Wie man sich Stimmgesund bis ins hohe Alter erhalten kann.
Singen im Chor ist für viele Menschen eine Leidenschaft. Circa 1,5 Millionen Menschen singen regelmäßig in einem Chor. Für viele bedeutet der Chor nicht nur musikalische Erfüllung. Neben dem Gemeinschaftsgefühl, welches durch das gemeinsame Singen, das Erleben von klanglicher Harmonie und musikalischem Zusammenwirken entstehen kann, ist für viele ihr Chor auch wie eine große Familie, mit der man zusammen alt wird.
Keine Angst vor dem Alter
Dementsprechend habe auch viele Menschen Angst, mit dem Alter aus dem Chor austreten zu müssen, weil die Stimme „altersbedingt“ brüchiger wird, der Tonhöhenumfang oder gar die Tonhöhengenauigkeit schwindet und man mehr und mehr merkt, dass man die musikalischen Anforderungen nicht mehr erfüllen kann. Doch ist es wirklich naturgegeben, dass die Stimme „altersbedingt“ langsam aber sicher abbaut und für uns alle irgendwann der Verlust der Singstimme in unseren Genen festgeschrieben ist?
Ich begegne sowohl in meiner Tätigkeit als Dipl.-Sprachheilpädagogin mit einer eigenen auf Stimmstörungen spezialisierten
logopädischen Praxis als auch in meiner Tätigkeit als funktionaler Gesangspädagogin häufig Menschen fortgeschrittenen Alters, also Menschen zwischen 70 und 85 Jahren, die sich nicht mit dem Verlust ihrer Stimme abfinden möchten, sondern sich professionelle Hilfe suchen. Manche Menschen bemerken die Änderungen der Stimme auch bereits früher – mit dem Eintritt der Wechseljahre.
Stimmprobleme sind nicht unbedingt eine Frage des Alters
Bemerkenswert ist, dass die Stimmprobleme, welche diese Menschen mitbringen, und welche von ihnen oder von ihrer Umgebung als „Altersstimme“ klassifiziert werden, sich häufig nicht wesentlich von den Stimmproblemen junger Menschen unterscheiden, die ihre Stimme falsch eingesetzt haben, nur mit dem wichtigen Unterschied, dass in jungen Jahren kein Mensch darauf käme, dass man es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun hätte. Im Fall von Stimmproblemen im Alter ist es daher schwerer, Hilfe zu bekommen, da hier viel Unwissen herrscht.
Eine Stimmpatientin, welche mit Mitte 70 zu mir kam, hatte trotz der Tatsache, dass sie Privatpatientin war, vier HNO-Ärzte aufsuchen müssen, bevor ihr jemand eine Verordnung ausgestellt hat. Ihr wurde wenig Hoffnung gemacht. Sie hatte ihr Leben lang im Chor mitgesungen. Als sie zu mir kam, war auch ihre Sprechstimme so brüchig, so dass sie kaum noch ohne Mühe reden konnte – nach der Stimmtherapie und anschließenden Gesangskursen trat sie wieder in einen Chor ein und wurde außerdem in einem Callcenter auf Minijobbasis eingestellt, weil sie so eine „angenehme“ Stimme hat. In dem Chor ist sie heute mit 85 Jahren immer noch aktiv.
Diese Erfahrung, dass die altersbedingten Änderungen als alleinige Ursache für jedes Stimmproblem angenommen werden und den Menschen nicht geholfen bzw. keine Hoffnung gemacht wird, ist ein Skandal angesichts der Tatsache, dass viele nach einer Änderung ihrer Stimmtechnik hin zu einer funktionalen Stimmtechnik nicht selten sagen, dass sie besser singen und sprechen als früher.
Ich persönlich habe bisher nur selten vor dem „Alter“ die Waffen strecken müssen, und das auch in der Regel nur dann, wenn die betroffenen Personen Krankheiten wie Parkinson oder organische Stimmstörungen wie Vernarbungen auf den Stimmbändern nach Operationen oder ähnliches mitbrachten oder schlicht die Motivation fehlte, etwas an ihrem Gesangsstil zu ändern. Meist sind dann aber auch bei neurologischen oder organischen Problemen immerhin noch Verbesserungen der Stimme möglich.
Ist also alles Unsinn, wenn man von einer „Altersstimme“ spricht?
Sicher nicht, denn natürlich gibt es sie auch, die altersbedingten Veränderungen der Stimme. Doch wie kann man selbst einschätzen, ob primär das Alter oder eine andere Ursache Grund für die eigenen Stimmproblem ist?
