Hinter hohen Mauern: Chorsingen in der JVA Schwäbisch Gmünd
Einmal in der Woche gibt Gundhild Tost Handy und Personalausweis ab, um sich hinter hohe Mauern und verschlossene Türen zu begeben. Seit gut zweieinhalb Jahren leitet sie den „Frauenchor Gotteszell“. Geprobt wird in einer Kirche, doch dieser Chor ist etwas Besonderes, denn er gehört zur Justizvollzugsanstalt Schwäbisch Gmünd, einem reinen Frauengefängnis. Chorsingen im Strafvollzug: zwischen Gefängnisroutine, Aufarbeitung und Freude. Eine Momentaufnahme.
Dieser Chor gleicht einem Polaroidfoto. Eines, dass gerade aufgenommen wurde und noch nicht verblasst ist. Ein leicht verwaschenes Bild, das nur ein Versuch ist. Der Versuch, den Moment festzuhalten. Wenn Gundhild Tost von ihrer Arbeit als Chorleiterin in der JVA Gotteszell spricht, wird eines sofort klar: Das hier und jetzt ist entscheidend. Seit Juni 2016 hat Tost eine feste Routine. Immer freitags um halb fünf fährt sie zur JVA, begrüßt die Torwache, gibt ihre persönlichen Gegenstände ab und geht mit ihren Noten unter dem Arm durch drei Schleusentüren, bis sie auf dem Hof der Anstalt steht. „Eigentlich“, sagt Gundhild Tost, „ist alles anders als in einem gewöhnlichen Chor.“ Die 60-Jährige ist eine erfahrene Chorleiterin. In den letzten 40 Jahren hat sie schon Kinder-, Jugend-,mKirchen-, Männer- und gemischte Chöre geleitet. „Nur gute Chorleitung reicht hier nicht. Auch die pädagogischen Fähigkeiten müssen sehr gut ausgebildet sein. Ich brauche ein Gefühl dafür, wie
lange ich die Leine lassen kann, wo ich die Grenze setzen muss und vor allem muss ich mich als Person ganz klar darstellen, damit ich ernst genommen werde.“ Gundhild Tost ist gelernte Erzieherin, Musikpädagogin und war eine Zeit lang als Verfahrenspflegerin in Kindschaftssachen aktiv. Ein Werdegang, der ihr auch bei der Arbeit in der JVA hilft. Aktuell besteht der Chor aus 18 Sängerinnen zwischen Mitte 20 und Mitte 70.
Augenblicksammler
„Ein großer Unterschied zur Arbeit in der JVA: Es ist nur sehr begrenzte konstante Arbeit möglich, weil sich ein ständiger Wechsel vollzieht“, erklärt die Chorleiterin. Ihre Arbeit ist dem Gefängnisalltag untergeordnet. Frauen werden entlassen, neue kommen hinzu, nach aktuellem Stand ist heute keine Frau aus dem anfänglichen Chor von 2016 mehr da. Das verlangt Flexibilität und Geduld. „Ich kann auf keine Repertoirekenntnisse aufbauen. Ich muss immer wieder neu anfangen. Eine ganz normale Chorarbeit ist so zwar nicht möglich, aber ich finde das durchaus positiv. Eines meiner Lebensmottos heißt „Stillstand ist Rückschritt“. Dieser Chor hält mich flexibel und lebendig.“
Das gemeinsame Singen steht im Vordergrund
Mal wird dreistimmig, mal einstimmig gesungen. Alles hängt davon ab, wie der Chor aktuell zusammengesetzt ist. „Die Freude am Singen steht wirklich total im Vordergrund, die klassische Chorarbeit und künstlerische Ambitionen dagegen nicht.“ Wichtig ist vor allem, dass die gemeinsamen Proben stattfinden. Mittlerweile kommen die Sängerinnen regelmäßig. Die Regeln sind klar: Wer bei einem Auftritt mitsingen möchte, muss zuverlässig sein. „Konzerte im engeren Sinn geben wir nicht. Wir gestalten Gottesdienste. Allerdings geht das nur, wenn der Chor in der Vorbereitung beständig anwesend ist.“ Jede Probe, jeder Auftritt ist eine kleine, aber beliebte Abwechslung vom Gefängnisalltag. Und genau darum geht es. „Die Frauen können sich in der Musik verlieren, sich ein Lied wünschen, sich einfach eine Auszeit von ihren Gedanken nehmen.“ Die Frauen haben die Chance, ein neues Umfeld zu entdecken, indem sie z.B. neue Leute kennenlernen, denn im Chor sind verschiedene Wohnbereiche gemischt. Das allein kann einen anderen Blick eröffnen, die Gedanken befreien und entspannen. „Ich denke, dass unsere Proben für etwas mehr Stressfreiheit im Vollzug sorgen können, es ist Ablenkung und ein Stück weit Freude.“
