Singen bewegt – Ganzheitliches Singen als elementares Erlebnis
Ich beginne zu singen. Die Lungenflügel füllen sich mit Luft und weiten sich. Das Zwerchfell wird abgesenkt und bringt Organe und Beckenboden in Bewegung. Luft strömt nach oben und lässt die Stimmlippen vibrieren. Schwingungen entfalten sich im Körper und zusätzlicher Sauerstoff erreicht alle Zellen vom kleinen Zeh bis zum Gehirn. Ein Wohlgefühl breitet sich aus und setzt Glückshormone frei. Alles strömt, fließt und gerät in Bewegung.
Singen beeinflusst alles
Singen ist Bewegung auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene. Bewegung wiederum ist ein zentraler Aspekt in unserem Leben, ist Ausdruck von Lebendigsein und Grundbedürfnis von Kindern, die sich ihre Umwelt und das eigene Selbst über Bewegung erschließen. Bewegung macht uns wacher, konzentrierter und aktiviert die Vernetzung von Synapsen im Gehirn. Auch für unsere Gesundheit ist Bewegung elementar: Sie trainiert die Muskulatur, ist gut für den Kreislauf und sorgt für eine bessere Sauerstoffversorgung aller Organe. Beobachtet man einen Säugling, der vor Zorn strampelt und schreit oder ein Kleinkind, das vor Freude auf und ab hüpft, so wird außerdem offensichtlich, dass Emotionen über Bewegung einen Weg nach außen finden. Bewegung aktiviert und entspannt also zugleich die körperlichen wie die kognitiven Funktionen und berührt uns auch auf der Gefühlsebene. Sie spricht uns auf allen Ebenen des Seins an. Nicht nur darin sind Musik und Bewegung sich sehr ähnlich.
Eine elementare und körperbezogene Verbindung zwischen Musik und Bewegung tritt bei Kindern unmittelbar zu Tage und ist auch bei Erwachsenen zu beobachten, wenn der Fuß unweigerlich im Takt der Musik zu wippen beginnt. Gemeinsamkeiten der beiden Elemente zeigen sich außerdem in verschiedenen Parametern. So finden wir die Unterscheidung von Tonhöhen in den Bewegungsebenen wieder und die musikalischen Tempi lassen sich in schnelle oder langsame Bewegung umsetzen. Das musikalische piano findet sich im Schleichen wieder, wie das forte im Stampfen und musikalische Formen können durch Bewegungsmotive dargestellt werden.
Die Grundlage der Elementaren Musikpädagogik
Diese ursprüngliche Beziehung von Musik und Bewegung ist Grundlage der Elementaren Musikpädagogik (EMP), deren Urväter Carl Orff (Orff-Schulwerk) und E. JaquesDalcroze (Rhythmik) sind. Beide erkannten das Phänomen der Durchdringung und gegenseitigen Verstärkung von Musik und Bewegung unabhängig voneinander und erforschten und erprobten es intensiv an eigenen Bildungsinstitutionen.
Durch die Weiterentwicklung fähiger SchülerInnen hat sich daraus über viele Jahrzehnte hinweg die EMP als musikerzieherisches Konzept mit persönlichkeitsbildendem Effekt entwickelt, wobei der Einsatz der Singstimme neben Instrumentalspiel, Tanz und Bewegung, Sprache und dem Spiel mit Material ein fester Bestandteil ist. In der Praxis wird eine möglichst starke Verbindung der einzelnen Aktionsformen untereinander angestrebt, um ein ganzheitliches Erleben zu ermöglichen, ganz nach dem Motto C. Orffs: „Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden.“
Singen bewegt!
Für die kindgerechte Umsetzung des Singens in der Elementaren Musikpraxis, wie auch in Kindertagesstätte und Familie bedeutet das: Singen bewegt! Lasst den Körper beim Singen nicht außen vor. Lasst schwingen und bewegen, was sich be-
wegen will! Und wenn es nur das intuitive Mitwippen im Metrum des Liedes ist.
Soll es aber konkreter sein und wollen wir weitere positive Effekte der ursprünglichen Verbindung von Musik und Bewegung nutzen, so kann z. B. Bodypercussion im Grundpuls eines Liedes das Körper- und Taktgefühl stärken. In Form von textentsprechenden Gesten kann Bewegung zu Sprachverständnis und Merkfähigkeit beitragen. Feinmotorische Bewegungen können als Vorbereitung für komplexere Gestaltungen, wie Instrumentalbegleitung oder Tanz dienen und dabei die Struktur eines Liedes vermitteln. Auch Großbewegung im Raum kann musikalische Formen erlebbar machen und bewegungsanregende Materialien, wie z.B. Tücher, Reifen oder Bälle, können das Singerlebnis über weitere Wahrnehmungsebenen vertiefen.
Durch diese Art der Liedgestaltung können in spielerischer Atmosphäre nachhaltige Erfahrungen und positive Erlebnisse stattfinden, sowohl im Hinblick auf Musik als auch auf die eigene Persönlichkeit.
Die passende Begleitung zum Lied
Die Auswahl der jeweils passenden Gestaltung für ein Lied hängt dabei von unterschiedlichen Faktoren ab und kann je nach Bedarf unterschiedliche Erfahrungs- und Lernfelder in den Fokus stellen. Zum einen ist es wichtig die Zielgruppe mit ihrer Altersstruktur und den spezifischen Bedürfnissen im Auge zu behalten. Zum anderen gibt jedes Lied mit seinem musikalischen Charakter oder den formalen und textbezogenen Strukturen schon eine gewisse Richtung vor. Selten ist es so, dass es dabei nur eine Lösung gibt.
Auch Mischung und Abwechslung der vorgeschlagenen Gestaltungsformen oder eine spätere Erweiterung bzw. Variation der ursprünglichen Idee können durchaus sinnvoll sein. Das eigene musikalische Körpergefühl ist hierbei ein guter Indikator. Bei kraftvoller und bewusster Bewegung sollte der Ablauf im Zusammenhang mit dem Gesang stimmig und fließend sein, also keine zusätzlichen Stolperfallen bieten, sondern im Idealfall den musikalischen Charakter, die Melodieführung, den Stimmeinsatz oder textbezogenen Ablauf des Liedes eher unterstützen und erleichtern. Sind diese ersten Hürden einmal überwunden, dann ist es beinahe ein Leichtes die eigene Gestaltungsidee auswendig und mit freudiger Überzeugung an staunende Kinder zu vermitteln, die am Ende mit strahlenden Augen und Wiederholungsforderungen belohnen.
Übrigens kann auch traditionelles Liedgut, das bei ErzieherInnen nicht immer einen guten Ruf genießt, auf diese Weise wieder in neuem Glanz erstrahlen.
Und ganz nebenbei hat das ganzheitliche Singen einen weiteren wichtigen Effekt: begleitet von positiv erlebter Bewegung funktionieren Körperhaltung, Atmung und Stimmgebung intuitiv reibungsloser und eine gesunde kindgerechte Lage stellt sich möglicherweise ganz von selbst ein.
Dorrit Meincke
ist Diplom Elementar-Musikpädagogin, Diplom Musiklehrerin für Querflöte und Schulmusikerin. Ihr Haupttätigkeit liegt in der Aus- und Weiterbildung von ErzieherInnen als Dozentin an der PH Ludwgsiburg, als Fortbildungs-Referentin beim Jugendamt Stuttgart und als Kurs-Referentin und Carusos-Fachberaterin beim Schwäbischen Chorverband. Darüber hinaus ist sie Kursleiterin für Eltern-Kind-Singen und Rhyrthmisch-musikalische Früherziehung.