Als typische Altersprobleme werden immer wieder eine brüchige Stimme, ein Verlust des Tonhöhenumfangs, der Tonhaltedauer und der Treffgenauigkeit, sowie ein zu ausgeprägtes unregelmäßiges Vibrato angenommen. Dies sind Beobachtungen, die nicht unmittelbar den kausalen Zusammenhang erklären – was davon ist den Veränderungen im Alter geschuldet, was liegt an einer falschen (dysfunktionalen) Stimmtechnik? Wie schon erwähnt, sind viele dieser Klangausprägungen typische Begleiterscheinungen sogenannter „funktioneller Stimmstörungen“, die auch in jüngeren Jahren auftreten können.
Die Wissenschaft kann dies natürlich auch nicht klären – sie stellt lediglich Bezüge her zwischen einem häufig auftretenden Phänomen und altersbedingten Änderungen wie den Veränderungen des Hormonspiegels, der geringer werdenden Muskelkraft bei älteren Menschen, die natürlich auch die am Singen beteiligten Muskeln betreffen können, sowie dem Nachlassen der Elastizität des Bindegewebes und nimmt vereinfachend an, dass die Änderungen der Stimme im Alter auf die körperlichen Veränderungen zurückzuführen sind. Ein ganz wichtiger Aspekt wird aber vergessen – wenn schon die Stimme in jungen Jahren leiden kann, wenn man sie falsch einsetzt, was muss dann erst passieren, wenn man dies ein Leben lang tut? Die Erschöpfung, welche sich dann nach und nach einstellt, ist umso größer und nachhaltiger, wenn man ein Leben lang die Stimme überbeansprucht.
Natürlich kommen aber der natürliche altersbedingte Abbau der Muskelkraft, und die Abnahme der Elastizität des Bindegewebes erschwerend hinzu. Neben der Änderung des bisherigen dysfunktionellen Stimmmusters muss bei älteren Menschen daher Muskelaufbau insbesondere im Bereich der Stimmlippenschließer vorgenommen werden, was auch zum Großteil die Überelastizität des Bindegewebes kompensieren kann. Dieser Muskelaufbau ist über mentale Vorstellungshilfen und Training möglich.
Woran erkenne ich eine funktionale Stimme?
Eine gesunde, also „funktionale“ Stimme wird neben einer guten Atmung insbesondere an einem guten Stimmlippenschluss festgemacht. Die Luft trifft auf komplett geschlossene Stimmlippen und versetzt diese in Schwingung. Dabei entsteht ein klarer und obertonreicher Klang. Die Stimmlippenspannung wechselt dabei in einem Rhythmus von ca. fünf Hertz – dabei entsteht ein Vibrato, was einer Ermüdung der Stimme vorbeugt. In höheren Lagen müssen sich die Stimmlippen dehnen, der Klang wird weniger voll, er klingt „kopfiger“ als in der sogenannten Bruststimme. Umgekehrt muss die Stimme in der Tiefe sonorer werden, die Stimmlippenmuskeln müssen dicker werden, damit kein verhauchter Ton entsteht.
Woran erkenne ich, dass ich meine Stimme bisher falsch eingesetzt habe?
Hier ein paar Beispiele für oft verwendete Stimmfehler, die auch seit Jahrhunderten traditionell in Chören und im Gesangsunterricht vermittelt werden, in jüngerer Zeit aber durch sogenannte funktionale Stimmtechniken ersetzt werden:
Überprüfen Sie selbst:
- Verwenden Sie eine Stimmtechnik, welche die Bruststimme „hochzieht“ (sogenanntes Belting)?
Es gibt Stimmregister, welche sich durch einen Wechsel der Schwingungsart von Vollschwingung zu Randschwingung zeigen. Diese Registerwechsel zu vermeiden, führt zu erheblichen Stimmproblemen.
- Können Sie beim Singen höherer Töne oder lauterer Töne eine Anspannung im Bereich der Bauchmuskulatur oder der Beckenbodenmuskulatur feststellen?
Dies ist nicht nur unnötig, um höher oder lauter zu singen, es führt auch dazu, dass die Muskeln, welche die Stimmlippen schließen (mediale Kompression) eine größere Kraft aufwenden müssen, um dem vermehrten Atemdruck standzuhalten und daher auf Dauer ermüden. Danach ist die Stimme oft heiser oder erschöpft.
- Lassen Sie ein Vibrato zu?
Wenn Sie der Stimme dauerhaft ein Vibrato „verbieten“, wie häufig in der „Alten Musik“ oder auch Im Rock-, Popbereich der Fall, arbeiten sie dem eingebauten Spannungsregulationsmechanismus ihrer Stimmlippen entgegen, was auf Dauer Stimmprobleme mit sich bringt.
Uta Feuerstein
ist Inhaberin des Stimmig-sein-Instituts und der Stimmtherapiepraxis in Köln. Sie ist Autorin des Buches „Stimmig sein“ und zahlreicher Publikationen zur Stimmig-sein-Methode®, einer von ihr in Zusammenarbeit mit der Dipl.-Psychologin Uta Himmelmann gegründeten funktional-psychointegralen Stimmmethode.