kann die Stimme weniger flexibel werden: Timbre und Intonationsfähigkeit ändern oder verschlechtern sich und die Geläufigkeit der Stimme nimmt ab.
Die häufigste Einschränkung, die Sänger und Sängerinnen selbst bemerken, ist der geringere Stimmumfang. Bei den Damen verliert sich oft die Höhe und die Stimme wird tiefer (Virilisierung). Bei den Herren ist es eher umgekehrt: die tieferen Töne können nicht mehr gut gesungen werden. Die Stimme von älteren Menschen kann zittrig und wackelig klingen (Tremolo) und der Registerbruch ist deutlicher hörbar. In meiner eigenen Arbeit als Chorleiterin und chorische Stimmbildnerin, die sich auf die erwachsene Singstimme spezialisiert hat, erlebe ich immer wieder, dass die Sänger und Sängerinnen eine ungünstige Meinung über die eigene Stimmleistung haben („Das kann ich ja nicht mehr“ oder „Dafür bin ich zu alt“). Von den Chorleitenden selbst kommt des öfteren eine ähnliche Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit der älteren Stimme. Selbst wenn auf beiden Seiten Interesse am gemeinsamen Singen besteht, verbauen solche Ansich-
ten die Chance auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit im Chor.
Chorarbeit mit älteren Stimmen
Erfolgreiche Chorarbeit mit älteren Stimmen ist selbstverständlich möglich! Die sorgsame und kenntnisreiche Anleitung durch den Chorleiter kann einiges bewirken. Ebenso ist es von Bedeutung, die Sänger und Sängerinnen über die Veränderungen der Singstimme im Alter zu informieren. Beide Seiten können so genauer abschätzen, welche Möglichkeiten im Chorgesang gegeben sind und was zu beachten ist. Auf Basis dieser Wissensgrundlage, die in der Praxis immer wieder überprüft und adaptiert werden muss, können Chöre mit älteren Sängern und Sängerinnen nach wie vor viel leisten.
Chancen der Stimmbildung
Die regelmäßige Chorstimmbildung und -pflege steht sicher für ältere Stimmen an vorderster Front und darf keinesfalls mit dem bloßen Einsingen abgetan werden. Während der ganzen Probe ist darauf zu achten, immer wieder kleine Übungen einfließen zu lassen, die auf die Bedürfnisse der älteren Singstimme angepasst sind. Eine kontinuierliche Stimmarbeit kann die ältere Stimme erhalten, pflegen und unter Umständen sogar wieder aufbauen.
Erfreulicherweise findet sich für Chorleiter wie auch für Sänger in der einschlägigen Fachliteratur immer mehr Material über Stimmübungen und passendes Repertoire für ältere Stimmen. Auch Fortbildungen bezüglich der Pflege der älteren Stimme sind nicht nur beim Vorreiter SCV im Angebot. Nach meiner Erfahrung ist hier vor allem wichtig, die vorgeschlagenen Übungen auf die Übertragbarkeit auf den eigenen Chor bzw. die eigene Stimme zu überprüfen und sich bei Bedarf zusätzlich Hilfe von z.B. externen Stimmbildnern u holen.
Rahmenbedingungen
So wichtig die Stimmbildung ist – häufig wird ein ganz wichtiger Faktor vergessen: Die Rahmenbedingungen, unter denen eine erfolg-
reiche Chorarbeit mit älteren Sängern und Sängerinnen stattfinden kann. Wie ist der Probenort zu erreichen? Ist für genug Beleuchtung
gesorgt und sind die Noten ausreichend gut zu sehen? Ist das Probentempo zu schnell mit zu wenig Pausen (Überforderung) oder zu langsam (Unterforderung)? Was will ich mit dem Chor und was will der Chor selber erreichen (Repertoireauswahl, Auftritte, Chorform)? Was ist mit den Chormitgliedern, die auf Hörgeräte angewiesen sind? Für jeden Chorleitenden und auch die Chorvorstände sollte die Beantwortung solcher oder ähnlicher Fragen wichtig sein, um ältere Sänger und Sängerinnen in die Chorarbeit einbeziehen und halten zu können.
Gemeinsam im Chor – wachsen, reifen, älterwerden
Chorarbeit ist in jedem Alter möglich. Mit dem entsprechenden Wissen und Handlungsstrategien kann viel geleistet und bewirkt werden. In der Gemeinschaft nicht nur die Musik, sondern auch darüber hinaus etwas zu bewegen, zu integrieren und zu fördern ist besonders im Hinblick auf die Gentrifizierung unserer heutigen Gesellschaft von großer Bedeutung. Älteren Sängern und Sängerinnen diese Möglichkeit zu bieten, sich im Chor mit anderen zu bestätigen, ist ein äußerst wichtiges Ziel, denn: Singen im Alter? – aber ja!
Ein Chorbuch für ins Alter gekommene Chöre, die gerne Klassiker der Vokalmusik noch singen möchten, aber teilweise einen zu dünnen Sopran haben, der nicht mehr hochkommt, einen wackeligen Alt besitzen und und nur noch aus Bässen bestehen, weil die Tenöre weggestorben sind?
Sie sagen sich bestimmt, so ein Buch gibt es nicht! Aber es gibt es:
„Weitersingen!“ ist das Chorbuch, das den altgewordenen Chören als umfassender Kanon dienen kann. Mehr als 100 Chorsätze umfasst das für SAM und teilweise SATB-gemischte Chöre geschriebene Werk in einem leserfreundlichen Großdruck.
Für Chorleiter ist das Buch ein Ratgeber mit umfassender Einleitung zum Thema Singen im Alter. Besonders die praxisnahen Workshops zur Stimmbildung mit älteren Sängerinnen und Sängern macht diese Publikation zu einem empfehlenswerten Lehrbuch. Auch die leicht spielbaren Klaviersätze sind schnell und leicht zu erlernen. Ebenso auch die Chorsätze, die sich in einer moderaten Probezeit einstudieren lassen und welche durch eine mittlere Stimmlage und übersichtliche rhythmische Anforderungen leicht singbar sind.
Die Herausgeber Peter Ammer, Klaus Brecht, Dieter Leibold und Alfons Scheirle sind erfahrene Chorleiter im Fachbereich Ältere Stimme und haben Chorsätze zusammengetragen, die den geistlichen und weltlichen Bereich abdecken, wobei geistliche und volkstümliche Melodien den Stamm des Buches bilden. Tipps zur Organisation und Aufbau eines Seniorenchores und generell zur Chorarbeit runden das Weiterbildungsangebot des Buches ab. Dadurch wird es zu einer Art Pflichtlektüre für Chorleiter eingefahrener Chöre mit älteren Stimme.
Highlight des Buches ist die Begleit-CD mit 22 Einspielungen von Chorsätzen aus dem Buch mit renommierten Ensembles wie dem Kammerchor Stuttgart, dem Tritonus-Kammerchor, dem Dresdner Kammerchor, dem SWR Vokalensemble oder dem Wiener Kammerchor.
Wir singen in jungen Jahren anders, als wenn wir älter sind. Weitersingen! ist für Chöre mit älteren Sängerinnen und Sängern und deren ältergewordenen Stimmen die richtige Literatur, da sie sich speziell mit den Bedürfnissen der Älteren Stimme beschäftigt und das Singen im Alter begleitet. Das Buch ist im Carus-Verlag erschienen.
Katrin Heimsch