Der Chor der Stuttgarter Vesperkirche schlägt eigene Töne an und bewegt damit Menschen
„Rahmenlos und frei“ seien sie, befand eine Sängerin der ersten Stunde über den Chor, der 2010 mit Gästen der Stuttgarter Vesperkirche gegründet wurde. Der Name blieb hängen. Den musikalischen Rahmen gestaltet seit 2011 Chorleiter Patrick Bopp.
„You may say, I´m a dreamer“, klingt der Refrain von John Lennons „Imagine“ durch den großen Saal der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart. „rahmenlos und frei“, der Chor der Vesperkirche, probt für seinen großen Auftritt Ende Februar. Im Halbkreis haben sich rund 20 Frauen und Männer um Chorleiter Patrick Bopp am Klavier geschart.
Doch etwas ist ungewöhnlich bei dieser Chorprobe: Es gibt nur Textblätter. Notenkenntnisse braucht man nicht. Gesungen wird nach Gehör. „Die tiefen Stimmen könnten das hier dazu machen“, singt Bopp eine Basslinie vor. Auch für die hohen Stimmen hat er einen Vorschlag. Allmählich entsteht der Chorsatz, begleitet von Klavier und E-Bass. Auch eine Trompete liegt bereit. Bei Konzerten sorgt eine Band für den musikalischen Hintergrund des Chores.
Basisdemokratisches Programm
Das Repertoire wird basisdemokratisch bestimmt: „Einmal im Jahr machen die Mitglieder des Chores Vorschläge. Die sortiere ich dann und überlege, was man wie umsetzen kann“, erklärt Patrick Bopp. Er ist ein gestandener Profi, hat Klavier, Chor- und Ensembleleitung an der Stuttgarter Musikhochschule studiert, leitet mehrere Chöre und ist Mitglieder der A-cappella-Formation füenf.
Zu dem Kirchenchor der etwas anderen Art kam der Chorleiter durch Ralf Püpcke, seit 2004 Kulturmanager der Vesperkirche und einer der „Väter“ des Chorprojekts. Außerdem spielt er Schlagzeug in der Begleitband des Chors. „Bemerkenswert ist, dass sich die Vesperkirchengäste für ihre Vesperkirche engagieren und aktiv selbst Musik machen“, sagt er über die Sangesschar, die im ersten Jahr noch von Roland Baisch geleitet wurde, weil der neue Chor nicht mehr in Bopps Terminplan zu quetschen war.
Gäste werden als Sänger aktiv
25 feste Mitglieder stimmen bei „rahmenlos und frei“ mit ein, 15 von ihnen sind von Anfang an dabei. Christian zum Beispiel. „Am Anfang hatten wir vier Lieder“, erinnert er sich. „Und gleich beim ersten Auftritt, am Dankabend für die Mitarbeitenden, kam das Fernsehen.“ Seither ist Christian bekannt für sein Lieblingslied, die Caprifischer, in dem er einen Solopart hat.
Zu den Sängerinnen und Sängern zählen vorwiegend Gäste der Vesperkirche, aber auch Mitglieder des Helferteams und solche, die dem Charme der ungewöhnlichen Formation bei einem ihrer Konzerte erlegen sind. Gabi Glaßmann singt seit einem Jahr mit: „Ich habe den Chor letztes Jahr in der Vesperkirche gehört. Ich wäre am liebsten auf die Bühne gesprungen“, erzählt sie von ihrem mitreißende Erlebnis. Seit 1979 ist sie in der Stuttgarter Chorszene aktiv. Nun hat sie eine neue musikalische Heimat gefunden.
Mit Gefühl
Gesungen wird alles, was Spaß macht. Gefühle und Sehnsüchte, verpackt in Pop, Rock, Schlager. Nicht immer perfekt. Nicht immer in reiner Harmonie. Aber dafür stark, ehrlich, authentisch. Mit Dreck unter den Fingernägeln der Seele. „Die Zuhörer sind meistens begeistert, weil sie sich berühren lassen von dieser Art des Singens“, beschreibt Chorleiter Bopp.
Und die Art des Singens ist keineswegs ohne musikalischen Anspruch. Gesungen wird oft mit Solostellen. Talente kommen zum Vorschein. Der eine hat den kratzigen Blues in der Stimme, der andere den Schmelz der Operette. Etwa fünf bis sechs neue Lieder werden jedes Jahr einstudiert, ebenso viele Repertoirestücke wiederholt. Zu den Evergreens des Chores zählen „Sailing“ von Rod Stewart und „Halleluja“ von Leonard Cohen. Mittlerweile probt der Chor nicht nur zur Vesperkirchenzeit sondern ganzjährig. Seit 2017 ist ein zweiter Chorleiter mit an Bord, der einspringt, wenn Patrick Bopp mal andere Verpflichtungen hat.
Gefragt und ausgezeichnet
Seit seiner Gründung ist der Chor auch außerhalb der Vesperkirche aufgetreten: im Landtag, beim Tag der deutschen Einheit in Stuttgart und im ausverkauften Theaterhaus bei der Benefizshow „Nacht der Lieder“. Und bei den Evangelische Kirchentagen: Stuttgart 2015, Berlin 2017. Dortmund 2019 ist schon geplant.
„Es muss passen“, sagt Patrick Bopp zu den Auftritten seiner Truppe. Vor unbekanntem Publikum schickt er immer einige Worte zur Geschichte des Ensembles voraus. Der Chorleiter erinnert sich noch gut an die Auszeichnung von „rahmenlos und frei“ mit dem Bürgerpreis in der Sparte Kultur. „Das war 2011 im Porsche Museum. Ein interessanter Gegensatz.“ Straße trifft Luxuskarosse.
Nahrung für Leib und Seele
Jeden Sonntag um 16 Uhr spielen in der Vesperkirche bekannte und nicht ganz so bekannte Künstler für ein Publikum, das sich aus Gästen, Helfern und einfach Musikinteressierten zusammensetzt. Der Eintritt ist frei, Spenden sind erwünscht. Wenn „rahmenlos und frei“ auf der Bühne steht, darf auch das Publikum mal mit einstimmen. Glänzende Augen garantiert. Oder wie Patrick Bopp sagt: „Jeder bringt seinen Schatz mit und dann machen wir was draus.“