Vorurteilsfrei singen
Angst, sagt Tost, habe sie noch nie gehabt. Beim allerersten Mal fühlte sie sich leicht beklemmt. Die vielen Türen, die auf und zu gehen, die erste Probe in einem kleinen Raum und das Eingesperrt-Sein, haben schon ein mulmiges Gefühl in ihr ausgelöst. Doch Angst, vor den Frauen, hatte sie nie. Die JVA Schwäbisch Gmünd ist die einzige Frauenhaftanstalt Baden-Württembergs. Einmal in der Woche teilt Gundhild Tost ihre Zeit mit Menschen, die verurteilt sind und dort ihre Haftstrafe verbüßen. „Das sind Frauen wie du und ich. Man sieht niemandem an, warum sie einsitzt. Es gibt ja auch x Möglichkeiten.“ Zu den Möglichkeiten zählen leichtere Vergehen wie Ersatzhaft, weil jemand eine Geldstrafe nicht bezahlt hat, bis hin zu lebenslänglich wegen Mordes. Am häufigsten seien Betrugsfälle und Drogendelikte.
Die richtige Einstellung zählt
Gundhild Tost geht nüchtern und realistisch an ihre Arbeit in der JVA heran. In ihrer Stimme schwingt etwas Resolutes mit. Diese Frau kann sich durchsetzen, sieht die Dinge klar und weitestgehend ungefiltert. Warum genau die Chorsängerinnen in der JVA einsitzen, will sie bewusst nicht wissen. „Ich möchte jeder Frau unvoreingenommen begegnen.“ Tost nimmt eine klare Rolle ein. Sie ist die Chorleiterin. Emotionale Distanz ist sehr wichtig, um in einem so hoch sensiblen Bereich zu arbeiten. Manchmal erzählen ihr Frauen allerdings doch ihre Geschichten. Das fordert auch Gundhild Tost und ihre klar definierte Rolle immer wieder aufs Neue heraus. „Man überlegt sich dann schon so etwas wie: Hätte ich ihr das zugetraut? Was sind die Hintergründe? Aber ich muss das von mir wegschieben, es sachlich sehen. Die direkte Chorarbeit ist mir wichtig.“ Diesen sachlichen Pragmatismus musste Gundhild Tost erst lernen. Vor Jahren war sie als Gründungsmitglied einer Ortsgruppe des Kinder-
schutzbundes aktiv, eine prägende Erfahrung: „In den Jahren habe ich gelernt, dass ich manche Dinge von mir als Person einfach fern-
halten muss. Das ist ein langer, schmerzlicher Prozess, der nicht einfach ist und nicht immer gelingt. Aber im Laufe der Zeit kann man damit umgehen.“
Echte Teamarbeit
Gundhild Tost ist die Konstante der Momentaufnahme „Frauenchor Gotteszell“. Sie ist sozusagen die Fotografin, die einen wesentlichen Einfluss darauf hat, wie sich das Bild des Chores gestaltet. Das geht nur als Team, sagt die 60-Jährige. Gemeinsam mit der katholischen Seelsorgerin der JVA, Schwester Sabine, gestaltet Tost die organisatorisch aufwendigen Proben. „Die Frauen müssen zugeführt und abgeholt werden, für all das weiß ich mit Schwester Sabine eine tolle Unterstützung an meiner Seite. Wir arbeiten perfekt zusammen.“ Um im Chor mitsingen zu dürfen, müssen die interessierten Frauen zunächst einen Antrag bei Schwester Sabine stellen, die mit Bedacht auswählt, wer reinpasst. Bisher hat dieses Konzept sehr gut funktioniert. Probleme oder Streitigkeiten gab es im Chor noch nie. „Aktuell habe ich den Eindruck, dass auch innerhalb der Frauen eine angenehme Gruppe entstanden ist. Sie fühlen sich zuständig, sie haben ein ähnliches Interesse und möchten singen.“ Untereinander animieren sich die Chormitglieder, regelmäßig zu den Proben zu kommen, die Begrüßungen sind herzlich per Handschlag. „Wir verabschieden uns, sie wechseln ein paar persönliche Worte. Diese persönliche Ebene ist sehr wichtig für die Frauen.“ Im letzten viertel Jahr lief es so gut, dass sogar drei kleine Auftritte im Gottesdienst stattfanden. Manche sogar mit einem Gastchor. Tost hat einen ihrer gemischten Chöre, den „Gesangverein Rehnenhof“, mit in die JVA gebracht. Die Reaktionen waren auf beiden Seiten positiv. „Alle waren sehr beeindruckt und haben sofort rückgemeldet, dass sie das gerne wieder machen würden.“ In Zukunft würde Gundhild Tost gerne ein kleines Konzert außerhalb des Gottesdienstes planen. Aber das ist sehr schwierig. „Ich müsste mir sicher sein, dass der Chor ein paar Wochen oder Monate konstant besteht.“
Zwischen Gettoblaster und Kritik
Die Chorproben sind nur ein winzig kleiner Ausschnitt aus dem Leben und Alltag der Frauen in der JVA Schwäbisch Gmünd. Sorgen, Nöte, Ängste, Zweifel, die lange Trennung von Angehörigen und Freunden: Gundhild Tost begleitet die Sängerinnen durch eine schwierige Zeit. „Ich bekomme relativ selten mit, was die Frauen beschäftigt. Aber es gibt schon diese Momente, in denen sie sagen: „Es wäre schön, wenn ich jetzt meine Kinder sehen könnte.“ Manchmal, gesteht Gundhild Tost, entsteht doch so etwas wie Nähe zwischen ihr und den inhaftierten Sängerinnen. Das sei ok, aber dürfe nicht zu persönlich werden. Wenn sich die Frauen von ihr verabschieden, sich bedanken, dann bewegt sie das schon. „Ich möchte ihnen wenigstens eine ganz kleine Perspektive innerhalb dieses Vollzuges geben. Sie sollen etwas tun dürfen, was Spaß macht. Und vielleicht bleiben sie, wenn sie rausgehen, beim Singen und suchen sich dann auch einen Chor.“
Gundhild Tost bringt von Schlagern bis Gospels, von Oldies bis zu geistlichen Werken alles mit in ihren Chor. Am Ende einer Probe dürfen sich die Frauen immer etwas wünschen, auch das ist eine nette Ablenkung zum tristen Gefängnisalltag. Geprobt wird in der Kirche der JVA, die ehemals ein Kloster war. Ohnehin spiele Religion für die meisten Frauen eine große Rolle. Gundhild Tost will einen neutralen Raum schaffen. „Ich kann in der großen Kirche meinen Gettoblaster anmachen und eine Bette-Midler-CD einlegen. Ich muss dann zwar vorher ein paar Taschentücher verteilen, aber dann singen alle „The Rose“. Das ist ein auserkorenes Lieblingslied meiner Frauen.“ Gundhild Tost und ihre Frauen, da ist sie wieder, die Nähe. Mit Kritik sah sich die Chorleiterin bisher noch nicht konfrontiert. Alle Reaktionen waren weitestgehend positiv. Doch Eines steht fest: alle Frauen in der JVA Schwäbisch Gmünd sind nach unserem Rechtssystem schuldig gesprochen worden. Ein Freizeitangebot wie der Chor von Gundhild Tost kostet Geld. Die Stelle finanziert der Schwäbische Chorverband. Kritiker hinterfragen, ob ein Freizeitangebot im Gefängnis keine Verschwendung von Ressourcen ist. Gundhild Tost ist da ganz anderer Meinung. „Ich finde das überhaupt nicht unnötig. Die Frauen sind trotzdem Menschen, auch wenn sie eine Straftat begangen haben, egal wie schwer die ist. Für Menschen in jeglicher Lebenssituation ist es notwendig, etwas für sich zu tun und auch mal an etwas anderes denken zu dürfen und zu können.“ Eine inhaftierte Frau sagte einst zu Tost: „Ich bin aus einem guten Stall, aber ich bin irgendwo falsch abgebogen.“ Ein Satz, der die Chorleiterin bis heute beschäftigt. „Mittlerweile habe ich das Gefühl, man kann ganz schnell in irgendwas reinrutschen, wo man vielleicht vorher sagen würde, das passiert mir nie.“ Das Polaroidfoto ist eben nicht schwarzweiß, sondern in Farbe. Die Nuancen verwischen.